01. Januar 2021 | Dom zu Greifswald

Predigt Neujahr 2021

01. Januar 2021 von Tilman Jeremias

Lk 6, 36

Liebe Gemeinde,

es ist erstaunlich. Jeder Handgriff sitzt. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer arbeiten flink und präzise, dabei sichtlich gut gelaunt. Aus 20 Kilo-Säcken packen sie Kartoffeln in die Tafeltüten, dazu Kohl und Pastinaken, ein paar Päckchen Nudeln und Mehl. Und an diesem speziellen Tag, der letzten Ausgabe vor Weihnachten, kommen noch weitere gespendete Gegenstände dazu: ein Schokoweihnachtsmann, ein Kuscheltier, ein Heftchen mit der Weihnachtsgeschichte. Nach drei Stunden Arbeit stehen über dreihundert Tüten in den Räumen der Schweriner Petrusgemeinde in Reih und Glied parat. Und es wird Zeit. Denn draußen warten geduldig diejenigen, für die diese Tüten gepackt wurden. Sie sprechen russisch und arabisch, aber auch nicht wenige deutsch. Allesamt Menschen, die hier auf dem Dreesch wohnen. Und denen am Ende des Monats das Geld fehlt, das Nötigste für ihr Leben einzukaufen.

Es ist ein sehr eindrücklicher Tag für mich, am Donnerstag vor Weihnachten, als ich ab morgens in Schwerin zu Gast bin, ein bisschen mit anpacken darf und ins Gespräch mit den Leuten komme. Ich erschrecke, wie viele in unserem reichen Land sichtlich von Altersarmut betroffen sind. Aber ebenso erschreckend ist es, die junge Familie zu sehen, die eben auch auf die Lebensmittel der Essensausgabe angewiesen ist.

Alle, die hier ihre Tüten abholen, bekommen nicht nur Lebensmittel und Überraschungen zum Fest. Niemand geht ohne ein freundliches Wort, beste Wünsche und einen Weihnachtsgruß nach Hause.

Und eigentümlich: Nicht nur die Bedürftigen werden an diesem Tag reich beschenkt, auch die Ehrenamtlichen sind am Ende nicht nur erschöpft, sondern merklich zufrieden. Denn sie wissen, dass sie mit ihrem Einsatz Menschen unmittelbar und effektiv helfen konnten, gerade denen, die es am Nötigsten brauchen. Sonst sind viele Bedürftige selbst ehrenamtlich aktiv. Da die meisten von ihnen selbst zur Risikogruppe gehören, helfen heute andere Leute mit: die Leiterin eines Innenstadtcafés, eine Landtagsabgeordnete der Linken, ein Pastor vom Dorf ist schon lange dabei. Leider ist der Aufruf in den Schweriner Gemeinden, noch mit anzupacken, ohne Resonanz geblieben. Hier sind eher unkirchliche Leute dabei, aber sie lauschen dem Diakon aufmerksam am Beginn des Morgens, als er erklärt, dass die Tafelarbeit genau dem Liebesgebot Jesu entspricht.

Im Gespräch mit ihm, Marcus Wergin, dem Leiter der offenen Sozialarbeit in der Petrusgemeinde, wird mir schnell die Ambivalenz dieses Tages bewusst: Hier wird bedürftigen Menschen tatkräftig und unmittelbar geholfen. Aber eigentlich dürfte solche Arbeit in unserem wohlhabenden Land gar nicht nötig sein. Die Hilfe der Tafeln kaschiert auch massive soziale Ungleichgewichte. Engagierte Ehrenamtliche stopfen die Löcher, die die Politik hinterlässt.

Ebenso klar ist mir nach diesem beeindruckenden Besuch aber auch: Barmherzigkeit, die uns die Jahreslosung für 2021 ins Stammbuch schreibt, ist niemals abstrakt und graue Theorie. Sie ist konkrete Tat, gelebtes Leben. Jesus sagt:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lk. 6, 36)

Dieser Vers ist das Herz der sogenannten Feldrede Jesu nach dem Lukasevangelium, der kleinen Schwester der Bergpredigt bei Matthäus. Diese beiden Sammlungen von Aussprüchen Jesu fassen nicht weniger zusammen als die Maßstäbe für christliches Handeln überhaupt, die christliche Ethik. Und der Akzent bei Lukas ist vom Anfang dieser Rede her klar: „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer.“ Anders als bei Matthäus ist hier nicht von den geistlich Armen die Rede. Es geht um die, die jeden Euro umdrehen müssen, die Mittellosen, Abgehängten, Vergessenen, denen das Lukasevangelium besonderes Augenmerk schenkt.

Die Jahreslosung ist deshalb das Herz der Feldrede Jesu, weil sie markiert, was die sozial Benachteiligten brauchen: Barmherzigkeit. Das mag veraltet klingen. Aber dieses Wort wird sprechend, wenn wir nur einen Buchstaben austauschen: Warmherzigkeit. Ein warmes Herz möchte Jesus von seinen Zuhörenden. Denn ein warmes Herz nimmt wahr. Das ist schon die halbe Strecke des christlichen Lebens: hinschauen. Mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt gehen. Einfach sehen, merken, mitempfinden, wo jemand in Bedrängnis ist, nicht mehr weiter weiß, ausgegrenzt wird. Der wache Blick ist der Bruder der Barmherzigkeit.

Denn wenn ich jemanden mit warmem Herzen wahrnehme, dann geht es nicht anders, als dass ich mit ihm oder mit ihr in Beziehung trete. Barmherzig sein ist selten die große heldenhafte Tat. Es ist eher das freundliche Wort, ein Lächeln, eine ausgestreckte Hand, eine geschenkte Stunde.

Die Jahreslosung ist außerdem deshalb das Herz der Feldrede Jesu, weil sie markiert, dass ein warmes Herz niemals aus unserer eigenen Anstrengung resultiert. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Wir alle leben aus Gottes warmem Herzen. Dieses warme Herz hat uns ins Leben gerufen, das warme Herz Gottes trägt uns durch unser Leben. Wir dürfen lieben als von Gott Geliebte. Wir können Barmherzigkeit weitergeben, weil an uns Barmherzigkeit geschieht, mit jedem Atemzug.

Was hilft zu Beginn des Jahres 2021? Barmherzigkeit ist ein wunderbares Wort, das exakt beschreibt, worauf es gerade ankommt: ein weites, warmes Herz. Das gilt, bitte, erst einmal für uns selbst. Wir selbst sind erstes Ziel des warmherzigen Blicks. Hinter uns allen liegt das extrem belastende und herausfordernde Jahr 2020. Lockdown, Homeoffice, Homeschooling, wirtschaftliche Bedrohungen, Angst vor Ansteckung, Leben im Ausnahmezustand. Da ist es das Normalste von der Welt, wenn im Privaten wie im Beruflichen nicht alles reibungslos läuft. Barmherzigkeit mit sich selbst heißt, sich Pausen zu gönnen, Regeration, Entlastung. Wenn Jesus sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, meint er gerade nicht die pure Selbstaufopferung. Wer sich selbst die Barmherzigkeit versagt, für den ist es viel schwerer, zu anderen barmherzig sein zu können. Wir dürfen uns selbst mit unseren Grenzen, unserer Überforderung, unseren blanken Nerven, ansehen mit den liebenden Augen Gottes.

Dann aber ist natürlich auch der herzenswarme Blick auf den Nächsten gemeint, auf die Nachbarin, die alles als alleinerziehende Mutter managen muss, auf den Pfleger, der kurz vor dem Burnout steht, oder die Heimbewohnerin, die mit ihrer Einsamkeit kämpft. Dabei gibt es ein Problem, über das Marcus Wergin von der Schweriner Petrusgemeinde auch gesprochen hat: Unsere Städte sind geteilt. Soziale Segregation heißt das Fachwort dafür. Schwerin, Greifswald, Rostock gehören zu den Städten, in denen bundesweit die soziale Spaltung am stärksten ausgeprägt ist. Das Leben in der Innenstadt hier funktioniert reibungslos, ohne sich die Konflikte und soziale Not in Schönwalde klarzumachen. Umgekehrt bewegen sich Menschen aus den Neubaugebieten kaum in der Innenstadt. Für den warmen Blick brauchen wir Begegnung, Durchmischung, gemeinsames Leben.

Jesus selbst hat das gelebt. Er hat nicht nur von Barmherzigkeit gesprochen. Wo immer er hinkam, hatte er die Mühseligen und Beladenen im Blick, aß mit den Betrügern, sprach mit den Huren, heilte die Kranken. Käme er heute nach Greifswald, wäre vermutlich nicht der Dom seine erste Anlaufstelle, sondern das Obdachlosenasyl.

Sein Wort der Jahreslosung legt nahe, dass wir alle selbst von Barmherzigkeit leben. Die Bibel betont es immer wieder: Wir müssen unser Herz nicht in eigener Anstrengung wärmen. Wir leben von der Güte Gottes, jeden Tag neu. Sie hüllt uns ein, gerade in Zeiten pandemischer Bedrohung. Es ist an uns, diese erfahrene Wärme in unserem Leben aufzuspüren und mit anderen zu teilen. In diesem Sinne Ihnen allen ein gesegnetes neues Jahr!
Amen.

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