Predigt über Offenbarung 5, 1-5
28. November 2011
Liebe Gemeinde! I „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!“ – Mit diesem Wallfahrtslied aus dem Alten Testament im Kopf sind wir heute unterwegs als Adventsgemeinde. Und mit dem dazu gehörigen Choral auf den Lippen auch: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit!“ – Mit diesem Lied beginnt für mich immer schon die Adventszeit; dieser Freudengesang voller gewisser Erwartung begrüßt das neue Kirchenjahr! Und diesem Ausdruck der Vorfreude entspricht unsere Umgebung, wie sie ausgeschmückt wird auf Weihnachten hin, wie helles Licht das Dunkle der Jahreszeit verdrängt, wie in einem großen Sprung wir vom Ewigkeitssonntag kommend direkt in die vorweihnachtliche Festzeit geraten: es werde Licht! – Wie am Anfang allen Lebens soll neu werden die Welt!
Ursprünglich ist die Adventszeit nicht einfach eine plötzlich helle Zeit, sondern eine, in der bewusst erlebt und ausgehalten wird das Dunkle; in der bewusst ins Auge gefasst wird das Ende. Fastenzeit. Violett die Farbe. In der Erwartung und Gewissheit, dass diese Welt mit allem Leben auf das Ende zutreibt, wenn Gott nicht eingreift, wächst die Sehnsucht nach dem Retter und Erlöser: „Oh Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“ Das ist eine absolut nicht banale Hoffnung, die sich in diesem Adventslied Ausdruck verschafft. In diesen Worten vereinen sich Schmerz über die unerlöste Welt, Klage über erfahrenes Leid und Dunkelheit zu einem Hilferuf, der sich an den richtet, der das A und das O, der Anfang und das Ende ist. Ein Ende muss kommen, damit Neues wachsen kann! Ein machtvolles Ende, das nichts lässt, wie es war. Und das den Himmel öffnet, um uns aus der Bedrängnis der Welt herauszureißen.
Die Offenbarung des Johannes, dieses faszinierende Buch voller Visionen und Bilder nimmt solche Gefühle auf. Der Seher der Offenbarung sieht das Himmelstor offen stehen und sieht, was sich in Gottes Thronsaal abspielt im Gericht – und was von diesem Ort aus seinen neuen Anfang nimmt. Ich lese aus dem 5. Kapitel, die Verse 1 bis 4:
„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.
Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“
II
In seiner rechten Hand also hält der, der auf dem Thron sitzt, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
Die sieben Siegel weisen das Buch aus als eine Urkunde, deren Inhalt nach alter Vorstellung der göttliche Plan von der letzten entscheidenden Phase der Menschheitsgeschichte ist. Das Buch: ein Symbol der Weltherrschaft, das Schicksalsbuch des Kosmos. Wer es öffnet, hat die Macht, auszuführen, was in ihm steht. Der Seher ahnt: Wer den Inhalt dieses Buches kennt, der weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält. Noch hält Gott selbst das Buch in seiner Rechten, noch hält er verschlossen seine Geheimnisse, seinen Plan mit der Welt, der besiegelt ist.
„Ein Buch mit sieben Siegeln“. Dieses Bild ist eine stehende Redensart für alles, was nicht zu fassen ist mit unserem Verstand; also das Rätselhafte und Geheimnisvolle des Lebens. Es ist uns unser Leben wie ein Buch mit sieben Siegeln, wenn wir nicht verstehen, was uns wiederfährt und was wir sehen an Elend und Tod; auch an Freude und Glück. Wenn unser Fragen nach dem Warum? und Wieso? unbeantwortet bleiben. Versiegelt und verschlossen sind manche Geheimnisse des Lebens in jeder und jedem von uns. Und es macht uns unruhig und hilflos, wenn angesichts dieser Defizite des Verstehens Phantasien groß werden und Ängste wachsen. „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ – Dieser Ruf des Engels erschallt mit großer Stimme in aller Welt. Wir leben in einer Welt, in der für immer mehr Menschen das Gefühl, alles triebe dem Ende, dem Chaos, der Katastrohe entgegen, keineswegs eine kranke Vision ist, sondern reales Lebensgefühl. So ist dieser Advents-Ruf der Ruf aller, die sich nach Erlösung sehnen und nach Rettung. In diesem Ruf wird laut der Schrei der Leidenden dieser Welt. Der Hungernden, der Wohnungslosen und Heimatlosen, der Kriegsopfer und der Fliehenden, der Missbrauchten. Es ist der Ruf derer, die um Gerechtigkeit kämpfen und gegen mörderische Diktatoren oder Militärs, in deren Händen die Herrschaft in die Katastrophe führt, in Blut gebadet ist.
Wer ist würdig, Einhalt zu gebieten z. B. dem land-grapping, dem Land-Raub in Afrika und Asien, in Lateinamerika – so fragt „Brot für die Welt“ heute in ganz Deutschland zur Eröffnung der neuen Sammel-Aktion: Der Wettlauf um Land, ich habe ihn gesehen etwa im Sommer in Tansania – knappes Land von weltweit angereisten Großgrundbesitzern „übernommen“ – urbar gemacht – aber für was und für wen? Land für Brot oder Land für Sprit? So die Ruf-Frage heute! Land ist Leben, ist Hoffnung, dass nicht mehr unser Hunger nach Energie, sondern der Hunger der Ärmsten in der Welt zuerst bekämpft und bedient wird: es ist der Hunger nach Umkehr, der laut wird. „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ Gott fragt nicht: Wer hat Lust oder Zeit, das Buch zu öffnen; oder: Wer traut es sich zu? Nein, darum geht es – Gott sei Dank – nicht. Sondern: Wer ist würdig? Wer ist ausgestattet mit Kraft und Geist, dass er imstande ist, die Welt zu lesen und zu verstehen – und also zu bewahren? Wer ist es wert, dass man ihm anvertraut die Geheimnisse der Welt, das Leid und die Freude, die Sehnsucht und die Hoffnung? Wer ist des Glaubens würdig – glaubwürdig so, dass wir unsere Lasten ihm auflegen und anvertrauen? Wer ent-spricht dem Wort Gottes? Wer also handelt Gott entsprechend, ihm gemäß: heilig?
„Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.“ So mancher will es wohl, aber niemand kann die Siegel lösen. Und wir haben es unter Schrecken lernen müssen, dass es nicht ein erlösendes, sondern vielmehr ein geradezu lebensgefährliches Spiel ist, sich am Brechen der Siegel vor den Geheimnissen der Welt zu versuchen. Wir sind mit unserem Wissen und Verstand in der Lage, hinter so manches Geheimnis der Welt zu kommen. Und manches von dem, was wir entdecken, ist hilfreich. Wer wüsste das nicht besser als die Menschen, die im Hause der Wissenschaft arbeiten, forschen und lehren. Aber es gibt auch ganz andere Erfahrungen: wir lüften das Geheimnis der Kernenergie und sehen doch mit Schrecken, dass das Wissen sich der Kontrolle im letzten entzieht. Das so genannte Restrisiko dieser monströsen Technik ist ganz offensichtlich eine Überforderung für den eben nicht perfekten Menschen. Und wir stehen hilflos vor der Gefahr, die dieses Wissen bedeutet in den Köpfen und Händen von Menschen, die dieses Geheimnisses nicht würdig sind. Wir kommen in der Genetik und in der Gentechnologie dem Geheimnis des Schöpfers allen Lebens auf die Spur; und suchen erschreckt nach Wegen, das freigesetzte Wissen hinter dem zerbrochenen Siegel wieder unter Kontrolle zu bekommen. Und wir spüren die sich beschleunigende Dynamik in der internationalen Finanzindustrie – es kann einem ja schwindelig werden. Und jeder Rettungsschirm scheint vom Winde zerrissen – schon in dem Moment, wo man ihn unter mühsamen Einsatz aller Kräfte endlich aufgespannt hat… Also: Wo das Siegel zerbrochen ist, da nehmen die Dinge ihren Lauf. Wer hinter die Geheimnisse Gottes schaut, ohne würdig zu sein, also ohne von Gott beauftragt zu sein, und ohne auf seine Gebote zu achten, der tut das nicht zum Segen, sondern zum Fluch.
III
„Und niemand, weder im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.“ Es ist ein doppelter Schmerz, den der Seher mit seinen Tränen ausdrückt, der uns bestimmt, wenn wir die unerlöste Welt betrachten. Hier und da ist ja das Ende angekündigt und sichtbar: Unsere Umwelt, die krank ist von alldem, was wir ihr zumuten und abverlangen; all das Leid, das Menschen einander zufügen in den Kriegsgebieten der Welt; der Hunger… Oft haben wir das Gefühl, die Welt bleibe sich selbst überlassen, unaufhaltsam immer neuen Katastrophen entgegen treibend.
Und ich kenne auch den anderen Schmerz, der mich befällt, wenn ich selber ein Siegel löse und damit Entwicklungen in meinem Leben in Gang setze, die nicht mehr kontrollierbar, nicht mehr aufzuhalten sind. Wie meine Entscheidungen hier hilfreich, dort als Hohn verstanden werden: das schmerzt. Und manchmal reicht ein Wort, ein aufgekündigtes Versprechen. Daher: Das Unheimliche unseres Lebens und der Welt muss unter Verschluss bleiben, solange der Würdige nicht gefunden ist! Es ist lebensgefährlich und nicht auszuhalten, wenn einer uns vor die Abgründe unseres Lebens und der Welt stellt, ohne uns zugleich festzuhalten, zu führen darüber hinweg! Ich jedenfalls möchte nicht das Geschick eines Landes oder gar der ganzen Welt in den Händen selbst ernannter „Retter“ wissen! So mancher, der Hand anlegte an die Siegel, lehrte uns das Grauen! So mancher erwies sich – oft zu spät leider – als nicht würdig!
IV
Liebe Gemeinde!
Die Offenbarung des Johannes ist in ihrer Radikalität ein subversives Buch. Denn Jesus Christus wird darin bezeugt als der eine „treue Zeuge, der Erstgeborene von den Toten und Herr über die Könige auf Erden“ – so gleich zu Beginn des Buches, im Kapitel 1, Vers 5. – Er allein ist der wahre „Herr über die Könige auf Erden – und über sämtliche kirchlichen wie weltlichen „Würdenträger“ auch. Damit sind die Machtverhältnisse – heilsam! – geklärt, ein für allemal. Das Evangelium als subversive Kraft: Die Freiheit eines Christenmenschen scheint hier auf, meine ich.
In unserem Text geht es folglich weiter:
„Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel!“ – Hier wendet sich die Geschichte, Trost wird angesagt für Schmerz und Sehnsucht: Weine nicht! Verzweifle nicht! Gib nicht auf! Es ist doch schon längst einer da, der tut, worauf du so sehnsüchtig wartest! Da kommt einer herab und reißt die Himmel auf, entfernt Schloss und Riegel.
Die Gefühle der Ratlosigkeit und Trauer zuzulassen, das Innere zu zeigen, es heraus zu schreien, es heraus schwemmen zu lassen unter Tränen: das ist die Voraussetzung dafür, dass die Geschichte sich wendet und neu – anders – weiter geht. Die Voraussetzung für den Trost der Welt ist, dass die Welt selbst sich erschüttern lässt zuvor. Auch das gehört zum Advent Gottes dazu!
Der Tröster in der Vision des Sehers verweist auf Rettung – verweist auf den Retter. Ja, immer wieder brauchen wir einen, der unsere Tränen sieht, der sich uns zuwendet, ganz bei uns ist – und doch zugleich einer wie aus einer anderen Welt. Der uns den Zugang zum Geheimnis vermittelt mit seinem zurechtweisenden und erinnernden Wort. Der uns aufrichten hilft aus der Verstockung, den Blick wenden hilft auf Neues hin: Weine nicht! – so fangen Rettungsgeschichten an. Weine nicht: Gott selbst antwortet in diesem Löwen mit Namen Jesus Christus für seine schweigende Welt, die den Advents-Ruf „Wer ist würdig?“ zwar hört, aber nicht aus sich heraus angemessen antworten könnte. Da muss ein ganz anderer kommen, der würdig ist zu entsiegeln das Buch. Und dieser andere wird uns lehren zu lesen in Gottes Geheimnissen so, dass diese Welt mit allem Elend und aller Klage zu einem Zuhause werden kann für unser Leben in Schmerz und Sehnsucht, in Hoffnung und Erfüllung. Ja, der, der da im Advent neu uns entgegenkommen will, ist der, der schon immer da war: Es hat überwunden die Welt der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids. Der, der da kommt, kommt in sein Eigentum – und weil er schon immer da war, ist schon geschehen die Wiederkehr des Glanzes in der Welt (Christof Gestrich). Und was bleibt also zu tun für uns Adventschristen? Nun, wir können es so machen, wie die Freunde der Weisheit: Anfangen mit dem Staunen – und singend uns einfach nur wundern wie alle Welt: „Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.“
Mache dich auf, werde Licht. Denn dein Licht kommt!
Amen.