Gelebte Liebe

Predigt über Römer 12, 4-16 im Gottesdienst anlässlich der Fusion der Diakonischen Werke in Mecklenburg-Vorpommern

06. Juni 2010 von Hans-Jürgen Abromeit

Liebe Gemeinde, es geht um die Liebe. Wie kann die Liebe Gottes, die Christus uns erwiesen hat, wie kanndie Liebe, mit der Jesus Christus uns geliebt hat, von uns weitergegeben werden? Diakonie will nichts anderes als dies: Die Liebe, die wir erfahren haben, an andere weitergeben. Diakonie ist gelebte Liebe.

Zunächst einmal ist Diakonie eben nicht ein Dachverband der Evangelischen Wohlfahrtspflege. Zuerst und vor allem wollen Menschen geliebt werden, weil sie Menschen sind. Zuerst und vor allem ist Diakonie ganz praktisch. Der uns heute als Predigttext vorgelegte Bibeltext aus dem Römerbrief des Apostel Paulus benennt deswegen auch solche elementaren Liebeserweise. Der Zusammenhang des Kapitels und des ganzen Römerbriefesstellt uns die Voraussetzungen solch praktischer Liebe vor Augen. Natürlich brauchen diejenigen, die sich in solcher Weise für die Liebe engagieren, auch eine Verbindung untereinander und eine gemeinsame Vertretung nach außen. Deswegen brauchen die vielen Werke der Evangelischen Kirche, in denen Liebe gelebt wird, einen gemeinsamen Dachverband. Wir haben überlegt, ob es in der im Entstehen begriffenen Nordkirche nicht auch Sinn machen würde, auf ein gemeinsames Diakonisches Werk für die ganze Kirche von Dänemark bis Polen zuzugehen. Ich persönlich bin überzeugt, dass dieses eine gemeinsame Diakonische Werk früher oder später kommen wird. Aber mit guten Gründen müssen wir auch feststellen, so weit sind wir noch nicht. Kommt Zeit, kommt Rat, kommt auch die jeweils angemessene Organisationsform. 

Zunächst dürfen wir heute festhalten: Wir sind richtig glücklich, dass es endlich ein gemeinsames Diakonisches Werk in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Es war ja schon etwas peinlich, dass wir drei Anläufe 2005, 2007 und dann 2010 gebraucht haben. Aber vielleichtwollten wir den 2. Schritt vor dem 1. machen und können nun daraus lernen und wissen dann für die Zukunft, welche Fehler man vermeiden sollte, damit Fusionen nicht so schwierig werden. Ganz klar ist aber das eine Diakonische Werk für die Liebesarbeit in den Diakonischen Einrichtungen und in unseren Gemeinden besser als die Zerstückelung unserer Kräfte. Gemeinsam sind wir stärker, gemeinsam können wir auch uns besser in die im Entstehen begriffene Nordkirche einbringen. Und darum gebührt ein Dank an alle, die sich mit Entsagung in unendlich vielen Sitzungen und Gesprächen auf diesen gemeinsamen Weg gemacht und die dafür gesorgt haben, dass wir nun eine kraftvolle Vertretung der evangelischen diakonischen Interessen im Bundesland haben. Gewiss wird beim anschließenden Empfang noch Gelegenheit sein, die Akteure, denen wir diesen großen Schritt zu verdanken haben, beim Namen zu nennen. 

Gelernt haben wir aber alle miteinander: Wir brauchen die rechte Sensibilität und das rechte Maß im Umgang miteinander. Hier in diesem Gottesdienst wollen wir deswegen auf die biblischen Weisungen noch einmal genauer hören, die uns der Predigttext vor Augen stellt. An einer Stelle begegnet uns in diesem Bibelabschnitt das Wort Diakonie. Martin Luther übersetzt es freilich als „Amt“, doch steht im griechischen Urtext das Wort „Diakonie“. So lautet Vers 7: „Ist jemand Diakonie gegeben, so übe er Diakonie.“ Moderne Übersetzungen geben das so wieder: „Wenn jemand die Gabe hat, der Gemeinde zu dienen, so soll er diesen Dienst leisten“ (Basisbibel). Oder nach der neuen Genfer Übersetzung: „Wenn jemand die Gabe hat, einen praktischen Dienst auszuüben, soll er diese Gabe einsetzen.“ Paulus verwendet also den Begriff Diakonie durchaus in einem eigenen Sinn. Es ist die Gabe der Organisation, der praktischen Hilfe, die Fähigkeit, etwas Gutes für einen anderen Menschen zu tun. Sie geht davon aus, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise diese Gabe haben. Liebe gehört als eine grundlegende Lebenshaltung zu den Ausdrucksformen des Glaubens, die sich in jedem Leben eines Christenmenschen entfalten möchte. Aber die besondere Gabe der Diakonie hat nicht jeder. Im ersten Teil unseres Predigttextes weist der Apostel darauf hin, dass das menschliche Leben nur dann gelingt, wenn wir bereit sind, die Vielfalt der unterschiedlichen Gaben zu akzeptieren. Ich möchte das aufnehmen. 

1. Leben gelingt nur in der Akzeptanz der Vielfalt des Leibes Christi

Für Paulus ist es eine Tatsache, dass wir alle durch Glauben und durch Taufe zu Gliedern am Leibe Christi werden. Durch das jeweilige Maß unseres Glaubens teilt uns Gott unsere besondere Funktion an diesem Leib zu. Das Maß des Glaubens meint nicht mehr oder weniger zu glauben, sondern die konkrete Form der Glaubensprägung und der Glaubenserfahrung, die der Einzelne gemacht hat. Die eigene Glaubenserfahrung setzt bestimmte Gaben frei. Unsere Gaben, unsere Fähigkeiten, schreiben uns unsere Rolle als Glieder am Leibe Christi zu. 

Das Bild von der Gemeinde als Leib Christi fasziniert mich seit meiner Jugend. In einem Leib, in einem Körper gibt es keine Hierarchien. Es gibt keine weniger wichtigen Körperteile und in diesem Sinn kein Oben und kein Unten. Und doch lebt ein Körper davon, dass die durch die unterschiedlichen Funktionen am Leib vorgegebene Ordnung eingehalten wird. Natürlich kann ein Körper nicht nur aus Herz und nicht nur aus Fuß bestehen, sondern jedes Glied am Leib ist gleich wichtig. Jeder wird an seinem besonderen Platz gebraucht. Und die Zuordnung dieses Platzes ergibt sich nicht danach, ob einer wertvoller ist, als der andere, ob er mehr Geld hat oder aus einer privilegierten Familie kommt, sondern daher, welchen Platz ihm Gott aufgrund seiner ihm geschenkten Gaben zuweist. 

Am vergangenen Montag hatte mich Professor Berthold Beitz, der Grandseigneur der Unternehmenskultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einem Mittagessen eingeladen. Schon, dass dieser 97Jährige bis heute in voller Verantwortung die Geschicke der Krupp-Stiftung leitet, ist bewundernswert. („Als ich in Greifswald Abitur gemacht habe, wollte ich eigentlich Theologie studieren. Meine Mutter hätte das sehr gerne gesehen. Aber zum Glück habe ich das nicht getan. Wenn ich Theologie studiert hätte, wäre ich heute schon tot. Ich habe eine Lehre gemacht und Verantwortung für ein Unternehmen übernommen. Da wurde ich dann nicht einfach mit 65 pensioniert, sondern gehe bis heute jeden Morgen ins Büro. Das hält mich fit.“)

Im Laufe des Gesprächs sagte dann der ältere Herr: “Viele bilden sich ja heute in der Wirtschaft darauf etwas ein, wenn sie Direktoren genannt werden. Aber was sind schon Direktoren? Wir brauchen sie genauso notwendig, wie jeden einzelnen Arbeiter. Mir war es in meinem ganzen Leben immer wichtig, den Arbeiter für genau so wichtig zu halten, wie denDirektor. Nur, wenn man ein Unternehmen als einen Organismus begreift, in dem jeder an seinem Platz seinen Beitrag leistet, wird dieses Unternehmen auf Dauer gesund bleiben.“

Was dieser von einer evangelischen Berufsethik geprägte Unternehmer für die Wirtschaft sagt, gilt nach Paulus umso mehr auch für die Kirche und dann natürlich auch für die Diakonie. Die Diakonie steht ihrem Wesen nach zwischen der geistlichen Institution der Kirche und einem wirtschaftlich geführten Unternehmen. Sie wird allerdings nur ihr besonderes Profil ausprägen können, wenn sie das, was ihren Namen prägt – Diakonie heißt nichts anderes als Dienst –, auch in ihrem Wesen und ihrer praktischen Tätigkeit zum Zuge kommen lässt. Diakonie ist Dienst für Menschen. „Wo kein Dienst ist, da ist Raub“, hat Martin Luther gesagt. Wir haben unsere Gaben nicht, um sie allein für uns zu genießen. Gott schenkt uns Gaben, damit wir unseren Nächsten damit Gutes tun. 

Selbstverständlich geschieht Dienst der christlichen Gemeinde, selbstverständlich geschieht Diakonie nicht nur im Diakonischen Werk. Wir kennen auch die diakonische Tat des Einzelnen oder das diakonische Engagement unserer Kirchengemeinden. Aber welche Form die Diakonie auch immer findet, sie hat nur eine Mitte. 

2. Die innere Mitte aller Diakonie ist Liebe 

Der Apostel Paulus erinnert daran, dass diese Liebe „ohne Falsch“ zu sein habe. Der Kampf um die Aufrichtigkeit der Liebe ist ein Grundgedanke des Neuen Testaments. Auch uns ist heute Authentizität wichtig. Wir möchten, dass sich im Handeln etwas vom Wesen des Handelnden ausdrückt. Im Folgenden führt Paulus praktisch aus, was solche authentische Liebe beinhaltet. Sie prägt die Begegnung durch eine miteinander geübte Herzlichkeit. Niemand trumpft groß auf. „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor“ (V. 10 b). Liebe schließt Trägheit aus. Wer liebt, ist begeistert und brennt, „ist brennend im Geist“ (V. 11 b). Liebe ist nie allein, sondern sie kommt daher mit Hoffnung, Standhaftigkeit und Spiritualität. Der Apostel fordert uns auf: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ Er leitet uns an, ein besonderes Augenmerk auf die Nöte der anderen Christen zu werfen. Die besondere Form der christlichen Liebe ist geprägt von einer positiven Grundstimmung. Sie kommt daher mit Fröhlichkeit, Zuversicht, Beharrlichkeit. Diakonie nimmt die Probleme ins Gespräch mit Gott. 

Vielleicht ist es aufgrund dieser Aufforderung besonders wichtig, wie es an anderer Stelle heißt: „Die Leiden unserer Geschwister in der Welt“ zu beachten. Diakonie hat immer auch eine weltweite Perspektive. Wenn der Leib Christi irgendwo auf dieser Welt leidet, so leiden die Glieder hierzulande mit. So lässt uns das Schicksal der Kopten in Ägypten, der orientalischen Christen im Irak und auch die Spaltung des Leibes Christi, wie z. B. in Südafrika nicht in Ruhe. 

Im persönlichen Lebensstil bedeutet, Liebe zu üben, Diakonie zu praktizieren, z. B. auch ein offenes Haus zu haben. Kurz sagt der Apostel deswegen: „Übt Gastfreundschaft!“ (V. 13 b). Die Offenheit anderen Menschen gegenüber zeigt sich in der Offenheit der eigenen Wohnung für Besucher. Gastfreundschaft ist ein Lebensstil. In der Bereitschaft, Besucher, Notleidende und Hilfesuchende aufzunehmen, zeigt sich, ob jemand sich selbst genug ist oder ob Bereicherung durch andere empfängt. Gastfreundschaft signalisiert Interesse am anderen. 

Axel Noack, der letzte Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, hat einmal gesagt: „Wer das Evangelium verkündigen will, muss die Menschen, denen es gilt, lieben.“ Der Verkündigung geht es nicht anders als der Diakonie. Wem wir helfen wollen, der darf nicht nur Objekt unserer Hilfe sein, sondern er muss es uns abspüren, dass wir ihn lieben. Der Apostel erinnert an die Lebensgrundhaltung Jesu, der allen Menschen mit Liebe begegnete, sogar seinen Feinden und auch seine Jüngerinnen und Jünger zu einer eben solchen Haltung aufforderte: „Segnet, die euch verfolgen; segnet und flucht nicht“ (V. 14). 

Diese Lebenshaltung ist getragen von Sympathie, wörtlich „Mitleiden“. Sie freut sich „mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (V. 15). Diakonie lebt von der Bereitschaft, sich hineinzudenken in das Lebensgefühl derer, die Hilfe benötigen. Schließlich braucht sie eine Affinität zu den Geschlagenen und Marginalisierten unserer Gesellschaft. Der Apostel fordert (V. 16): „Lasst euch auf die Unbedeutenden ein“ (Basisbibel); „Seid nicht überheblich, sondern sucht die Gemeinschaft mit denen, die unscheinbar und unbedeutend sind“ (NGÜ). Diakonie ist zuerst und zuletzt eine solche die Menschen aufsuchende und ihnen beistehende Einstellung der Glaubenden und der gesamten Kirche.

3. Die Rolle der Kirche in Mecklenburg-Vorpommern wird sich an der Diakonie entscheiden

Ich habe hoffentlich genügend deutlich gemacht, dass Paulus natürlich nicht einen Verband im Blick gehabt hat, wenn er von Diakonie redet oder eine dienende Lebenshaltung empfiehlt. Aber auch wenn unsere Lebensweisen und Organisationsformen ganz andere sind als im 1. Jahrhundert, so bleiben doch die Grundaussagen dieselben. Die gelebte Liebe entscheidet über die Strahlungskraft unserer Kirche. Ohne Diakonie ist unsere Mission nichts. Um beim Ursprung zu bleiben braucht die Kirche die Diakonie und die Diakonie die Kirche. Kirche ohne Diakonie ist kalt. Diakonie ohne Kirche ist leer. 

Deswegen brauchen wir die gelebte Liebe. Wir brauchen einen vom Glauben geprägten Lebensstil und eine möglichst optimale Organisationsform für das helfende Handeln. So können wir die Liebe, mit der uns Christus geliebt hat, an andere weitergeben. Einen Schritt auf diesem Weg sind wir weitergekommen. Gott sei Dank! Amen.

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