Predigt zu 1Jo 3, 1-6
25. Dezember 2011
Liebe Gemeinde!
In diesem Sommer (oder so…) haben mein Mann und ich das Allerbeste draus gemacht und die Kirchen in Lübeck besucht. Zugegeben, es war auch ein erstes Hineinfinden in die tiefgreifende Wandlung unserer Lebenssituation. Um zwischen den sturzbachartigen Regenschauern trockenen Fußes hindurch zu kommen, entwickeln wir eine erfolgreiche Strategie: Wir folgen den Japanern. Denn zum Fotografieren muss es halbwegs trocken sein. Viele von ihnen sehen wir an der Kirchentür von St. Marien, wie sie sich vergnügt ins eigene Fotogewitter stellen. Die Attraktion ist der Türgriff. Sie kennen ihn sicher alle: Er besteht aus lauter kleinen und großen Menschen, die allesamt unter kleinen oder großen Schirmen stehen. Originell ist`s und sehr situationsnah, zugleich aber auch anrührend. Mir kommt in den Sinn, dass wir durch diese Tür in das Haus Gottes eintreten, der uns über alle Zeiten hin Schutz sein will und Schirm vor allem Argen.
Über Lübecker Märkte und durch kleine Gassen setzen wir unseren Weg fort und kommen an. Hier im Dom. Herausragendes Monument göttlicher Erhabenheit. Als wir durch die Tür kommen, fällt als Erstes die Stille auf. Sie gibt dem Imponierenden eine eigentümliche Zart-heit. Es empfängt uns eine freundliche Kirchenwächterin und so viel Licht, Trost, Klarheit. Wir setzen uns in eine der Bänke und werden ganz ruhig. Er, der uns Schutz ist Schirm, umgibt uns unfassbar gegenwärtig. Von allen Seiten. Mit Atem und Weite. Sein Schirm, denken wir gleichzeitig, rettet nicht. Er macht frei. Damit lässt sich´s gut weiter gehen im Leben, wohin auch immer. Also schauen wir uns neugierig um und entdecken uns selbst als Teil des stabilen Quadrats. Obwohl wir fast allein sind, spüren wir die Gemeinschaft, die hier einfach entstehen muss. Von allen Seiten schaut man sich an. In hanseatischer Distanz und zugleich mit wachem Interesse. Seht hin! Wir sind Kinder Gottes, wir alle. Wir wissen vielleicht nicht, wer wir als Einzelne sind, was uns treibt und was uns hält. Dennoch sind wir verbunden, hinein genommen in die Geschichte Gottes, die gerade heut wieder einmal nicht aufhört, anzufangen…
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, sagt dazu der erste Johannesbrief, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Seht! Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden, doch wenn, ja wenn, dann wird es herrlich sein, weil wir Gottes Kinder sind, jetzt schon. Der Johannesbrief ist geprägt von jener eigentümlichen Spannung, vom Jetzt – „wir sind es auch!“ - und dem: „wir sind es – noch nicht.“ Ich erkenne dies in mir wieder. Ich kenne diesen inneren Spannungsbogen, zum einen an eine beschirmende Kraft zu glauben und dennoch immer unruhig Ausschau zu halten nach dem Ewigen. Es ist wie der berühmte Schlussakkord, der nach der Dominante im Raum zwar schwebt, aber nicht erklingt. Wir sehnen uns nach der Vollendung des Stückes, doch werden wir die erlösende Tonika wohl nicht zu hören bekommen. Glaube, wie ihn der erste Johannesbrief beschreibt, hält uns in dieser Spannung ein Leben lang – und hält uns dadurch wach für seine Gegenwart. Für Gott als Sinn und Ziel, Kraft und Grund. Und irgendwann als Schlussakkord.
Ich glaube: jeder Mensch, gleich woher er kommt und wohin er geht, trägt eine Sehnsucht in sich, die aus dieser Spannung geboren wird. Besonders Weihnachten. Es ist ein Sehnen tief in uns nach Segen, Kraft, Freundschaft. Und Stille. Auch wenn sie viele im Weltgetöse nicht mehr hören; es gibt diese Sehnsucht, die in all dem Gedrängel und Geschiebe und grobem Geschrei auf den Märkten der Welt hartnäckig am Traum vom ganz anderen festhält: Daran, dass Menschen einander anschauen, und sei es im Quadrat, dass sie einander lieben, wie es ihm 1. Johannesbrief immer wieder heißt, und sich begegnen und offenbaren. So, dass sie sich schließlich erkennen als Kinder Gottes, die längst von Gott erkannt sind.
Die Sehnsucht danach, so auch Gott zu schauen, hat Menschen aller Zeiten bewegt, aufzubrechen. Innerlich getrieben davon, dass diese Offenbarung doch bitte, lieber Gott, in den Menschen die Klugheit vermehre und ihren Friedenswillen. So haben sich aufgemacht auch die berühmten drei Könige, kundige Seher und sehnsüchtig Suchende zugleich. Es war nicht offenbar, was sie sehen würden – und deshalb brachen sie auf. Der neunjährige Michael versteht sie ganz genau. Kind Gottes eben, das er ist. Er gehörte einst zu einer meiner Jugendgruppen und beschreibt diese königliche Geschichte so:
Es waren einmal drei Sterndeuter, die eines Nachts einen wunderschönen Stern sahen. Sie waren richtig begeistert, denn sie verstanden etwas davon. Sie sagten: „Das muss ein Königsstern sein, einer, der über die Erde regieren wird.“ Und so zogen sie los nach Jerusalem. Aber der König Herodes dort wollte von einem neuen König nichts wissen. Er war in heller Aufregung und rief: „Meine Frau hat keinen König geboren. Ich habe sie doch heute Morgen noch gesehen!! - Doch wenn ihr ihn gefunden habt, dann kommt zurück und sagt mir, wo er ist“. Das sagte Herodes aber nur so zum Schein. Darum sagt man auch scheinheilig zu solchen Leuten. Die Weisen gingen nach Bethlehem und haben dem Jesuskind Weihrauch, Myrrhe und viel Gold geschenkt – das kann man immer brauchen. Und sie sind dann nicht mehr nach Jerusalem zurück, sondern haben einen großen Bogen um Herodes gemacht. Na klar, der war scheinheilig und heimtückisch. Mit so was darf man sich nicht zusammentun. Und so ist Herodes dumm geblieben…“
Michael hat viele Nacherzählungen wie diese geschrieben. Aber er hat sie nie vorgelesen. Er war zu schüchtern dazu. Er saß eigentlich immer in der hintersten Reihe, den Kopf gesenkt, klug, aber blass. In der Jugendgruppe dann wollten wir die Weihnachtsgeschichte spielen. Jeder suchte sich seine Rolle aus. Maria, Engel, Hirten, Ochs und der Floh im Eselsohr, alle fanden ihre Rolle. „Und, Michael, was willst du spielen?“ „Ich wäre gern der Stern“, antwortete er. „Wie spielt man denn einen Stern?“ frage ich ihn. „Ganz einfach“, sagt er leise, „man stellt sich auf einen Stuhl und strahlt.“ Und das hat er dann auch gemacht.
Zaghaft zunächst, mit geröteten Wangen, dann jedoch immer klarer hat er sich zu erkennen gegeben, ganz allein dort oben auf der Bühne auf einem Stuhl, still, ein wenig einsam und unerhört freundlich.
Nicht nur eine persönliche Sternstunde, liebe Gemeinde. Hier zeigt sich die ganze Tiefe der Weihnachtsgeschichte: In ihr geht es ums Offenbarwerden des Eigentlichen. Darum, erkennbar zu sein. Ohne dass dies viele Worte braucht. Ich glaube, eher im Gegenteil, wir spüren derzeit alle, dass uns das viele Geschwätz und all die Wortklaubereien nicht wirklich eine Offenbarung sind - und uns auch nicht hilft, zu leben. Jedes Kind weiß, dass eine ergebnislose Klimakonferenz wie die in Durban schlicht eine Katastrophe ist. Jedes Kind Gottes weiß, dass sich vor den Grenzen Europas ein Flüchtlingsdrama abspielt, und unser Land ist beteiligt an dieser humanitären Katastrophe. Jedes Kind Gottes weiß, dass es zu viele Kinder in unserem reichen Land gibt, die unter Armut leiden, heißt: unter 215 Euro monatlich leiden, die weniger Ausbildung bedeuten und weniger Gesundheit, weniger Achtung und weniger Lebenslust. Doch keiner sagt es so. Das ehrliche Wort, das Zugeständnis, an die eigenen Grenzen gekommen oder gar schuldig geworden zu sein, hat in unserer Gesellschaft Seltenheitswert. Dabei wäre es so klug! Zu groß aber ist das Interesse, die eigene Macht, den einmal eingeschlagenen Kurs zu halten. Ja, Staaten und Menschen wie Herodes drehen sich ausschließlich um sich selbst. Mit so jemandem, Michael hat Recht, mag man sich nicht zusammentun. Und deshalb bleiben Staaten und Menschen wie Herodes dann dumm…
Ganz im Gegensatz zu den drei Weisen. Sie haben erforscht, was für die Zukunft wirklich zählt. Und sie haben entdeckt, dass man, will man sich der Wahrheit nähern, einen Weg gehen muss. Durch Wüste, Regen, Sturm, Verwirrung. Einen Weg, der weniger etwas mit Wissen zu tun hat, sondern mit Vertrauen. Vertrauen auf den Schirm des Höchsten. Und so führt sie der Stern tatsächlich an die Krippe und vollendet ihre Sehnsucht. Sie schauen das Kind, streicheln es vorsichtig und sind zutiefst berührt von dieser Begegnung mit dem Heiligen. Und sie wissen: Dieser Moment wird sie Zeit ihres Lebens verändern. Es ist ihnen offenbar geworden, was wir sein können. So kehren sie zurück, verändert und zugleich die Alten – mit offenem Blick aber für einen neuen Weg. Die drei sollten Vorbilder sein für uns. Damit wir nicht in Überzeugungen, und seien es religiöse, erstarren, sondern neu verstehen, was uns und was anderen heilig ist.
Gehen also auch wir mit dem Stern nach Bethlehem. Zu der Wahrheit in Person. Zur nackten Wahrheit, wenn man so will. Ein kleines Kind, das keinem Angst macht, ist die Offenbarung Gottes. Der wahre König. In unerhörter Freundlichkeit schaut es uns an, wie wir wahrhaft sind. Und das ist die Rettung. Denn der Gottessohn weiß, dass wir diesen freundlichen Blick begehren. Das wir nicht leben können ohne Anerkennung, ohne die zärtliche Geste, das Versöhnungsgespräch, die Umarmung, die uns festhält. Er weiß, dass wir nur so einander offenbaren können – und anfangen können, die Welt neu zu sehen.
Deshalb fängt Gott eine neue Geschichte mit uns an. Eine wahre Liebesgeschichte. Seht doch, heißt es im Johannesbrief, seht, welche eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder sind. Und das heißt: Fähig zur Liebe, fähig zur Klarheit, fähig zur Wahrhaftigkeit. Es ist zwar noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden, doch das macht nichts. Denn wir wissen: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein. Und so stehen wir Gotteskinder wie die drei Könige an der Krippe, streicheln das göttliche Kind und erkennen in ihm auch uns:
Sehen, wie sehr auch Gott ein Sehnen in sich hat. Danach, den Menschen nahe zu sein. Gott sehnt sich danach, uns auf unseren Straßen und Märkten beizustehen und uns zu geleiten mit seinem Segen.
Vor kurzem traf ich Michael wieder. Er ist heute ein junger Mann Anfang dreißig und ist in der Krebsforschung tätig. Er ist immer noch ein wenig schüchtern. Allerdings nicht so sehr wie seine Frau, mit der er sich an den Händen hält. Als ich beide fröhlich begrüße und sage: „Weißt du noch, deine Sternstunde?“ Da nickt er bloß und sagt, sparsam wie immer: „Habe selten so geschwitzt “ und strahlt.
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein lichtvolles und gesegnetes Weihnachtsfest, liebe Gemeinde! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Gottes Sohn. Amen