Von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn, Schwerin

Predigt zu Eph. 4 am 10.10.2010 in St. Georgen zu Wismar

10. Oktober 2010 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

„Heile du mich, Gott, so werde ich heil!“ Was für ein Wort an dieser Stelle, in  diesem wunderbaren Haus, dessen Gäste wir  sind – nach so langer Zeit des  Hoffens, Planens, Arbeitens, Betens! Es ist, als spräche es selbst, dieses Haus:  „Heile du mich, Gott, so werde ich heil!“. Die Wunden des Krieges sind der  St.Georgen-Kirche noch immer anzusehen. Aber die Heilung der Schäden ist  weit vorangeschritten. Dank des Mutes der Verantwortlichen in der Hansestadt  Wismar, den Wiederaufbau zu wagen, aller Skepsis und allen Widerständen zum  Trotz, dank der überaus großzügigen Spendenbereitschaft vieler Menschen in  den beiden Fördervereinen und darüber hinaus, dank der unglaublichen  Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, dank der Hilfe von Bund  und Land können wir heute die weitgehende Wiederherstellung der St. GeorgenKirche feiern. Wir bringen unseren Dank vor Gott, der so viele Menschen in  ihrer Vision bestärkt hat, diese Kirche zu retten.

Wir feiern Gottesdienst in einem wunderbaren Raum. An ihm haben kundige  Handwerker und Architekten gebaut. Die Faszination dieses Raumes verdankt  sich aber auch seiner inneren Gestalt, seiner inneren Prägung: Hier haben unsere  Vorfahren gehofft und gebetet, ihre Toten betrauert und Kinder zur Taufe  getragen. Generation für Generation hat an diesem Ort die großen Geschichten  der Hoffnung gehört, das Leben besungen, nach Gott als dem Geheimnis der  Welt gefragt. Dies alles, gelebtes Leben in langer,  langsamer Zeit gehört zur  Patina, zum Geist dieses durchbeteten Raumes und lässt uns gespannt fragen,  welches Leben in dieser Kirche Gestalt gewinnen wird. Es ist ja eine schöne  Herausforderung, nach der Heilung des äußeren Raumes auch diesen inneren  neu zu erschließen, dass er heil werde und ganz.

In all das hinein, was uns an diesem Tag bewegt, spricht der für heute bestimmte  Predigtext mit einer Stimme, die uns vielleicht überrascht: Vom  Ablegen des  alten Menschen ist da die Rede, wie wir gehört haben, vom Ablegen der Lüge,  dem Zumuten der Wahrheit. Der Zorn ohne Ende soll unter uns nicht herrschen,  sondern gegenseitige Vergebung. Aber wir wissen ja und sollen hören: Heilung  beginnt mit dem Wahrnehmen dessen, was in uns zerstört ist, was zerstörerisch  wirkt. Sie gehören zu uns – unsere Schattenseiten, unsere Konflikte. Aber wie  damit umgehen?

Von einer Region in  China wird erzählt:  „Einmal im Jahr kommt die ganze  Sippe zusammen, setzt sich im Kreis, alle verstopfen sich die Ohren mit Lehm,  dann sagen sie einander die Wahrheit, das heißt: sie sagen einander alle  Erdenschande, verspotten, verfluchen, verhöhnen einander, bis sie keuchen,  jeder gesteht seine Ehebrüche, seine Geschäfte, seine Listen, seine Süchte seine  Ängste, gesteht und schreit, bis er heiser ist – und dann, wenn keiner mehr kann,  polken sie den Lehm aus den Ohren, lächeln, verbeugen sich zierlich, begleiten  einander nach Hause, laden sich gegenseitig zum Tee und leben wieder ein Jahr  lang zusammen, wie es sich gehört, friedlich höflich und gesittet . . .“

Eine Möglichkeit, Feindschaft und Streit beizulegen, die ihren  Reiz hat,  zweifellos! Aber eine Lösung der Probleme? Die Bibel mutet uns um der  Heilung willen Wahrhaftigkeit zu  – Einkehr in je unsere eigene Wahrheit und  den Mut, sie so auszusprechen, dass der andere sie hören kann; und sie rät uns,  auch unsererseits nicht die Ohren vor der Wahrheit  zu verschließen.  Das  bedeutet ja auch, heranzugehen an Vorurteile, Gerüchte,  an ein Abgeschlossenhaben mit Menschen, das uns für manches hat taub werden lassen  – und sich so dem zu stellen, was andere für wahr halten. 

Darum lassen Sie uns einen Augenblick  lang, an wenigen Beispielen das  Zerstörerische unter uns anschauen: Es hat bei der Frage nach der zukünftigen  Nutzung von St. Georgen Verletzungen gegeben – auf Seiten der Stadt wie auf  Seiten der Kirchgemeinden: 
• Vertreter der Stadt haben erlebt, dass unterschiedliche Auffassungen in  der Sache nicht von ihrer Person getrennt wurden. Unterstellungen  wurden geäußert, die Stadt wolle aus der Kirche ein bloßes Kulturhaus  machen, wenn nicht gar am Ende ein halbseidener Laden dort einziehe.  Das ist ungerecht. Das tut weh.
• Und andererseits: Gemeindeglieder fühlten sich verletzt, wenn gesagt  wurde, St. Georgen sei eine Kirche ohne Gemeinde. Dabei trägt die  Kirchgemeinde St. Georgen/St. Marien ‚Georgen’ nicht nur im Namen. In  ihr leben Menschen, die durch ihre Taufe, ihre Konfirmation oder  Hochzeit in St. Georgen eine tiefe und ganz persönliche Beziehung zu  dieser Kirche haben.

Neben solchen Verletzungen spielen nach meinem Eindruck auch Sorgen und  Ängste eine Rolle, erschweren das Hören aufeinander:
• Wie fühlt es sich für eine Kirchgemeinde an, wenn ein wichtiges Symbol  des Glaubens wie der wunderbar restaurierte Hochaltar nicht an den  ursprünglichen Ort zurückkehren, sondern in einer Seitenkapelle Platz  finden soll? Manche sorgen sich, dass dementsprechend auch die  kirchlichen Veranstaltungen in St. Georgen ein Nischendasein führen  werden.
• Und andererseits: Wie fühlt es sich an für Verantwortliche der Stadt, die  nun für die Erhaltung der Georgenkirche jedes Jahr Hunderttausende Euro  aufbringen müssen, wenn der Hochaltar am angestammten Ort einen Teil  der Nutzungen verhinderte und damit wichtige Einnahmen verloren  gingen? Diese Vertreter der Stadt werden sich vielleicht fragen, ob die  Last dieser Verantwortung von anderen überhaupt wahrgenommen wird.

Dabei gibt es zwischen der Hansestadt Wismar und den Kirchgemeinden mehr  Verbindendes, als man meinen möchte: Beide stimmen darin überein, dass St.  Georgen sowohl als Kulturstätte als auch als Kirche genutzt werden soll. Das ist  ein gutes Fundament, auf dem man aufbauen kann. Und es stiftet neues  Vertrauen, dass Trauungen und Gottesdienste in St. Georgen wieder möglich  sind. St. Georgen ist und bleibt Kirche, auch wenn sie vornehmlich kulturell  genutzt werden soll. Dennoch, es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, bis  wir zu einem unverkrampften, partnerschaftlichen Umgang miteinander  gefunden haben werden. Darüber sind wir ja miteinander im Gespräch.

Was kann uns helfen auf dem Weg der Heilung? Ein erster Schritt ist es, damit zu rechnen, dass der Splitter im Auge des Andern mir mehr auffällt als der  Balken im eigenen Auge. Eine entscheidende Schule des Sehens ist das: Sich  hineinzuversetzen in den Andern  und seine Sorgen und die Dinge mit seinen   Augen zu betrachten. Gleichzeitig rät uns die Schrift, die eigenen Worte in Acht  zu nehmen, nicht übles Geschwätz weiterzutragen, sondern zu reden, was gut  ist, was erbaut und was notwendig ist. Alle Dinge zum Besten kehren, hat Martin  Luther das in seiner Auslegung zum 8.Gebot genannt.  

Aber gehen wir einen Schritt weiter und  fragen: Was kann uns stärken auf  unserem Weg, den inneren Raum der St. Georgen-Kirche neu zu erschließen?

Schwestern und Brüder, lassen Sie uns vor allem auf das schauen, was  die  gemeinsame Nutzung von St. Georgen uns allen verspricht! Denn es lähmt uns, immer nur auf das zu sehen, was man auf ungewohnten Wegen verlieren könnte.  Ich bin überzeugt: Wir können eine Menge im Miteinander gewinnen. 
• Für uns als Kirche ist St. Georgen ein Geschenk, weil dieser Raum eine Kirche mit niedriger Schwelle geworden ist. Menschen, die unberührt von  Religion aufgewachsen sind, kommen ohne Scheu hierher.
• Dass St. Georgen vornehmlich kulturell genutzt werden soll, fordert uns  heraus im Blick  auf unser  Kirchensein selbst:  Es wird uns stärken in  unserer Fähigkeit, Menschen wahrzunehmen und zu verstehen, denen  Gott nicht nur fremd ist, sondern unbekannt. Es wird uns helfen, eine  Sprache für Glaubensdinge zu entwickeln, die gerade für diese Menschen  verständlich ist.
• Die Hansestadt Wismar gewinnt in den Kirchgemeinden Partner,  die  ihrerseits St. Georgen mit Leben erfüllen. Sie gewinnt Menschen, die gern  bereit sind, diese Kirche offen zu halten und Gäste zu führen.
• Und was nicht zu unterschätzen ist: Die Stadt gewinnt mit den  Kirchgemeinden Partner, die die Gründungsidee, den ursprünglichen  Geist dieses einzigartigen Raumes lebendig halten. Die Verbindung zu  den Ursprüngen ist wesentlich, wenn man sich für neue Nutzungen öffnen  will – sonst verliert St. Georgen seine Ausstrahlung und behält nur noch  den flüchtigen Reiz einer ungewöhnlichen ‚location’. 

Darum – was Peter Cornehl  schon vor 10 Jahren im ‚Turmerlebnis’ gesagt hat,  gilt heute erst recht:  „Es ist Zeit für eine neue Begegnung von Religion und  Kultur.“ Und wenn ich Ihnen in der Hansestadt Wismar und der Georgenkirche  etwas wünschen darf, dann, dass es wirkliche Begegnungen zwischen Religion  und Kultur in dieser Kirche geben möge, im guten Sinne einander  herausfordernd und befruchtend  – und nicht nur ein schiedlich-friedliches  Nebeneinander. 

Christen können ohne Angst in solche Begegnungen gehen. Denn sie sind da  ganz bei ihrer Sache. Was Fulbert Steffensky als Aufgabe jeder Kirche  formuliert hat, gilt erst recht für St. Georgen:  „Die Kirche soll nicht nur im  öffentlichen Stadtbild erkennbar sein, sie soll die Öffentlichkeit der Stadt in sich  selber aufnehmen und sie verwandeln  – die Leiden einer Stadt, die großen  Fragen einer Stadt, den Diskurs einer Stadt, das Gewissen einer Stadt. So wie es  in Leipzig die Nikolaikirche während der friedlichen Revolution getan hat. „Eine Kirche verengt, wenn sie nur Ort des Gottesdienstes ist, und das sonntags  von 10 bis 11 Uhr. Die Kirche gehört sich nicht selber, sie gehört den Leiden  und den großen Fragen des Gemeinwesens. Kirche in der Stadt heißt Kirche für  die Stadt.“ 

Was könnten die großen Fragen der Stadt sein, die hier ihr Forum hätten und ein  Dach überm Kopf? Wie wir mit den Armen in unserer Mitte leben wollen zum  Beispiel, wie wir gerechten Verhältnissen in unserer Gesellschaft näher kommen  können. Aber auch das aufzunehmen, was längst im Gange ist, und was „das  größte Transzendenzprojekt der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit“, genannt worden ist (Matthias Kamann), „nämlich die neue Auseinandersetzung  mit dem Tod.“  Wir erleben ja mit, wie zurzeit von immer mehr Menschen mit  neuer Dringlichkeit danach gefragt wird:  „Was wird mit mir? Wie verlängert  sich die Linie meiner Individualität ins Totenreich hinein?“ Sterbehilfedebatten,  Internetforen, neue Todesanzeigen, neue Bestattungskulturen machen das  deutlich. Sich solcher Fragen aus unterschiedlicher Sicht anzunehmen, den  Austausch unter den Bürgern dieser Stadt anzuregen und zu begleiten  – auch  dafür könnte die St. Georgen-Kirche ein trefflicher Ort sein.

Der Raum selbst ist dabei unser Verbündeter. Ich vermute, wir müssen gar nicht  so viel machen. Sich dieser alten Kirche auszusetzen und anzuvertrauen, neue  Erfahrungen mit ihr zu suchen, sie zu bewohnen  – in Stille und Konzert, in  Meditation und offenem Singen – weniger wird da mehr sein. Wie schön wäre  es, wenn es neben den je eigenen Entdeckungen und Veranstaltungen auch  gemeinsame Erkundungen dieses kostbaren Raumes gäbe! Seine Geschichte,  seine unerwachten Möglichkeiten rufen förmlich danach! Wir beginnen da ja  auch nicht am Nullpunkt. Manche unter uns werden sich noch erinnern an die  Friedensdemonstration vor dem Beginn des Irakkrieges und an die Andacht hier  in St. Georgen: Da brauchte es kaum Worte, weil die Wunden dieses Raumes  beredt genug waren – und sind.

So wird viel darauf ankommen, die Fremdheit dieses Raumes zu achten und zu  wahren.  „Der fremde Raum . . .  bietet mir eine Andersheit, die mich heilt,  gerade weil sie mich nicht wiederholt, sondern mich von mir wegführt. Kirchen  heilen, insofern sie nicht sind wie wir selber.“ (Fulbert Steffensky)  Wir  Menschen leben von solchen Unterbrechungen der Banalität und der  Dauerbeschallung.

„Heile du mich, Gott, so werde ich heil!“ Was uns geschenkt ist mit St. Georgen  und uns verheißen ist, dass es hier lebe, es braucht am Ende nichts anderes, als  dass wir’s ergreifen. Die Fesseln, die uns daran hindern, zu lösen, setzen wir  all  unsere Hoffnung auf Gott. Er ruft uns herunter von den Gerüsten, in denen wir  uns verstiegen, heraus aus den Gräben, in denen wir uns verschanzt haben – und  lädt uns ein in sein Haus, das ein Haus der Versöhnung sein soll, der Wahrheit,  der Gerechtigkeit, des Friedens. Bringen wir dahinein mit, was uns bewegt, was  uns freut, was uns beflügelt – und ebenso auch, was uns trennt: Gott überwindet,  was trennt.

Amen.  

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