Predigt zu Jes 58 anlässlich des Pfarrertages am 19.9.2010 in Rostock von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn, Schwerin
19. September 2010
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. AMEN.
Liebe Schwestern und Brüder,
„’Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.’ Die evangelische Kirche und die soziale Frage“ – dieses Thema hat Sie in diesen Tagen beschäftigt. Exkursionen und Diskussionen haben die Vielschichtigkeit dieses Themas vor Augen geführt. Nun stellen wir uns diesen Fragen noch einmal vor Gott.
„Tu deinen Mund auf für die Stummen“ – ich denke, wer das tun will, dem muss es erst einmal die Sprache verschlagen. Zerreißt es einem nicht das Herz im Gedanken an den kleinen Kevin, der sich herumtreiben muss und erst ab 20 Uhr nach Hause kommen darf, weil seine Mutter seine Gegenwart nicht erträgt – und morgens ist der Kühlschrank leer, weil der hungrige Bruder nachts alles aufgegessen hat? Silke, die verzweifelte Frau, der vor den Folgen ihrer Schwangerschaft graut; Heiko, der Strafgefangene, dessen Mutter alles blockt, was helfen könnte, seine schwierige Kindheit zu heilen – sie stehen für viele einzelne Schicksale in unserem Land, vom globalen Kontext ganz zu schweigen.
Im Buch der Sprüche kann man lesen: „Der Gerechte weiß um die Sache der Armen.“ (Spr 29,7a) Was heißt das, „um die Sache der Armen wissen“?
• Statistisch kann man zum Beispiel wissen, dass mehr als 40% aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren in der mecklenburgischen Landeshauptsstadt Schwerin an und unter der Armutsgrenze leben. Wir leiden nicht an einem Mangel an Informationen, sondern oft fehlt es uns am Hinsehen, an Begegnung und Beziehung.
• Aus der von der Diakonie in Auftrag gegebenen Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ gewinnen wir die Einsicht, dass es – auch global gesehen – eines grundlegenden Kurswechsels bedarf: Weil der blanke Markt blind ist für Ökologie und Gerechtigkeit müssen „menschenrechtliche Leitplanken und ökologische Begrenzungen … den Rahmen für ökonomische Ziele definieren und, wenn notwendig, beschränken“.
• „Euch Reichen wird es schlecht ergehen“, warnt Jesus in der Feldrede, „ihr verliert euren Trost“. Wir kennen unsere Rolle in der globalisierten Welt: Europäische Trawler schnappen senegalesischen Fischern den Fang weg. Arbeitslos geworden, machen sich diese Menschen dann als Bootsflüchtlinge auf den Weg nach Europa. Daher werden sich „die Lebensrechte vieler Armer in der Welt … nur sichern lassen, wenn die globale Klasse der Vielverbraucher ihre Nachfrage nach Naturressourcen verringert.“
All das können wir wissen. Manchmal macht uns das Elend sprachlos. Manchmal sind wir wie gelähmt angesichts der komplizierten Zusammenhänge und unserer eigenen Ohnmacht, etwas zu verändern. Oder ist das nur Ausrede? Ausrede, um nicht umkehren zu müssen und das eigene Leben zu ändern?
Der prophetische Bußruf aus Jesaja 58, den wir vorhin gehört haben, hat das Zeug, uns aufzustören, wenn er Gottes Botschaft ausrichtet mit den Worten: „Sie suchen mich täglich und begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.“Eigentlich – so sollte man meinen – könnte man doch froh sein, wenn Menschen nach Gott fragen, wenn sie nach Wegen suchen, um ihm nahe zu sein. Doch Gott hält dem entgegen: „Sie begehren meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan hätte.“
Mich erschreckt dieses Wort: Was, wenn manche Abwesenheit Gottes heutzutage ihren Grund darin hätte, dass wir leben, als hätten wir die Gerechtigkeit schon getan?! Was, wenn die eigentümliche Folgenlosigkeit kirchenleitenden und pastoralen Stimmeerhebens für die Schwachen ihre Ursache auch darin hätte, dass wir nicht nach Gottes Willen leben, aber darum beten, dass er geschehe!? Jedenfalls fällt doch das auf: Im Sozialwort der Kirchen vor einigen Jahren war klar formuliert, was notwendig wäre, um Recht und Gerechtigkeit in unserm Land zur Geltung zu bringen. Zunächst von allen Seiten gelobt, fiel diese Erklärung dann aber mehr oder minder wirkungslos zu Boden. Einem neuen Sozialwort, das wir brauchen, würde es vermutlich ebensoergehen. Und viele gutgemeinte Predigten verhallen ungehört.
Andererseits, unsere Gerechtigkeit ist – Gott sei Dank – nicht die Bedingung der Zuneigung Gottes zu uns. Gott hat in Christus unsere Nähe gesucht – trotz unseres verkehrten Wesens und Lebens. Er sucht diese Nähe auch heute, obwohl unsere Werke nicht bestehen können. Und dennoch! Wir können und dürfen uns dessen nicht einfach trösten. Denn zwar, Martin Luther hat Recht: Der Glaube an Gottes versöhnende Liebe „bewirkt, dass dir Christus lieblich gefällt und süß im Herzen schmeckt“. Nicht minder mit Recht aber fährt Luther fort: „Dann folgen Liebe und gute Werke ungezwungen nach. Folgen sie aber nicht, so ist dieser Glaube gewisslich nicht da: denn wo der Glaube ist, da muss der Heilige Geist auch sein, Liebe und Güte in uns wirken.“ Wie hält unser Glaube, wie halten wir diesem Kriterium stand?
Schwestern und Brüder, nach meinem Empfinden stellt sich die soziale Frage für uns als eminent theologische. Auf dem Prüfstand steht nicht nur was, sondern darin zugleich wie wir glauben. Bei der Suche nach Antworten stoße ich auf Stimmen wie die Dietrich Bonhoeffers in seiner scharfen Kritik an der ‚billigen Gnade’, für ihn der ‚Todfeind der Kirche’: Hören wir die bekannten Sätze noch einmal neu im Kontext unserer Thematik:
„Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, . . . ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.
Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch hingeht und mit Freuden alles verkauft, was er hatte, . . . der Ruf Christi, auf den hin der Jünger seine Netze verlässt und nachfolgt. . .
Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt.“
Verheerend sind in Bonhoeffers Augen die Folgen für die Kirche und so stellt er unerbittlich fest:
„Ist der Preis, den wir heute mit dem Zusammenbruch der organisierten Kirchen zu zahlen haben, etwas anderes als die notwendige Folge der zu billig erworbenen Gnade? Man gab die Verkündigung und die Sakramente billig, man taufte, man konfirmierte, man absolvierte ein ganzes Volk, ungefragt und bedingungslos, man gab das Heiligtum aus menschlicher Liebe den Spöttern und Ungläubigen, man spendete Gnadenströme ohne Ende, aber der Ruf in die strenge Nachfolge Christi wurde seltener gehört.“
Bitte riskieren wir es, für möglich zu halten, dass diese Analyse nicht nur der evangelischen Kirche von 1937 den Spiegel vorhielt, sondern auch ein Wahrheitsmoment für unsere heutige Situation in sich trägt. Bitte folgen wir nicht dem natürlichen Abwehrreflex, den harte Anfragen unwillkürlich auslösen und der uns lieber gleich weghören lässt. Wenn uns das gelingen sollte – was hilft uns dann weiter?
Der gehörte Text aus Jesaja 58 kann dies auf zweifache Weise – indem er ruft und indem er verlockt.
Ganz elementar ruft der Prophet: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Das ist kein moralischer Appell, sondern ein Ruf hinein in gelebte und lebendige Beziehung zu Gott. Moralische Verpflichtung allein steht in der Gefahr, mit der Zeit zu ermatten, kann den Herausforderungen der sozialen Frage auf Dauer nicht standhalten. Aber in der Liebe ist das anders. In der Liebe kann ich besser sein, als ich eigentlich bin. So kann unsere Antwort auf die Liebe Gottes, unsere Liebe zu Jesus uns Mut und Beständigkeit schenken, zu tun, was not ist. Wir begegnen ja ihm in den scheinbar Geringsten unserer Schwestern und Brüder. Wenn wir uns dessen bewusst bleiben und uns so auf ihn einlassen, werden wir frei für ein Leben, das sich in Hingabe erfüllt – ein von Grund auf verwandeltes Leben.
Dann geschieht es, dass wir hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Dann verlassen wir ein Denken, in dem wir uns immer zuerst auf uns selbst und auf das, was wir haben, beziehen. Wir werden gewahr, dass ein Denken in Kategorien von ‚Besitzstandswahrung’ diesen Hunger nicht stillt und nicht diesen Durst. So kann es geschehen, dass wir zum Beispiel in unseren Gemeinden die wichtige Dimension gemeindlicher Diakonie neu entdecken und neu beleben. Wir können mit Freude und Phantasie daran arbeiten, dass bislang ausgegrenzte Milieus durch ein verändertes Gemeindeleben wieder in Berührung kommen mit dem Evangelium.
Zu alledem ruft der Prophet. Und das ist darüber hinaus die Verheißung, die uns gilt, wenn wir seinem Ruf folgen:
„Es wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“
Das verwandelte Leben ist nicht billig zu haben, denn es ist kostbar. Das Großartige ist – es kommt von Gott her und führt uns zu Gott und lässt uns selbst und unsere Kirchen gesunden. Eigentlich ist es ganz einfach: Wer bei den Armen eintaucht, der taucht neben Gott wieder auf.“ (Bischof Jacques Gaillot).
Amen.
Und der Friede . . .