Predigt zu Joh 12, 12-19 an Palmarum 2010 aus Anlaß der Einweihung der Husumer St. Marien Kirche
01. April 2010
Liebe Festgemeinde, der Nabel der Welt – wo mag der liegen? Gibt es für Sie so etwas wie ein Zentrum, von dem aus sich alles ordnet? Einen Mittelpunkt des Lebens, räumlich oder auch gedanklich?
In fast jeder Kultur gibt es eine Vorstellung davon, eine Idee darüber, wo ein solches Zentrum liegen könnte; die Welt ist übersät mit Mittelpunkten: Pyramiden, Tempelbauten, Kultstätten, Symbolgebäuden. In Peking z.B. liegt der Mittelpunkt der Welt - selbstverständlich - in unmittelbarer Nähe des Kaiserpalastes. Lange Sichtachsen laufen auf ein Rondell zu; die Stelle, an die der Kaiser einmal im Jahr tritt; die Mitte des Kosmos, der Angelpunkt des Universums ist der Ort, an dem der Himmelsohn den chinesischen Erntedank stellvertretend für alle darbringt.
In Jerusalem - ein zweites Beispiel - ist der Zion, der Tempelberg, die Weltenmitte, zu der einst wie magnetisch angezogen alle Völker ziehen werden, so wie es in den großen Visionen bei Jesaja und Micha geschildert ist: „Von Zion wird Weisung ausgehen; alle Heiden werden herzulaufen und viele Völker werden hingehen“ (Jes 2).
Sie haben, liebe Husumer St.-Marien-Gemeinde, sehr passend Palmarum als Sonntag zur Wiedereinweihung Ihrer wunderschön renovierten Kirche gewählt. Palmsonntag also und damit die Erinnerung an den Einzug Jesu in Jerusalem: Seinen Weg ins Zentrum, aus dem Kidrontal hinauf Richtung Tempelberg, zum „Nabel“ der Welt, um dort zum König Israels gesalbt zu werden. Um von dort Weisung in alle Welt ausgehen zu lassen.
Als Christen in der Passionszeit und als solche, die mit der Geschichte Jesu vertraut sind, wissen wir, dass es anders kommen wird. Dass der Weg zum Thron, auf den Jesus sich setzen soll, über Golgatha führen wird; ja mehr noch, dass für das Johannesevangelium nicht Altar und Thron, sondern Kreuz und Thron identisch sind. Der Ort des tiefsten Leids, - nach menschlichem Ermessen: der größten Niederlage ist zugleich der Augenblick des größten Triumphes.– Aus der Sicht des Glaubenden gesprochen: Der Sieg der Liebe Gottes über menschliche Gewalt und Tod. „Es ist vollbracht. Seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33; 19,30).
Palmarum führt also geradewegs in die Karwoche und auf Ostern hin. Hören wir aber zunächst die Schilderung des Einzugs Jesu in Jerusalem nach dem Johannesevangelium. Es ist zugleich das Evangelium des heutigen Sonntags (Joh 12, 12-19):
Als (am nächsten Tag) die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!
Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht:»Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.«
Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
An Palmarum, liebe Festgemeinde, passiert nichts Geringeres, als dass der Mittelpunkt der Welt neu definiert wird. Der Kosmos bekommt an diesem Tag ein neues Zentrum: keinen bestimmten festgelegten Ort, (so dass wir sagen könnten: Siehe hier! Oder: Siehe dort!), sondern eine lebendige Person ist Mittelpunkt des Lebens; Zentrum der Welt, Nabel des Universums. An Jesus Christus, seinen Worten, seiner Geschichte, seinen Taten richtet sich für die Glaubenden jetzt und für alle anderen zukünftig alles aus.
Das bringt gewohnte Denkmuster auf erfrischende Art und Weise durcheinander: Die Hosianna-Jubler tun dies, unserem Predigttext zufolge, nur deshalb, weil sie von Jesus „Zeichen“ erwarten oder gehört haben, das er solche schon getan habe. Also Beweise sehen wollen oder Spektakuläres erhoffen. Ihre Enttäuschung wird, wie wir wissen, umschlagen ins „Kreuzige ihn“.
Die Jünger wiederum verstehen mal wieder erst im Nachhinein die Bedeutung des Ereignisses; und das ist bis heute fast notorisch, das Kirche sich mit Verspätung meldet. Etwas weniger polemisch könnte man sagen: Erst im Nachhinein lässt sich glaubend das Leben deuten.
Und schließlich: die sonst üblichen Gegner Jesu sind die einzigen, die –quasi aus Versehen – das Evangelium verkündigen: „Alle Welt läuft ihm nach“. Eine scheinbar oberflächliche Beobachtung, die auf geheimnisvolle Weise die tiefe Wahrheit formuliert, dass es der Kosmos ist, der sich nach Christus ausrichtet. Wie machtvoll das angeblich machtlose Daherreiten auf einem so niedern Tier wie einem Esel sein kann! Kurz: Durch Jesus wird alles noch einmal anders, und an Palmarum wird das sichtbar.
Das bedeutet nun allerdings auch eine erhebliche Umorientierung von Christenmenschen - zumal evangelischen - im Blick auf „Heilige Orte“ und das, was Kirchenbauten bedeuten. Bis heute sind zwar die Kirchen so etwas wie Wahrzeichen der Städte und Orientierungshilfen, oder wie der Turm hier einem Leuchtturm nachempfunden in der Landschaft. Sie sind Erinnerungsstützen an das, was trägt. So wie hier in Husum St. Marien direkt am Marktplatz liegt, für mich eine Erinnerung daran, dass sich die zentralen Dinge des Lebens weder kaufen noch verkaufen lassen. Sondern Geschenk sind und freie Gabe Gottes.
Und trotzdem sind unsere Kirchenbauten nicht von sich aus und automatisch Orte, an denen Gott wohnt. Das wusste schon König Salomo bei der Einweihung des Jerusalemer Tempels als er sprach:: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (1. Kö 8,27).
Und doch kommen wir Menschen ohne solche Orte nicht aus. Plätze, die Raum schaffen zumindest für die Möglichkeit, dass Gott uns in ihnen begegnen möge. Und so lädt uns diese Kirche dazu ein, uns einen Moment zu setzen (so wie auf Ihre schönen neu renovierten Bänke), zur inneren Ruhe zu finden, zur Besinnung zu kommen und Platz im Herzen zu finden für Dank und Trauer, für die Bitte um Segen und ein gelingendes Leben.
Ein Ort, der keinem „Zweck“ im herkömmlichen Sinne dient - für mich eine große Befreiung in einer immer stärker verzweckten Welt. Ein Ort, an dem – so Gott will- er für einen Moment seine „Hütte bei den Menschen“ errichtet. Ein Vorgeschmack auf den Bau, der dereinst dauerhaft sein wird (wie wir vorhin in der Lesung vernommen haben); so wie ja auch der Architekt dieser Kirche, Christian-Frederik Hansen, so etwas wie einen baulichen Vorgeschmack auf himmlische Verhältnisse schaffen wollte: die Geordnetheit und Klarheit dieser Kirche in ihrer Strukturiertheit mit den Portalen, den Säulen, dem Sternenhimmel lässt sich ja verstehen als ein Abbild der wohlgeordneten Schöpfung Gottes, als Einordnung auch dieser Kirche im Ablauf der jahrtausendealten Tradition von menschlichen Kultbauten.
Wenn für Christen also nicht einfach automatisch dieser oder jener Bau, dieser oder jener Ort, Nabel der Welt sein kann, sondern Jesus Christus in Person, so könnten Sie, liebe Gemeinde, Ihre St. Marien-Kirche vielleicht verstehen als so etwas wie das Ende einer Nabelschnur, einer Nabelschnur zu Gott. Nur zweihundert Jahre, bevor Ihre St. Marien-Kirche hier in Husum gebaut wurde, weihte Martin Luther dieerste evangelische Kirche in Torgau ein. Bei seiner Predigt sagte der Reformator damals: "Es soll dies Haus dahin gerichtet sein, daß nicht anderes darin geschehe, denn daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang" (1544 Einweihung der Schlosskirche Torgau).
Ein Hin und Her des gegenseitigen Wahrnehmens, eine Art wechselseitiger Kommunikationskanal, fast wie bei Mutter und Embryo. Ein Ort zum Auftanken oder Andocken, an dem wir uns nähren lassen an Leib und Seele: vom Wort Gottes, vom Sakrament des Abendmahls und der Taufe, von den Liedern, den Gebeten, dem VaterUnser, der Kirchenmusik. Eine Hülle, die darauf angewiesen ist, dass etwas durch sie fließt, weil sie – wie die Nabelschnur auch - sonst vertrocknet und verkümmert. Kirchen sind – denkmalgeschützt wie sie auch sein mögen - keine Museen, sondern Nabelschnüre. Und dafür dass aufbauende, süße Speise, Milch und Honig durch sie fließt, dafür übernehmen Sie in der Kirchengemeinde Mit-Verantwortung.
Die Mitglieder Ihres Orgel- und Kirchbauvereins haben sich für die Renovierung in vorbildlicher Weise eingesetzt; viele von Ihnen haben für die Erhaltung und die Wiederherstellung dieses Kirchraums Phantasie und Zeit, Geld und Ideen mobilisiert. Ohne Ihr Engagement, Ihre Begeisterung und Liebe, dem Einsatz der Gemeindeglieder, ist kirchliches Leben, ja ist Kirche insgesamt, undenkbar. So habe ich aus bischöflicher Perspektive Ihnen herzlich zu danken, denn Sie sind es, die diese Kirche mit Leben füllen. Sie sind es, die dazu beitragen, dass Menschen die Verbindung zu Gott suchen und das – auch - in dieser Kirche tun können. Ich denke an die Hochzeitspaare, die hier ein- und ausziehen, an die Familien, die ihre Kinder zur Taufe bringen, an Konfirmandinnen und Konfirmanden und an die Trauernden, die hier Trost suchen. Und wenn ich Ihre neu renovierten Säulen – jetzt im hellen Farbton - sehe, und an den Tag heute denke, legt sich mir das Bild von Palmsonntag nahe. Wie Jesus in Jerusalem einzieht. Rechts und links die Bäume, die Palmen am Strassenrand.
Manche von Ihnen kennen vielleicht die Leipziger St. Nikolai-Kirche, in der die Säulen im Inneren der Kirche wie Palmen gestaltet sind. Die Gemeinde sitzt gewissermaßen unter einem Dach von Palmblättern; und jeden Sonntag zieht Jesus ein. Jeder Sonntag ist Palmarum, weil sich jeden Sonntag in den Bänken, rechts und links des Weges hin zum Altar, die Frage stellt, zu welcher Gruppe gehöre ich diesmal?
Zu denen, die ein Zeichen oder Wunder brauchen? Zu denen, die vielleicht schon lange dabei sind, aber erst später verstehen werden? Oder zu denen, die sozusagen aus Versehen, ein evangelisches Wort verlieren oder heraushören?
Gott ist in Bewegung, ein Durchziehender, ein Vorbeiziehender und manchmal bleibt er einen Moment stehen. Wir können darauf vertrauen, dass er in Jesus Christus gegenwärtig ist. Wohl dem, der solche Augenblicke erleben darf! Mögen Sie, liebe Gemeinde, in Ihrer St. Marien-Kirche mit solchen Augenblicken der Gegenwart Gottes reichlich gesegnet sein! Amen.