Predigt zu Lukas 2
24. Dezember 2008
Liebe Gemeinde, zu den Rennern im Weihnachtsgeschäft gehören auch in diesem Jahr wieder solche kleinen silbrig glänzenden Scheiben. Da ist alles drauf, was der Mensch sich vorstellen oder denken kann – oft auch, was er sich nie hat vorstellen können oder wollen.
Statt auf zwei Metern im Wohnzimmerschrank befindet sich z.B. der zwanzigbändige Brockhaus nun auf solcher Scheibe. Hochzeiten, Taufen, Reisefilme – alles auf CD oder DVD. Hatten wir früher liebevoll gestaltete Fotoalben dabei, tut es jetzt ein Laptop, der die 200 Urlaubsfotos als Diashow abspielt, ohne dass man aufpassen und ohne dass man hingucken muss.
Und auch für den Datenklau in jeder Form sind diese Scheiben hervorragend geeignet. Kein Steuerbetrug mehr, den man schnell mal durch den Schredder jagen kann; kein Geheimnis, keine Intimität mehr – nichts. Alles ist offen gelegt auf diesen undurchschaubaren Scheiben. Das ganze Leben digitalisiert. - Auch Weihnachten ?
Nein, liebe Gemeinde, Weihnachten geht nicht auf DVD, ist zu groß, zu real. Weihnachten ist das vitale Zeugnis Gottes in dieser Welt. Das, was Weihnachten geschieht in Bethlehem im Stall: das kann man nicht ein- oder abschalten wie eine DVD. Das muss man auch nicht raub-kopieren oder brennen. Weihnachten kommt die Realität Gottes mit der Realität der Welt zusammen. Oder: Himmel und Erde kommen zusammen, berühren sich freundlich. – „Heut’ schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis“!Nichts bleibt, wie es ist. So erleben das die Menschen damals, so singen unsere Lieder seit Generationen; so inszenieren wir es, wo wir unsere Welt weihnachtlich-himmlisch gestalten, ein Paradies.
Weihnachten kommt das Kind zusammen mit dem Kind in uns und mit den ausgewachsenen Sorgen und Hilflosigkeiten der Menschen; Liebe steht auf gegen Hass; Hoffnung gegen Resignation; das Licht scheint ins Dunkel.– Was da geschieht, was die Hirten zuerst sehen; die Klarheit des Lichts, das Kind im Stall, Maria und Josef, der Glaube der einfachen Menschen, der Jubel: das ist nicht virtuell. Es wohnt real in unseren Herzen, in der Erinnerung, in unserer Sehnsucht nach Heil und Bewahrung: da geschieht in Bethlehem, was die Propheten angekündigt hatten, dass Gott der Welt gibt, was sie zum Leben braucht....
Das finde ich auf dem Bild, das Sie am Eingang bekommen haben:
„Lebenslinie“ ist sein Titel. Eine Leine spannt sich, unsichtbar gehalten, durch das Bild. Im Dunklen und doch im Licht vier Samen einer Blume, die ihre Blütezeit hinter sich hat. Wie oft habe ich schon als Kind in verblühte Löwenzahnblüten geblasen und den davon schwebenden Samen hinterher geschaut. Ich lernte: wo sie hinfallen, entfalten sie ihre Kraft, aus der neues Leben erblüht.
Einer dieser Blütensamen scheint vom Wind zerzaust. Er sucht Halt an der Leine, aber sein Samenknoten zieht ihn hinunter. Ein zweiter hat die Leine verfehlt und schwebt ins Dunkel. Ein dritter sieht aus, als würde er tanzen auf dem Seil oder tastend seine Schritte setzen. Ganz im Licht reckt er seine Fäden in die Höhe, als wollte er das Gleichgewicht halten.
Der vierte wird gehalten von einer groben Wäscheklammer. So gehalten, richtet er sich auf, der Lebensspeicher, und er entfaltet sich in diesem Halt zu voller Schönheit!
Manchmal ist das Leben leicht, so dass ich fast tanzend Halt finde und ohne jede Vorsicht meine Schritte setzen darf. Manchmal allerdings wirbelt es mich durcheinander, dieses Leben. Manchmal ist es finster: wenn Pläne sich zerschlagen, wenn Abschiede angesagt sind. Manchmal bin ich wie ein Faden im Wind, getrieben, wohin ich nicht will und weiß.
Vielen fehlt es an Halt und Sicherheit. Das soziale Netz wird brüchig und immer mehr Menschen haben damit zu tun, ihrem Leben eine Linie zu geben. Wenn wir in die vielen Krisengebiete dieser Welt sehen: da ist die Linie des Lebens für viele verloren gegangen, die Leine gerissen, das Seil der Sicherheit – es hält nicht. Seit Monaten folgt eine Krisenmeldung nach der anderen: Finanzkrise – Wirtschaftskrise – Vertrauenskrise: das System der freien Kräfte des Marktes ist gerissen, die Leine hat nicht gehalten, was ihr angehängt worden war. Abgestürzt und ins Taumeln geraten sind die Werte, die wir angehäuft, an die wir uns geklammert haben. Abgestürzt nicht nur der Börsenkurs, sondern ein ganzes Werte- und Lebenssystem.
Der ganze Reichtum dieser Welt ist kein tragfähiges Band für alle Menschen: Hunger und Armut, Ungerechtigkeit und der Kampf um die Schätze der Erde schreien zum Himmel.
Man muss nicht weit suchen, auch hier bei uns gibt es Menschen, die das Gefühl haben, sie hätten den Faden ihres Lebens verloren – weil ein lieber Mensch plötzlich krank geworden ist, weil Abschied zu nehmen war in diesem Jahr von lieben Menschen, weil Pläne sich zerschlugen.
„Fürchtet euch nicht! Denn siehe: ich verkündige euch große Freude!“ – Das ruft der Engel in der Nacht den Hirten zu, den elenden Gestalten, die jeden Grund zur Hoffnung und jede Aussicht auf Halt hatten fahren lassen; deren Gaben und Lebenssinn abgestürzt waren; deren Lebens-Dax im Keller war. Fürchtet euch nicht – große Freude! – Das hören wir heute. Und in welch krassem Gegensatz gerät diese weihnachtliche Verheißung zu all den Krisen- und Horrormeldungen dieser Tage und Wochen!
Fürchtet euch nicht, sagt der Engel, ich verkündige euch Freude, große Freude für alle! Für die Abstürzenden und die, die mithalten können. Das ist nicht das Pfeifen im Keller, liebe Gemeinde, nicht beschönigendes „Schwamm drüber“. Auch nicht: vergiss für ein paar Tage die Sorgen. Diese nächtliche Verheißung hat umstürzlerische Kraft: Fürchtet euch nicht – auch nicht vor eurer Furcht! Steht zu den dunklen Seiten, zeigt sie, eure Furcht und eure Wut. Weihnachten: da gibt es etwas, das hält, wenn sonst alle Stränge reißen!
Weil die Hirten damals in ihren dunklen Löchern der Seele nicht hocken blieben; weil sie sich von dieser ganz und gar unrealistischen und verqueren Botschaft haben treffen lassen, auf die Beine haben bringen lassen – darum haben sie mitten in der Nacht, die immer noch Nacht war; mitten in all den furchtbaren Furcht-Gründen das Licht entdeckt, die Wärme entdeckt, die Liebe. Sie haben gehört: das Unmögliche wird möglich bei Gott. Und bei uns. Und sie haben gemerkt: das, was mich so fürchterlich ängstigt, ist nicht alles, ist nicht das Ende. Mir ist immer noch zugetraut, was die Engel sagen: geht hin und findet!
Das kann, wenn wir es denn hören wollen, uns aufrichten, heraus rufen diese Welt aus der Unsicherheit und Fragwürdigkeit. Das ist genau die Meldung, die wir brauchen, die wir ersehenen: Euch ist heute der Heiland geboren: es gibt noch etwas, das ist mehr, als wir wissen, verstehen und können. Es gibt einen, der kann heil machen, was zerbrochen ist. Uns ist etwas geschenkt – nicht nur alles genommen. Es gibt des Lebens Fülle angesichts all der Abbrüche und Einbrüche. Und: es gibt noch ein anderes Dunkel, wirkliche Finsternis in dieser Welt, die uns braucht als Leute, die aufstehen, die nicht versinken in Sorgenlöchern, sondern immer neu anfangen. Es gibt Werte, die in dieser Nacht geboren werden, die höher sind als alle gehandelten Werte aus Gold und deren Währung Bestand hat: Gottes Liebe, die Zartheit des Lebens, Licht in der Nacht. Halt in allem Taumel! Friede angesichts allen Hasses.
Als Gott „…in tiefster Nacht erschienen…“, da hat er seine Lebenslinie neu in diese Welt gesetzt! Und den Faden, den wir verloren hatten, gibt er uns neu in die Hand, damit wir nicht irren in den Wirren der Tage. Sein Licht leuchtet, und die Dunkelheit reißt auf und er spannt seinen Halt in diese Welt hinein.
Mit seinem Sohn Jesus Christus gibt Gott dieser Welt die Linie vor: das Band der Liebe, der Barmherzigkeit und der Gnade. Das Band des Friedens und der Gerechtigkeit. Er legt den Faden, dem wir folgen dürfen: einen Lebensfaden. An Jesu Weg von der Krippe bis ans Kreuz und über das Grab hinaus wird sichtbar, wie Gott es meint mit dieser Welt und mit uns. Wir schweben nicht haltlos durch das Dunkel, sondern dürfen wissen, woran wir uns halten können, woran wir uns aufrichten können, wenn wir einknicken und woran wir uns neu entzünden können, wenn zu erlöschen droht das Feuer des Glaubens und der Hoffnung.
Eine grobe, hölzerne Wäscheklammer hält einen einzelnen Samenfaden an der Lebensleine. Gott kommt nicht als Herrscher, nicht in Hermelin und Gold. Seine Werkzeuge sind schlicht, einfach, alltäglich – aber verlässlich.
Wie eine Wäscheklammer einfach festhält, an der Leine hält. Sie dient dazu, zu halten, was vom Wind bewegt und erfasst wird. Seit Generationen tut sie ihren Dienst, muss und kann nicht neu erfunden werden. Sie ist ein Gerät aus vergangenen Zeiten. So wie die Geschichte der Weihnacht uralt ist. Und mancher sagt, dieser Jesus hat seine Blütezeit gehabt. Und dennoch wohnt in seiner Lebensgeschichte die ganze Fülle der Lebenskraft, der Hoffnung, des Heils – wie in einem Samenfaden, der, fällt er in den Boden, Leben neu entfaltet – alt und immer neu; vertraut und überraschend zugleich. Die Klammer, die den Samenfaden hält, leuchtet rötlich: rot ist die Farbe des Lebens, des Feuers, der Liebe. Rot ist auch die Farbe der Macht. Gott bemächtigt sich unsers Lebens mit der Klammer der Liebe. Er hört zu, er redet, er tut; er widerspricht, er tröstet, er schätzt wert, er weist zurecht und lobt. Und so hält er das Leben fest in noch so starkem Wind. Und die ihn kennen lernen – sie sind Feuer und Flamme. Und die sagen nicht mehr: man kann ja doch nichts machen, sondern die entdecken die Macht, die in den Schwachen mächtig ist. Die stehen auf gegen Ungerechtigkeit und Unfrieden. Die sagen Nein zu Fremdenhass und Vertreibung, Mord und Machtdurst; zu Gier und Leben auf Kosten anderer.
Weihnachten setzt Gott seine Lebenslinie neu in diese Welt – unübersehbar, haltbar und verlässlich. Wer sich von ihm halten lässt, der wird nicht fallen.
Nach dem ersten Schreck da draußen auf dem Feld stehen die Hirten auf, laufen zum Stall und finden, was verheißen ist – real, keine optische Täuschung. Und von dort gehen sie wieder weg, wieder in die dunkle Nacht – aber diesmal anders: aufrecht, mit lauter Stimme erzählen sie, was sie gesehen hatten: Gott gibt den Menschen an Weihnachten ihre Würde zurück, die sie aus den Augen verloren hatten, ihre unantastbare Würde! Sie erleben: in den ausgeblühten, scheinbar zu nichts mehr zu gebrauchenden Resten des Lebens wächst neue Lebenskraft, wie aus einem Löwenzahnsamen. Und sie sind zum Vorbild geworden für Menschen auf der Suche nach dem Lebensfaden, der wirklich hält; für den Mut, sich nicht zufrieden zu geben mit dem, was immer schon so war und was doch nicht zu ändern ist; und ein Vorbild sind sie für die, die erzählen von Gott, der sein Licht sendet, damit wir das Lebensband nicht verfehlen!
Wenn wir uns aneinander und an dem Fest freuen dieser Tage, dann spüren wir die Kraft des Lebens bei uns, die Gott uns schenkt. Weihnachten ist Gottes Geschenk an uns, seine Vision des Friedens und der Liebe: ein echter Renner, dieses Geschenk, mit einer Speicherkapazität größer als jede DVD.
„Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll: euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr!“ Amen.