Aufbruch durch das Wort – Johannes Bugenhagen und seine Pommern

Predigt zu Römer 10, 9-17 Greifswald im Festgottesdienst der Pommerschen Evangelischen Kirche anlässlich der 450. Wiederkehr des Todesjahres von Johannes Bugenhagen im Jahre 2008

14. September 2008 von Hans-Jürgen Abromeit

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

Liebe Festgemeinde!

Wir gedenken heute an Johannes Bugenhagen, den „groben Pommer“, wie Philipp Melanchthon schon einmal sagen konnte, wenn dieser ihm nicht feinfühlig genug argumentierte. Neben Martin Luther, dem Mann des genialen religiösen Gedankens, und Melanchthon, den systematischen Denker, tritt mit Bugenhagen der Pastor und Gestalter. Dadurch werden Seele und Geist Leib. Vielleicht war der bodenständige Pommer dafür wie geschaffen. Ihm war jedenfalls immer die leibliche, sinnliche Seite wichtig. Was nützt der ganze Aufbruch der Kirche, wenn er nicht zu einer neuen Gestalt führt?
Der dänische König Christian III. schätzte Bugenhagen als einen ihm unverzichtbaren Gestalter und konnte ihn doch ironisch und zugleich liebevoll einen „alten Pommern und Speckesser“ nennen, weil er auf der Lieferung einmal zugesagter Speckseiten bestand. Ja, Johannes Bugenhagen war Pommer - so selbstbewusst und selbstverständlich, dass er bei jeder Unterschrift und bei jedem Buchtitel dazu setzte: „Pomer“ – „Johannes Bugenhagen, Pomer“. Exakt die Hälfte seines 72- jährigen Lebens hat er in Pommern verbracht. Er hat Pommern geliebt und Nordeuropa der Reformation zugeführt.
Der Freund und Mitarbeiter Martin Luthers kam nicht nur aus Pommern und hatte hier in Greifswald studiert, er schrieb 1auch die erste pommersche Geschichte - eben die „Pomerania“. Aber es ist der gleiche Bugenhagen, der das Wort Gottes neu entdeckt, Vorlesungen über biblische Bücher hält, so Menschen sammelt und die reformatorische Bewegung für Pommern vorbereitete, die dann erhebliche Erneuerungsimpulse in Pommern und darüber hinaus auslöste.
Bei Bugenhagen wird das Wort Gestalt, nimmt die Botschaft konkrete Formen an. Er ordnet die Kirche durch das Wort Gottes.

Dabei hatte sich Bugenhagen nicht selbst zum Reformator aufgeschwungen. Er hatte lediglich das Wort Gottes, die Bibel, ernst genommen. Dieses Wort hatte sein Leben verändert. Im Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber war er zum Diener am Wort geworden. Dieses Wort, die Wahrheit, sollte alle Welt hören. Aus dem Wort Gottes heraus sollten Kirche und Gesellschaft neu geordnet werden. Im Leben Johannes Bugenhagens hat sich gezeigt, dass im Wort Gottes eine Kraft liegt, die Menschenleben und Gesellschaften verändern kann.

Über Bugenhagens Leben und Werk kann das Wort aus der heutigen Epistel gelten: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ Während Luther in seiner Übersetzung vom Predigen spricht, heißt es in Römer 10, 17 wörtlich: „So kommt der Glaube aus dem Hören, das Hören aber durch das Wort Christi.“

Das Wort Christi meldet sich mittels menschlicher Verkündigung zu Wort und bewirkt Glaube, den Glauben, auf den es dem Apostel Paulus und den Reformatoren ankommt. In soweit ist das Leben Johannes Bugenhagens eine einzige Illustration des Predigttextes. Der Glaube an Jesus Christus hat sich in seinem Leben als tragende Kraft erwiesen. Dieser Glaube ist – nach Paulus und Bugenhagen – erstens eine persönliche Sache, aber immer an die Schrift gebunden, er ist zweitens Glaube an Jesus Christus und will drittens allem Volk verkündigt werden.

1. Glaube ist persönlich, aber immer auf die Bibel bezogen

Nie hatte Johannes Bugenhagen die Religion nur zum Broterwerb betrieben. Als er 19jährig die Leitung der Stadtschule in Treptow an der Rega übernahm, war der junge Bugenhagen auf der Suche nach einem tragfähigen Fundament für sein Leben. Dabei fing er an, die Bibel zu lesen und auszulegen. Es war ungewöhnlich, die Auslegung biblischer Bücher in das Lehrprogramm an der Lateinschule aufzunehmen. Er wird ab 1517 auch zum Lektor im Kloster Belbuck (bei Treptow) ernannt und sammelt einen Kreis von Theologen und Bürgern um sich, die sich nach einem Aufbruch der Kirche sehnen.
Da geschieht etwas, was sein ganzes Leben verändert. Etwa Ende Oktober 1520, bei einem Abendessen im Hause des Treptower Pfarrers an der Marienkirche, Otto Slutow, lässt dieser die lateinisch abgefasste Schrift Luthers „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ kursieren. Nach einem flüchtigen Blick bezeichnet Bugenhagen diese als böse Irrlehre und ihren Verfasser als den allerschlimmsten Ketzer, der jemals aufgetreten ist. Trotzdem hat dies Buch sein Interesse geweckt und er nimmt es mit nach Hause, um es sorgsam zu studieren. Einige Tage später überrascht er seine Kollegen mit dem Urteil: „Was soll ich euch viel sagen? Die ganze Welt ist verblendet und in die äußerste Finsternis verstrickt. Nur dieser Mann sieht allein die rechte Wahrheit.“2

Dieses Ereignis kann als reformatorische Wende im Leben des Johannes Bugenhagen bezeichnet werden. In diesem Buch kritisiert Luther die Lehren der Kirche seiner Zeit, die Nebensächliches betont und die Bibel vergisst. Luther entdeckt aufs neue: Der Glaube ruht allein auf Jesus Christus selbst, der den Menschen im Wort und den drei Sakramenten Taufe, Buße und Abendmahl begegnet. In dieser Begegnung mit Jesus Christus ist die Freiheit der Menschen von Menschen begründet. Rom aber hat Kirche und Menschen in eine „babylonische Gefangenschaft“ geführt. Daraus müssen sie wieder befreit werden.

Bugenhagen ist fasziniert. Luthers Ausführungen lassen ihn mit einem Mal erkennen, dass der Glaube eine ganz persönliche Angelegenheit ist. Gleichzeitig bedeutet er aber nicht nur die Befreiung des religiösen Individuums, sondern auch die Begründung echter kirchlicher Gemeinschaft, begründet nicht auf menschlicher Macht, sondern auf gemeinsamer Überzeugung durch das Wort Gottes. Diese Freiheit und diese Gemeinschaft will er nun noch besser kennen lernen. Deswegen schreibt er Martin Luther. Luther antwortet ihm umgehend und schickt ihm die gerade veröffentlichte Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: „Du hast mir geschrieben, dass ich dir eine Lebensregel schreiben solle. Ein wahrer Christ bedarf nicht der Sittenregeln; denn der Geist des Glaubens leitet ihn zu allem, was Gott will und die christliche Liebe fordert. Lies also dies. Nicht alle glauben dem Evangelium. Der Glaube wird im Herzen gefühlt.“3

Dieser Glaube an Gott schafft eine Geborgenheit und vermittelt eine Orientierung, die wir zum Leben brauchen. Hier muss nicht mehr lange überlegt werden, was geboten ist, sondern die Liebe zu seinen Mitmenschen ist selbstverständliche Konsequenz des Glaubens an Jesus Christus. Wer die Liebe Gottes erfahren hat, „kann nicht lassen, es muss herausbrechen und dienen seinen notdürftigen Nächsten in Leibes- oder der Seelennotdurft mit Worten, Lehren, Trösten, Essen, Trinken, Bekleiden, Geld, Gut und so es Not ist auch mit Leib und Leben.“ So wird es Bugenhagen wenig später an „Frau Anna, geborene Herzogin von Stettin in Pommern“ schreiben. Weil Gott seine Menschen liebt, soll Liebe auch das Miteinander der Menschen bestimmen.

Wie wenig selbstverständlich bis heute der Glaube an Gott und die daraus sich von selbst entwickelnde Aufmerksamkeit für die Mitmenschen ist, zeigen die Bilder einer Überwachungskamera im Wartezimmer einer Klinik in New York, die vor drei Monaten um die Welt gingen. Eine Frau stirbt und die Welt schaut zu. Keiner hilft. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist so mit sich selbst beschäftigt, dass er einfach nicht mehr wahrnimmt, was mit den Menschen um ihn herum vorgeht. Der christliche Glaube macht sensibel für die Menschen unserer Umgebung und lehrt uns, achtsam und liebevoll mit ihnen umzugehen. Diesen schlichten persönlichen, biblischen Glauben hat Bugenhagen mit Hilfe Martin Luthers wiederentdeckt und er hat dazu aufgefordert, Anteil zu nehmen am Schicksal der Mitmenschen. Seine Vorschläge zur Gestaltung der Armenfürsorge sind Vorbild geworden für die spätere Entwicklung der Diakonie.

2. Glaube ist Beziehung zu Jesus Christus

Glaube ist nicht nur ein Ahnen nach Gott, sondern Ausdruck einer geklärten Beziehung. Diese Klarheit gewinnt der Mensch nur, wenn er wahrnimmt, wie Gott selbst sich in Jesus Christus gezeigt hat. Zeit seines Lebens hat Bugenhagen immer wieder die Evangelien gelesen, ihre Geschichten miteinander verglichen und die z. T. unterschiedlichen Darstellungen zu harmonisieren versucht. Es war sein Bestreben, zu einer möglichst eindeutigen Anschauung von Leben und Lehre Jesu Christi zu kommen. Deutlicher als in Jesus Christus ist Gott an keiner Stelle geworden. Jahrzehntelang hat sich Bugenhagen deswegen mit der Vervollkommnung einer Passions- und Auferstehungsharmonie befasst, damit gerade dieser Kernabschnitt im Leben Jesu einem jeden Glaubenden deutlich vor Augen steht. Er war zutiefst gerührt von dem, was Jesus Christus für einen jeden Menschen getan hat. Vielleicht kann man sagen, dass jemand, der die Erschütterung durch das, was Jesus Christus für uns, für einen jeden von uns, getan hat, noch nicht empfunden hat, zur Tiefe eines persönlichen Glaubens noch nicht durchgedrungen ist. Er hat noch nicht – mit Martin Luther gesagt – den Glauben „im Herzen gefühlt“.

Nun sage keiner, das Erschrecken über das Sterben Jesu für uns sei dem modernen Menschen nicht mehr möglich. Der nicht gerade als religiös geltende Schauspieler Ben Becker zieht z. Zt. mit einer mehrstündigen Inszenierung biblischer Texte durch das Land. Mehrfach sind ihm dabei beim Lesen der Kreuzigungsgeschichte die Tränen gekommen. Eine freche Journalistin fragte ihn: „Sind Ihre Tränen integraler Bestandteil der Show?“ Darauf Becker: „Das ist doch auch überwältigend, wenn man weiß, dass dieser Mann für jeden von uns an dieses beschissene Kreuz genagelt wurde. Wenn ich das lese, denke ich daran, was heute an Grausamkeiten in der Welt passiert.“ Deswegen sei Christus sein „Freund“ geworden.4

Was der Schauspieler Ben Becker erfahren hat, das möchte Bugenhagen durch die Auslegung der Evangelien ebenfalls vermitteln: Der Tod Jesu Christi ist nicht lediglich ein Justizmord, wie er leider in der Weltgeschichte immer wieder vorgekommen ist, sondern ein Ereignis, das „für uns“ geschehen ist. Durch das Sterben Jesu Christi und seine Auferstehung zeigt uns Gott seine bedingungslose Liebe zu uns Menschen. Daraus folgt ein 3.

3. Die Liebe Gottes muss allem Volk verkündet werden.

Hier berührt sich Bugenhagens Lebenswerk mit der Botschaft des Apostels Paulus. „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen Sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden?“ (Röm. 10,14 f) Von Bugenhagen ist zu lernen, dass jede Gestaltung und Veränderung kirchlicher Strukturen die einzige Aufgabe hat, die Verkündigung des Evangeliums zu befördern. Deswegen braucht es Evangelisten. „Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen (Evangelisten)!“ (Röm. 10, 15).
In der Auslegung zum 1. Korintherbrief, Kapitel 12, wird Bugenhagen später ausführen: „Evangelisten sind nicht nur, wie man … annimmt, die Verfasser der vier Evangelien …, sondern bei Paulus heißen diejenigen Evangelisten, die nicht wie die Hirten, Pastores, nur an einem Orte arbeiten …, sondern an bestimmte Orte geschickt werden, das Evangelium predigen und durch die Gabe des Geistes mächtig sind, den Artikel von der Rechtfertigung und Vergebung der Sünden zu verteidigen wider den Satan und falsche Apostel, Werkgerechte und Philosophen oder Vernunftweise. … Solche Evangelisten … bedarf die Kirche, wenn es nicht endlich dahin kommen soll, dass philosophische, menschliche Träumereien für das Evangelium gehalten werden.“5

Wenn Bugenhagen selbst nun immer wieder seine pastorale und bischöfliche Tätigkeit in Wittenberg unterbricht und in verschiedene Orte und Länder gerufen wird, so hat er diese Tätigkeit selbst als solchen Evangelistendienst verstanden. Er hat sich nicht etwa auf das Anordnen und Organisieren, Verwalten und Gestalten beschränkt, sondern überall, wo er zu Hilfe gerufen worden ist, um dem Evangelium Raum zu schaffen, hat er damit begonnen, zu predigen und zu lehren.

Vielen fällt es heute schwer zu begreifen, was im echten lutherischen Sinn Kirchenleitung bedeutet. In erster Linie ist Kirchenleitung Verkündigung des Evangeliums und erst davon abgeleitet auch Entscheiden und Beschließen, Organisieren und Managen. Kirchenleitung geschieht durch Verkündigung des Evangeliums und die Feier des Gottesdienstes. Hier schlägt das Herz der Kirche. Verkündigung des Evangeliums ist zu allen Zeiten zu allen Menschen die Grundaufgabe der Kirche. Darum sollten wir, wenn wir im Sinne Martin Luthers und Johannes Bugenhagens evangelischlutherische Kirche sein wollen, als Zielgruppe unserer Verkündigung alle Menschen in unseren Kirchengebieten im Blick haben.

In einer Zeit, in der in unserer Region nur 23% der Bevölkerung sich dem christlichen Glauben zugewandt haben und zu einer Kirche gehören, ist dies eine große Herausforderung. In einem Grundsatzpapier hat deswegen unsere Pommersche Evangelische Kirche beschlossen, wir wollen „möglichst vielen Menschen ermöglichen, mit dem Evangelium von Jesus Christus (neu) in Berührung zu kommen“. Wir haben uns konkret vorgenommen, „den Anteil der Mitglieder der Pommerschen Evangelischen Kirche an der Gesamtbevölkerungszahl [zu] stabilisieren und mittelfristig [zu] erhöhen und in diesem Sinn wachsende Kirche [zu] werden.“ 6
Eine Unterstützung für unsere Arbeit kann es dabei sein, wenn ein großer Teil der durch Bugenhagen der Reformation zugeführten Kirchen in Norddeutschland in Zukunft sich auch in einer Landeskirche vereinen werden. Hatte Bugenhagen sich noch in Hamburg und Lübeck, in Schleswig und Holstein und in Pommern je getrennt für die Durchsetzung der Reformation einsetzen müssen, so wird es wohl bald so sein, dass diese Kirchen, die alle durch eine gemeinsame norddeutsche Geschichte geprägt sind, demnächst zusammengeführt werden. Aber wie auch immer, wir danken es unserm Reformator Johannes Bugenhagen „Pomer“, dass er die Kirche von manchen Verirrungen durch die Predigt des Wortes Gottes erneuert hat. Er hat den Glauben wieder an die erste Stelle in der Kirche gesetzt. Dieser Glaube ist zuerst und zuletzt Glaube an Jesus Christus. Wir wollen unsere Aufgabe auf uns nehmen und ihn nach Kräften allem Volk in unserer Region verkündigen, damit die Liebe bleibt und die Hoffnung wächst. Amen.

Und der Friede Gottes, der all unser Denken übersteigt, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

 

1 Vgl. H.-G. Leder, Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie,
hg. v. V. Gummelt (Greifswalder Theologische Forschungen Bd. 4) Frankfurt 2002, 414.
2 Zitiert nach Davidis Chytraei, Newe Sachssen Chronica; zitiert nach: H.-G. Leder, Johannes Bugenhagen Pomeranus
– Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie, hg. v. V. Gummelt (Greifswalder Theologische
Forschungen Bd. 4) Frankfurt 2002, 160.
3 Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und ausgewählte Schriften, hg. v. K. A. T. Vogt, Elberfeld 1867, 30.
4 Die Welt, 19.7.2008.
5 Zitiert nach: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Leben und ausgewählte Schriften, hg. v. K. A. T. Vogt, Elberfeld
1867, 268 f.
6 Leben in Gottes Gegenwart. Perspektiven für die Pommersche Evangelische Kirche. Ergebnisse des Leitbildprozesses
von 2002 bis 2005, hg. v. d. Pommerschen Evangelischen Kirche, Greifswald 2006, 36.

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