Predigt zum 27. Evangelischen Kirchbautag in Rostock am 23. Juni 2011, 17 Uhr, St. Marien
23. Juni 2011
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde!
„Kirchenraum – Freiraum – Hoffnungsraum. Orientierung im demografischen Wandel“: Wie hören wir das Thema des 27.Evangelische Kirchenbautags im Resonanzraum zweier alter Tempeltexte?
Jahrhunderte vor der Zeitenwende: Noch immer liegt der von den Babyloniern zerstörte Jerusalemer Tempel wüst. Inzwischen aber herrschen die Perser. Das Volk Israel ist allmählich aus dem babylonischen Exil zurückgekehrt. Die Depression jedoch ist geblieben. Das Land erholt sich nicht. Da tritt Haggai auf, ein Prophet, und stellt einen Zusammenhang her zwischen dem fehlenden Tempel und dem ausbleibenden Aufschwung. Haggai ist überzeugt: Das Land bleibt ohne Segen, solange es keinen Tempel gibt. Es braucht die sakrale Mitte, den Ort, an dem Gott gegenwärtig ist, Vergebung schenkt, Orientierung gibt. Ohne den Tempel, ohne diese segenspendende Mitte wird das Volk keinen Bestand haben, wird hoffnungslos seine Identität verlieren.
„Templum“ – ursprünglich meinte dieses Wort kein Bauwerk, sondern einen abgegrenzten, ausgemessenen Bezirk am Himmel. Sterndeuter ältester Zeit und noch römische Auguren lasen ihre Deutungen aus diesem bestimmten Ausschnitt des nächtlichen Himmels. Sie suchten in ihrer Schau Einsicht zu gewinnen in die höhere, göttliche Ordnung, die ihnen Maß war für das, was auf Erden gelten sollte. Und weil es dort gelten sollte, grenzten sie auf der Erde einen entsprechenden Bezirk ab. „Tempel“ heißt denn auch „Beobachtungs-platz“, „Ort der Schau“, „Gesichtsfeld“. Erst danach wurde das Wort Ausdruck für ein Gebäude, in dem meditiert und gefeiert wurde, was zu vergegenwärtigen war – der Zusammenhang zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, die Zusammengehörigkeit von göttlicher und menschlicher Welt.
Haggai beharrt auf dem Bau des Tempels Denn es braucht die Schau der Ganzheit und der Sinnfülle, die Zusammenschau Gottes und des Menschen, mit einem Wort – es braucht „Kon-Templation“. Darum den Tempel!
Jahrhunderte später, Zeitenwende: Ein Wanderprediger aus Nazareth reinigt den Tempel. „Räuberhöhle statt Bethaus“ ist sein Vorwurf, mit dem er die Geschäftigen aus dem Tempel treibt, ohne die der Tempelbetrieb, das Opferwesen nicht funktionierte. Aber die das miterleben, wissen gar nicht, was sie für den größeren Skandal halten sollen – die Vertreibung der Händler und Geldwechsler oder das, was dann kommt: Lahme und Blinde, Außenseiter der damaligen Zeit, werden mitten im Tempel geheilt! Und als Kinder begeistert Jesus als Sohn Davids, als Messias feiern, schreitet der nicht ein, sondern lässt es geschehen.
Die Reinigung des Tempels ist mehr als eine prophetische Zeichenhandlung. Durch Christus wandelt sich etwas im Verständnis des heiligen Raumes: Der Tempel wird unübersehbar zum Ort der Solidarisierung Gottes mit den Außenseitern und „Kleinen“. Ohne priesterliche Vermittlung erfahren Menschen die Zuwendung Gottes. Menschen mit Behinderungen, die für den Dienst am Heiligen gar nicht in Frage gekommen waren, und unmündige Kinder gilt Gottes Aufmerksamkeit. Im sakralen Zentrum seines Volkes offenbart Gott, dass er von den Anderen her denkt, von denen her, die draußen oder am Rande sind. Die Zusammenschau Gottes und der Menschen hat ihren Fokus in Armen, Frauen, Kindern, Kranken. Ihnen zuallererst gilt Gottes Heil, sein Ruf in die Freiheit, ins Leben.
Was bedeutet diese Fokussierung für unseren Umgang mit kirchlichen Räumen und für deren Gestaltung?
Knapp zwei Jahrtausende später: Ein Theologe des Widerstands, Dietrich Bonhoeffer, hatte seiner Kirche ins Stammbuch geschrieben, sie müsse „Kirche für andere“ sein, wolle sie Kirche in der Nachfolge Jesu Christi bleiben. Zu Zeiten der DDR orientierte dieser theologische Ansatz evangelische Kirchen im Verhältnis zu einer sich zunehmend atheistisch verstehenden Umwelt. So erklärte Heinrich Rathke, einer meiner Vorgänger, vor der Bundessynode in Eisenach:
„Kirche bleibt nur darin Kirche, dass sie ganz für andere da ist. Dasein für andere spricht das ganze Wesen der Kirche aus. Es ist mehr als ein Attribut einer in sich selbst ruhenden Kirche, die nur unter gewissen Bedingungen für andere da zu sein hätte. . .
„Dasein für andere spricht das ganze Wesen der Kirche aus.“ Wer das ernst nimmt, wird unruhig werden angesichts der nach wie vor mancherorts anzutreffenden binnenkirchlichen Selbstgenügsamkeit. Und noch einmal: Was bedeutet diese Orientierung – „Kirche für andere“ – für Nutzung und Gestaltung kirchlicher Räume?
Gott sei Dank, wir müssen nicht alles erst auf den Weg bringen. Vieles ist in unseren durchbeteten Räumen und in deren Architektur lebendig. Erfahrungen verschiedenster Menschen mit Kirchenräumen lassen das deutlich werden. Ich denke zum Beispiel an eine Frau, die zu DDR-Zeiten als Pionierleiterin gearbeitet hatte. Zu Gott hatte sie keine Beziehung Ihre Eltern hatten sie ganz anders erzogen. Mit über 40 Jahren war sie dann noch einmal schwanger geworden. Die Ärzte machten sich Sorgen. Obwohl sie eigentlich nicht an Gott glaubte, kam die werdende Mutter immer wieder in die Kirche, zündete eine Kerze an und blieb eine Weile. Sie spürte: Hier in diesem Raum waren ihre Sorgen und Hoffnungen gut aufgehoben. Das Herz wurde leichter an diesem Ort. Man konnte sein, wie man ist – ohne Verstellung. Die Menschen am Eingang grüßten sie freundlich, aber behelligten sie nicht. Sie konnte kommen und gehen, ohne vereinnahmt zu werden.
Das Kind kam dann gesund zur Welt. Die glückliche Mutter ließ es taufen – aus Dankbarkeit gegen Gott, von dem ihr Verstand eigentlich immer noch nicht genau wusste, ob er das mit Gott für wahr halten sollte. Ihr Herz aber hatte schon Vertrauen gefasst. So entschied sie, ihr Kind solle es einfacher haben, die Welt religiöser Erfahrungen kennen zu lernen.
„Sein können, wie man ist“ – das strahlen Kirchen aus. Zugleich vermitteln sie: Man muss nicht bleiben, wie man ist. Veränderungen, neue Anfänge sind möglich – auch für Menschen ohne religiöse Sozialisation.
Eine andere Erfahrung kommt mir in den Sinn, die einer zwölfjährige Schülerin. Sie hat die Kirche, in der ich zuletzt Pastor war, so erlebt: „Wenn man hereinkommt, spürt man gleich diese Luft, diesen Geruch, diese Kühle… da bekommt man eine richtige Gänsehaut. Diese Kirche ist so riesig, dass man sich glatt in ihr verirren könnte. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, dass wir Menschen nur ein kleiner Bestandteil der Erde sind. Wenn man in der Kirche steht und nach oben guckt und diese Höhe sieht, bekommt man ein Gefühl von Freiheit und denkt, dass man fliegen kann.“
Nicht, dass wir Menschen klein wären, erkennt das Mädchen in dieser fremden, großen Kirche, sondern „dass wir Menschen nur ein kleiner Bestandteil dieser Erde sind!“ Durch diesen Kirchenraum erfährt sich das Mädchen der ganzen Erde verbunden – und doch in der Weite kein bisschen verloren. Nicht unterworfen, nicht als Objekt empfindet es sich; sondern da ist „ein Gefühl von Freiheit und man denkt, dass man fliegen kann.“
Freiheits- und Hoffnungsräume: Kirchen sind beredt – offenbar selbst dann noch, wenn sie baulich gefährdet sind. Ein beeindruckendes Phänomen begegnet uns besonders im Osten: Manche Kirchen können von den Kirchgemeinden nicht mehr erhalten werden. Oft aber entstehen Fördervereine, die dafür sorgen, dass die Kirche im Dorf bleibt. Auch Menschen ohne konfessionelle Bindung übernehmen Verantwortung. Offensichtlich spüren sie, dass mit der Kirche die innere Mitte des Ortes verloren ginge. So geschehen auch in einem kleinen Dorf in Ostmecklenburg – wenn’s hoch kommt noch zwölf Häuser, manche davon nur am Wochenende bewohnt. Viele aus der Region sind abgewandert. Die Kirchgemeinde musste andere Prioritäten setzen. Der Förderverein aber baute die Kirche wieder auf. Der Vorsitzende – ungetauft, aber hoch engagiert. Nun ist die Kirche fertig. Was aber soll in ihr geschehen? Konzerte, Ausstellungen, vielleicht auch – wenn es um Grundsätzliches geht – mal eine Einwohnerversammlung, zu besonderen Anlässen Gottesdienste. . .
Wie offen sind wir als Kirche, wenn „Andere“ kirchliche Räume für sich entdecken? Gewöhnlich wird gefragt: Was „darf“ in diesen Räumen sein? Diese Perspektive ist wichtig – hält sie doch den Gedanken wach, dass Kirchen der Beziehung zu Gott Raum geben sollen. Aber eine zweite Perspektive sollte hinzutreten mit der Frage: Was können wir mit den „Anderen“ in und durch unsere Kirchen neu entdecken? Ich bin überzeugt: Wir selbst werden etwas neu verstehen von Ganzheit und Sinnfülle, in der Zusammenschau Gottes und des Menschen – wenn wir uns einlassen auf die Sehnsucht der Menschen, die sich nicht als Christen verstehen. Unser Gesichtsfeld wird sich erweitern – auch im Blick auf Gott und sein Evangelium –, indem wir uns öffnen für das Gespräch mit den „Anderen“ über ihre und unsere Ideen. Achtsamkeit gegenüber Menschen, Räumen und gegenüber Gott soll uns dabei leiten.
Schwestern und Brüder, gerade diese Achtsamkeit wird uns nach Wegen suchen lassen, Gottes Solidarisierung mit den Schwachen und Außenseitern in Kirchen Raum zu geben. Manche Kirchgemeinden in Mecklenburg haben darum bewusst in ihren Kirchen einen „Mittagstisch für Leib und Seele“ eingerichtet. Andere verlegen ihre Gemeinderäume in die Kirche – nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus praktisch-theologischen Erwägungen. Besonders erfreulich ist es, wenn damit eine stärkere Hinwendung zu Menschen verbunden ist, die sich als Verlierer empfinden.
Manchmal fühlen sich auch Menschen so, die zurückbleiben in den Dörfern, aus denen die Jungen fortgezogen sind. Auch für ihre Beheimatung sind Kirchen wichtig. Denn Kirchen stehen nicht nur für das Bleibende in allem Wandel. Auch wenn es paradox klingen mag: Sie vermögen Heimat zu geben, gerade weil sie uns mit auf den Weg nehmen. Weil sie Mut dazu machen, wie Generationen vor uns die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Weil diese Räume trösten, weil man in ihnen aufatmen kann.
Unsere Gesellschaft tut gut daran, ihre Kirchen zu erhalten. Denn wo Kirchen verfallen, erodieren auch Dörfer. Mit Dörfern geht auch regionale Identität verloren. Die mecklenburgische Landeskirche hat sich daher entschieden, so weit wie möglich in der Fläche präsent zu bleiben. Mit Personal und Kirchgebäuden wollen wir bei den Menschen bleiben und geben dafür sogar unsere Selbständigkeit als Landeskirche auf. Wir tun dies nicht leichten Herzens, aber in der Hoffnung, so der Orientierung Gottes zu entsprechen. Um es noch einmal mit Worten Heinrich Rathkes zu sagen:„Kirche, die ganz für andere da ist, findet zu sich selbst“. Und ich setze hinzu: Kirche, die gewillt ist, mit den „Anderen“ ihre Kirchen und das Evangelium neu entdecken will, wird verstehen, wozu uns Gott heute ruft. Amen.