Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn, Schwerin

Predigt zum 27. Evangelischen Kirchbautag in Rostock am 23. Juni 2011, 17 Uhr, St. Marien

23. Juni 2011 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

„Kirchenraum  – Freiraum  – Hoffnungsraum. Orientierung im demografischen  Wandel“: Wie hören wir das Thema des 27.Evangelische Kirchenbautags im  Resonanzraum zweier alter Tempeltexte?

Jahrhunderte vor der Zeitenwende: Noch immer liegt der von den Babyloniern  zerstörte Jerusalemer Tempel wüst. Inzwischen aber herrschen die Perser. Das  Volk Israel ist allmählich aus dem babylonischen Exil zurückgekehrt. Die  Depression jedoch ist geblieben. Das Land erholt sich nicht. Da tritt Haggai auf,  ein Prophet, und stellt einen Zusammenhang her zwischen dem fehlenden Tempel  und dem ausbleibenden Aufschwung. Haggai ist überzeugt: Das Land bleibt ohne  Segen, solange es keinen Tempel gibt. Es braucht  die sakrale Mitte, den Ort, an  dem Gott gegenwärtig ist, Vergebung schenkt, Orientierung gibt. Ohne den  Tempel, ohne diese segenspendende Mitte wird das Volk keinen Bestand haben,  wird hoffnungslos seine Identität verlieren.   

„Templum“  – ursprünglich meinte dieses Wort kein  Bauwerk, sondern einen  abgegrenzten,  ausgemessenen Bezirk am Himmel. Sterndeuter ältester Zeit und noch römische Auguren lasen ihre Deutungen aus diesem bestimmten Ausschnitt  des nächtlichen Himmels. Sie suchten in ihrer Schau Einsicht zu gewinnen in die  höhere, göttliche Ordnung, die ihnen Maß war für das, was auf Erden gelten sollte.  Und weil es dort gelten sollte, grenzten sie auf der Erde einen entsprechenden  Bezirk ab. „Tempel“ heißt denn auch „Beobachtungs-platz“, „Ort der Schau“,  „Gesichtsfeld“. Erst danach wurde das Wort Ausdruck für ein Gebäude, in dem  meditiert und gefeiert wurde, was zu vergegenwärtigen war – der Zusammenhang  zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde, die Zusammengehörigkeit  von göttlicher und menschlicher Welt.

Haggai beharrt auf dem Bau des Tempels Denn es braucht die Schau der Ganzheit  und der Sinnfülle, die Zusammenschau Gottes und des Menschen, mit einem Wort  – es braucht „Kon-Templation“. Darum den Tempel! 

Jahrhunderte später, Zeitenwende: Ein Wanderprediger aus Nazareth reinigt den  Tempel. „Räuberhöhle statt Bethaus“ ist sein Vorwurf, mit dem er die Geschäftigen aus dem Tempel treibt, ohne die der Tempelbetrieb, das Opferwesen  nicht funktionierte. Aber die das  miterleben, wissen gar nicht, was sie für den größeren Skandal halten sollen – die Vertreibung der Händler und Geldwechsler  oder das, was dann kommt: Lahme und Blinde, Außenseiter der damaligen Zeit,  werden mitten im Tempel geheilt! Und als Kinder  begeistert  Jesus als Sohn  Davids, als Messias feiern, schreitet der nicht ein, sondern lässt es geschehen.

Die Reinigung des Tempels ist mehr als eine  prophetische  Zeichenhandlung.  Durch Christus wandelt sich  etwas im Verständnis des heiligen Raumes: Der  Tempel wird  unübersehbar  zum Ort der Solidarisierung Gottes mit den  Außenseitern und „Kleinen“.  Ohne priesterliche Vermittlung erfahren Menschen  die Zuwendung Gottes. Menschen mit Behinderungen, die für den Dienst am  Heiligen gar nicht in Frage gekommen waren, und unmündige Kinder gilt Gottes  Aufmerksamkeit. Im sakralen Zentrum seines Volkes offenbart Gott, dass er von  den Anderen her denkt,  von  denen her,  die draußen oder am Rande sind.  Die  Zusammenschau Gottes und der Menschen hat ihren Fokus in Armen, Frauen,  Kindern, Kranken. Ihnen zuallererst gilt Gottes Heil, sein Ruf in die Freiheit, ins  Leben.

Was bedeutet diese Fokussierung  für unseren Umgang mit kirchlichen Räumen  und für deren Gestaltung?

Knapp zwei Jahrtausende später: Ein Theologe des Widerstands, Dietrich  Bonhoeffer, hatte seiner Kirche ins Stammbuch geschrieben, sie müsse „Kirche für  andere“ sein, wolle sie Kirche in der Nachfolge Jesu Christi bleiben. Zu Zeiten der  DDR orientierte dieser theologische Ansatz evangelische Kirchen im Verhältnis zu einer sich zunehmend atheistisch verstehenden Umwelt.  So erklärte Heinrich  Rathke, einer meiner Vorgänger, vor der Bundessynode in Eisenach: 

„Kirche bleibt nur darin Kirche, dass sie ganz für andere da ist. Dasein für andere  spricht das ganze Wesen der Kirche aus. Es ist mehr als ein Attribut einer in sich  selbst ruhenden Kirche, die nur unter gewissen Bedingungen für andere da zu sein  hätte. . .

„Dasein für andere spricht das ganze Wesen der Kirche aus.“  Wer das ernst  nimmt, wird unruhig werden angesichts der nach wie vor mancherorts  anzutreffenden binnenkirchlichen Selbstgenügsamkeit. Und noch einmal: Was  bedeutet diese Orientierung – „Kirche für andere“ – für Nutzung und Gestaltung  kirchlicher Räume?

Gott sei Dank, wir müssen nicht alles erst auf den Weg bringen. Vieles ist in  unseren  durchbeteten Räumen und in deren Architektur lebendig.  Erfahrungen  verschiedenster Menschen mit Kirchenräumen lassen das deutlich werden.    Ich  denke zum Beispiel an eine Frau, die zu DDR-Zeiten als Pionierleiterin gearbeitet  hatte. Zu Gott hatte sie keine Beziehung  Ihre Eltern hatten sie ganz anders  erzogen. Mit über 40 Jahren war sie dann noch einmal schwanger geworden. Die  Ärzte machten sich Sorgen. Obwohl sie eigentlich nicht an Gott glaubte, kam die werdende Mutter immer wieder in die Kirche, zündete eine Kerze an und blieb  eine Weile. Sie spürte: Hier in diesem Raum waren ihre Sorgen und Hoffnungen  gut aufgehoben. Das Herz wurde leichter an diesem Ort. Man konnte sein, wie man  ist – ohne Verstellung.  Die Menschen am Eingang grüßten sie freundlich, aber  behelligten sie nicht. Sie konnte kommen und gehen, ohne vereinnahmt zu werden. 

Das Kind kam dann gesund zur Welt. Die glückliche Mutter ließ es taufen  – aus  Dankbarkeit gegen Gott, von dem ihr Verstand eigentlich immer noch nicht genau  wusste, ob er das mit Gott für wahr halten sollte. Ihr Herz aber hatte schon  Vertrauen gefasst. So entschied sie, ihr  Kind solle es einfacher haben, die Welt  religiöser Erfahrungen kennen zu lernen.

„Sein können, wie man ist“ – das strahlen Kirchen aus. Zugleich vermitteln sie:  Man muss nicht bleiben, wie man ist. Veränderungen, neue Anfänge sind möglich  – auch für Menschen ohne religiöse Sozialisation.

Eine andere Erfahrung kommt mir in den Sinn, die einer zwölfjährige Schülerin.  Sie hat die Kirche, in der ich zuletzt Pastor war, so erlebt:  „Wenn man  hereinkommt, spürt man gleich diese Luft, diesen Geruch, diese Kühle… da  bekommt man eine richtige Gänsehaut. Diese Kirche ist so riesig, dass man sich  glatt in ihr verirren könnte. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, dass wir  Menschen nur ein kleiner Bestandteil der Erde sind. Wenn man in der Kirche steht  und nach oben guckt und diese Höhe sieht, bekommt man ein Gefühl von Freiheit  und denkt, dass man fliegen kann.“

Nicht, dass wir Menschen klein wären, erkennt das Mädchen in dieser fremden,  großen Kirche, sondern  „dass wir Menschen nur ein kleiner Bestandteil dieser  Erde sind!“ Durch diesen Kirchenraum erfährt sich das Mädchen der ganzen Erde  verbunden  – und doch in der Weite kein bisschen verloren. Nicht unterworfen,  nicht als Objekt empfindet es sich; sondern da ist  „ein Gefühl von Freiheit und  man denkt, dass man fliegen kann.“

Freiheits- und Hoffnungsräume: Kirchen sind beredt – offenbar selbst dann noch,  wenn sie baulich gefährdet sind. Ein beeindruckendes Phänomen begegnet uns besonders im Osten: Manche Kirchen können von den Kirchgemeinden nicht mehr  erhalten werden. Oft aber entstehen Fördervereine, die dafür sorgen, dass die  Kirche im Dorf bleibt. Auch Menschen ohne konfessionelle Bindung übernehmen  Verantwortung. Offensichtlich spüren sie, dass mit der Kirche die innere Mitte des  Ortes verloren ginge. So geschehen auch in einem kleinen Dorf in Ostmecklenburg – wenn’s hoch kommt  noch  zwölf Häuser, manche davon nur am Wochenende  bewohnt.  Viele aus der Region sind abgewandert.  Die Kirchgemeinde musste  andere Prioritäten setzen. Der Förderverein aber baute die Kirche wieder auf. Der  Vorsitzende – ungetauft, aber hoch engagiert. Nun ist die Kirche fertig. Was aber  soll in ihr geschehen? Konzerte, Ausstellungen, vielleicht auch  – wenn es um  Grundsätzliches geht – mal eine Einwohnerversammlung, zu besonderen Anlässen Gottesdienste. . .

Wie offen sind wir als Kirche, wenn „Andere“ kirchliche Räume für sich  entdecken? Gewöhnlich wird gefragt: Was „darf“ in diesen Räumen sein? Diese  Perspektive ist  wichtig  – hält sie doch den Gedanken wach, dass Kirchen der  Beziehung zu Gott Raum geben sollen. Aber eine zweite Perspektive sollte  hinzutreten mit der Frage: Was können wir mit den „Anderen“ in und durch unsere  Kirchen neu entdecken? Ich bin überzeugt: Wir selbst werden etwas neu verstehen von Ganzheit und Sinnfülle, in der Zusammenschau Gottes und des Menschen  – wenn wir uns einlassen auf die Sehnsucht der Menschen, die sich nicht als Christen  verstehen. Unser Gesichtsfeld wird sich  erweitern  – auch im Blick auf Gott und  sein Evangelium –, indem wir uns  öffnen für das Gespräch mit den „Anderen“ über ihre und unsere Ideen.  Achtsamkeit gegenüber Menschen, Räumen und  gegenüber Gott soll uns dabei leiten. 

Schwestern und Brüder,  gerade diese Achtsamkeit wird uns nach Wegen suchen lassen, Gottes Solidarisierung mit den Schwachen und Außenseitern in  Kirchen  Raum zu geben. Manche Kirchgemeinden in Mecklenburg haben darum bewusst in  ihren Kirchen einen „Mittagstisch für Leib und Seele“ eingerichtet. Andere verlegen ihre Gemeinderäume in die Kirche  – nicht nur aus ökonomischen,  sondern auch aus praktisch-theologischen Erwägungen. Besonders erfreulich ist es,  wenn damit eine stärkere Hinwendung zu Menschen verbunden ist, die sich als  Verlierer empfinden. 

Manchmal fühlen sich auch Menschen so, die zurückbleiben in den Dörfern, aus  denen die Jungen fortgezogen sind. Auch für ihre Beheimatung sind Kirchen  wichtig. Denn Kirchen stehen nicht nur für das Bleibende in allem Wandel. Auch  wenn es paradox klingen mag: Sie vermögen Heimat zu geben, gerade weil sie uns  mit auf den Weg nehmen. Weil sie Mut dazu machen, wie Generationen vor uns die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Weil diese Räume trösten, weil  man in ihnen aufatmen kann.

Unsere Gesellschaft tut gut daran, ihre Kirchen zu erhalten.  Denn wo Kirchen  verfallen, erodieren auch Dörfer. Mit Dörfern geht auch regionale Identität  verloren. Die mecklenburgische Landeskirche hat sich daher entschieden, so weit  wie möglich in der Fläche präsent zu bleiben. Mit Personal und Kirchgebäuden wollen  wir  bei den Menschen bleiben und geben dafür  sogar  unsere  Selbständigkeit als Landeskirche auf. Wir tun dies nicht leichten Herzens, aber in  der Hoffnung, so der Orientierung Gottes zu entsprechen. Um es noch einmal mit  Worten Heinrich Rathkes zu sagen:„Kirche, die ganz für andere da ist, findet zu  sich selbst“. Und ich setze hinzu: Kirche, die gewillt ist,  mit den „Anderen“ ihre  Kirchen und das Evangelium neu entdecken will, wird verstehen, wozu uns Gott  heute ruft. Amen.

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