Predigt zum Festgottesdienst „60 Jahre Unikirche“ und Semestereröffnung
05. November 2025
Mt 5,1-11
Liebe Gemeinde!
Ein besonderer Geburtstag ist das heute.
Seit 6 Jahrzehnten. Dieser Kirchenraum. Ruhepol und Anker mitten zwischen Vorlesungen, Seminaren, Klausuren, Bibliotheken, Laboren. Zwischen den großen Fragen nach dem Wohin im Leben und nach dem Wozu, den mittelgroßen Fragen ob der Vertrag doch noch mal um ein Jahr verlängert wird und den kleinen Fragen nach einem bezahlbaren WG-Zimmer oder Platz im Wohnheim.
Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, so viel ist festzuhalten, funktioniert auch ohne diese Kirche in ihrer Mitte. So wie ja auch immer mehr Menschen heute sagen, dass ihr Leben wunderbar und ohne Einschränkungen ohne den Glauben an einen Gott funktioniert.
Wozu aber heute noch diese Kirchengebäude? Die Zahlen derer, die bereit sind Mitglied in einer der großen Kirchen zu sein, sinkt drastisch. Viele sagen ganz deutlich: Wir erwarten von der Kirche gar nichts mehr, weil sie gar keine Fragen stellt, auf die wir Antworten suchen.
Und trotzdem möchte ich heute festhalten – und zwar direkt hier am Beispiel dieses Kirchenraums: Es ist nicht nur heilsam, sondern auch radikal notwendig, diese Anders-Orte zu haben. Mit Decken, höher als gewöhnlich. Mit Farbspielen durch Glasfenster, die die heimischen Wohnzimmer nicht bieten können – aber auch keine Shoppingmall, kein Kino – aber eben auch kein Hörsaal kann das bieten.
Ich bin davon überzeugt: Wir brauchen solche Anders-Orte. Nicht als Weltflucht, sondern als Ankerpunkte, wenn zu viel in uns selbst oder in der Welt um uns herum in Bewegung ist oder in Frage steht. Nicht umsonst zieht es so viele Menschen in Kirchengebäude – im Urlaub, oder einfach mal zwischendurch.
Dieser Kirchenraum weist uns rein durch seine Existenz auf das hin, worum es geht, wenn wir extra nos noch eine lebensstiftende Instanz annehmen. Einfach durch die Architektur. Unser Blick geht weiter und höher. Wir sind in einen Raum gestellt, der über sich hinausweist und somit zugleich auch uns einlädt, unseren Blick auf unsere Welt zu weiten.
Vorgestern haben wir Reformationstag gefeiert. Um die Erneuerung der Kirche ging es Martin Luther im Jahr 1517. Hin zurück zum Eigentlichen. Die biblischen Quellen, den Urgrund wollte Luther freilegen – die festgefahrenen Traditionen, Rituale abklopfen und abschürfen – damit das Evangelium wieder strahlen kann.
Unsere Lesung heute ist am Reformationstag das Evangelium gewesen. Gerade die Seligpreisungen gehören ja zu den Texten, die über die Jahre immer wieder mit bestimmten Projektionen und Urteilen überzogen worden sind. Und die dennoch gerade in den Kern dessen weisen, worum es diesem Jesus von Nazareth ging.
Deshalb passen sie heute gut an diesen Ort und zu diesem Anlass. Für mich gehören sie zu den schönsten und zugleich Liebestexten der Bibel. Eine Liebeserklärung Jesu an uns Menschen. Selig – das sind die, die zu Gott gehören. Die teilhaben an seiner Gegenwart, an der Wirklichkeit des Reiches Gottes.
Die Seligpreisungen. Das sind Worte, die vielen von uns bekannt sind. Schon oft gehört sprechen sie uns in bestimmter Weise an, erzeugen sie bestimmte Bilder im Kopf.
Ich möchte Sie heute einladen, und diese Idee habe ich aus einer Bibelarbeit von Fulbert Steffensky zu den Seligpreisungen geklaut, sich diesen Worten nochmal ganz neu auszusetzen. Sie in sich willkommen zu heißen, als würden Sie die Worte zum ersten Mal hören. Ohne Gegenwehr, ohne Aber, ohne Bibelkundewissen, ohne den ansonsten ja immer so hilfreichen und nötigen historisch-kritischen Blick. Heute allerdings bitte ich euch um euer offenes Ohr. Als hörtet ihr die Worte Jesu zum ersten Mal. In dem Wissen: Auch damals waren Menschen Adressaten dieser Worte. Menschen aus Fleisch und Blut, mit einem Leben, mit Krankheiten, Schönheiten, Zweifeln. Und mit einem Herzen, das sich nach Liebe sehnt. Mit einer Sehnsucht danach, Gott irgendwie zu spüren. Die Worte waren an Menschen gerichtet. Und so sind sie es heute gleichermaßen - an uns.
1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg. Und er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. 4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. 5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen[1]. 6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 9 Selig sind, die Frieden stiften[2]; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Mt 5,1-11
Zu Gott gehören wir. Wir alle. Wir sind also die, die selig sind. Die wir zerbrochen und verwundet, sehnsüchtig und gewalttätig, liebesbedürftig und friedenshungrig sind. Die wir uns nach Frieden sehnen und so gern Frieden schaffen würden in unfriedlicher Zeit. Die wir hungrig sind nach Gerechtigkeit, weil die Ungerechtigkeiten im Kleinen und Großen zum Himmel schreien und wir wissen, dass da die Wurzel des Übels für so vieles ist, was momentan in unserer Gesellschaft schlecht läuft.
Viele haben schon vor langer Zeit gesagt und sagen es immer wieder: Mit der Bergpredigt, mit solchen Worten also, sei keine Politik zu machen.
Da schwingt ja im Kern auch die Unterstellung mit: mit so weltfernen und ja zutiefst naiv anmutenden Träumereien kommen wir im realen Leben nicht weiter.
Und ja, gerade hier, im universitären Kontext, gelten natürlich andere Maßstäbe an gelingendes Leben. Müssen sie gelten. Denn wir brauchen die besten der Besten, die klügsten Köpfe in allen Disziplinen, damit wir gut weiterkommen in dieser Welt – in allen Belangen.
Allerdings – und hier ragen diese Worte der Seligpreisungen geradezu wie diese Kirche spitz und leuchtend in unsere Alltagsnormen hinein: Wir brauchen auch diese Anders-Orte. Die Gegenworte Jesu. Weil auch sie von einer Realität erzählen, die ebenso wahr ist wie unsere weltlichen Maßstäbe daran, wie ein gelingendes, wie ein erfolg-reiches Leben aussieht.
Ich sage hierzu ganz klar: Wenn wir aufhören, an die Realität von Frieden und Gerechtigkeit, von Versöhnung und Heilung zu glauben, dann ist so ziemlich alles verloren. An diese Verheißungen der Bibel, an die Worte Jesu zu glauben, ist keine Verdrängung der realen Probleme. Ist nicht die rosarote Brille, die uns den klaren Blick auf die Verhältnisse verunmöglicht.
Im Gegenteil. Wir brauchen sie. Wir brauchen diese großen Lebensvisionen, die biblischen Verheißungen, ohne die jedes Leben verkümmert und stirbt. Wir brauchen sie heute nötiger denn je, wenn Drohnen über unserer sensiblen Infrastruktur kreisen und sich das eigene Vokabular um Worte erweitern muss, die mit Kriegsführung und Verteidigungsfähigkeit zu tun haben. Wir brauchen sie nötiger denn je, wenn junge Menschen Existenzängste haben müssen oder keinen geeigneten Wohnraum mehr finden. Wir brauchen sie, wenn immer mehr Menschen tatsächlich meinen, dass durch Abschiebungen im großen Stil die großen sozialen Probleme in unserem Land gelöst werden können.
Die Zumutung der Bergpredigt, der Seligpreisungen Jesu, ist: Die Worte sprechen in unsere Zeit hinein und nicht an ihr vorbei. Sie sind kein romantischer Kitsch, der den Blick rosarot verschönt. Sie erlauben uns im Gegenteil, sehr realistisch hinzuschauen. Und zwar deshalb, WEIL wir NICHT aufhören, an eine gute und bessere Zukunft zu glauben. Weil wir stark genug sind, genau hinzusehen. Menschen zu sehen in ihrem Leid, in ihren Süchten und Sehnsüchten. Weil wir alles das mittragen können, so wie Jesus alles mitträgt, was uns selbst beschwert und niederdrückt.
Wir sind also alles, aber nicht weltfern, wenn wir die Worte Jesu in unserem Herzen tragen. So wenig auch diese Kirche hier nicht deplatziert ist, sondern genau hier an diesem Ort stehen MUSS.
Und ein zweiter Gedanke noch zu dem, was gemeinhin über die Seligpreisungen gedacht wird. Ich hatte es eben schon erwähnt. Es geht mir um die Aussage, mit der Bergpredigt sei „keine Politik zu machen“.
Natürlich ist heute Morgen nicht der Raum, die verschiedenen Positionen der Öffentlichen Theologie und deren Für und Wider zu erörtern.
Was mir aber gerade für die gegenwärtige Zeit wichtig ist und ich finde das auch wichtig gerade hier an diesem markanten Ort mitten auf dem Campus: Wir haben ja in den vergangenen Monaten immer wieder Debatten erlebt und Äußerungen gehört, die ganz ähnlich klangen. Die Kirche solle sich nicht in die Tagespolitik einmischen, sondern sich auf ihre Kernaufgaben besinnen.
Eins ist daran ja sehr richtig und es muss uns auch immer wieder gesagt werden: Es ist als christliche Kirche NICHT der Auftrag, Parteipolitik zu machen. Wir sitzen nicht im Landtag oder Kreistag. Wir sollten nicht versuchen, Predigten zu halten die eher schlechtgemachte Reden auf Parteitagen klingen. Und auf keinen Fall sollten wir uns dazu verleiten lassen, moralisch aufgeladene Tendenzmeinungen als Kern des Evangeliums darzustellen. Denn Jesus mag viel gewesen sein, aber ein Moralist war er nicht.
Aber. Und das ist mir wichtig und das sage ich heute, im Umfeld des Reformationstags 2025, sehr deutlich: Wir würden alles anheimgeben, was uns wertvoll und heilig ist, wenn wir uns NICHT der Zumutung stellen, mit diesen Worten Jesu auch konkret politisch zu werden!
Und zwar politisch in dem Sinn, wie es schon in der Grundbedeutung der politiká angelegt ist, dass es mit der Gestaltung und mit dem Zusammenhalt unserer Gemeinschaft, des Gemeinwesens, zu tun hat. Politik machen gehört in genau diesem Sinn zu unserem Kernauftrag – weil die Botschaft des Evangeliums immer schon notwendigerweise in den politischen, den öffentlichen Raum hineinspricht.
Die so genannte Bergpredigt war also dementsprechend schon damals in diesem Sinn politisch. Natürlich war sie das! Den Fokus so sehr auf die Armen und Entrechteten zu legen, auf die, die sonst nicht im Blick waren, das hat viele geärgert. Es hat angeeckt. Es war anstößig. Es hat die Etablierten und Mächtigen maßlos erzürnt. Jesus war gut darin, mit seinem Leben und Predigen seinen Finger genau auf die Triggerpunkte des damaligen Gesellschaftssystems zu setzen, indem er allein durch sein Handeln zeigte, wer für und vor Gott an erster Stelle steht. Nämlich die, die damals wie heute zuallermeist noch niemals zu denen ganz vorn gezählt haben.
Genau in diesem Sinn geht es gar nicht anders, als auch heute als Kirche, als Christinnen und Christen, politisch zu sein! Weil es um nicht weniger als unsere Würde als Menschen geht. Und noch vielmehr um die Würde derjenigen, die nicht für sich selber sprechen und einstehen können.
Deshalb KÖNNEN wir nicht still sein, wenn wir miterleben, dass Ungerechtigkeiten zur Normalität gehören. Dass Menschen nicht gesehen werden in ihrem Leid. Dass die Angst vieler Menschen vor Krieg zunimmt und sie sich allein damit fühlen. Und es wäre furchtbar, wenn wir zunehmend verstummen, nur um nirgendwo mehr anzuecken. Das kann und darf niemals der Weg sein!
Heute also, an diesem besonderen 60. Geburtstag, ist uns diese wunderbare Liebeserklärung Gottes ans Herz gelegt und in unser Leben gesprochen. Selig seid ihr. Sind wir. Wir gehören zu Gott, weil wir Menschen sind. Aus Fleisch und Blut und mit einer Sehnsucht im Herzen, geliebt zu werden. DAS ist unsere Würde. Es geht also um nicht weniger, als diese Würde zu bewahren, in dem wir uns unserer Kraft zu lieben, bewusst sind und diese auch einbringen.
Lasst uns weiter mit dieser Liebeserklärung in die Welt gehen. Mutig und unverzagt, mal laut und mal ganz leise. Immer aber mit dem klaren Bewusstsein: Gott lässt uns nicht fallen. Uns alle nicht. Ja, das ist eine Zumutung. Aber darunter geht es nicht.
Seit 6 Jahrzehnten wird hier gebetet, getrauert, gesungen, gefeiert. So möge es weitergehen. Denn wir brauchen sie, die Anders-Orte. Die Gegenworte Jesu gegen die immer weniger hinterfragten Annahmen, wie denn wertvolles Leben aussieht.
Wir brauchen sie. Die biblischen Verheißungen einer versöhnten, gerechten und friedvollen Welt. Das Fundament unseres Lebens, das aus dieser unverbrüchlichen Liebeszusage Gottes besteht, nicht verlassen wollen.
Amen