Predigt zum Kanzeltausch Ost – West in Heide / Holstein am 8.11.2009 von Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit (Greifswald)
08. November 2009
Liebe Gemeinde,
in diesen Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht der friedlichen Revolution in unserem Land gedacht wird. Fernsehen, Radio und Zeitungen sind voll von Rückblicken auf das zweite Halbjahr 1989 und den Ereignissen, die vor 20 Jahren zur friedlichen Revolution in Deutschland geführt haben. Darum ist es eine gute Idee, wenn am heutigen Sonntag viele Kirchengemeinden in Ost und West Kanzeltausch praktizieren. Pfarrer aus Ostdeutschland predigen in Westdeutschland, westdeutsche Pfarrer und Pfarrerinnen besteigen ostdeutsche Kanzeln. In der zusammenwachsenden Nordkirche haben wir gesagt: „Da machen wir mit! Wir wollen uns gegenseitig kennenlernen, wenn wir bald eine Kirche miteinander bilden wollen.“
Allerdings haben Sie mit mir zwar jemanden vor sich, der seit acht Jahren Verantwortung trägt für eine ostdeutsche Landeskirche, aber selber nicht im Osten sozialisiert ist, also kein „Ossi“ ist. Ich komme – wie Annette von Droste-Hülshoff sagt – aus dem „gebirgichten Westfalen“, war dort – bevor ich in Pommern als Bischof gewählt wurde – kurz in der Gemeinde, lange an der Universität tätig und zuletzt in der westfälischen Kirche für die Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern zuständig.
Als wir vor zwei Jahren mit den Gesprächen zur Bildung einer – wie wir dann gesagt haben – „Ev. – Luth. Kirche in Norddeutschland“ begonnen haben, haben wir zusammen getragen, was von einander lernen können. Die Nordelbier haben durchweg gesagt: „Wir sind tief beeindruckt von dem Beitrag der ev. Kirche zur friedlichen Revolution.“ Ja, mit Hochachtung stehen wir heute vor den Frauen und Männern, die damals ihre gesellschaftliche Existenz und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um mit friedlichen Mitteln die Freiheit zu erkämpfen. Heute ist die friedliche Revolution ein historisches Ereignis. Wir wissen, wie das Ganze ausgegangen ist und zur deutschen Vereinigung hingeführt hat. Damals war das ja noch alles ganz anders. Keiner wusste den Ausgang. Eine Entwicklung wie im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking wäre genauso gut möglich gewesen. Erich Krenz hat ja damals die blutige Niederschlagung der studentischen Proteste in China ausdrücklich begrüßt.
Ich war damals noch relativ frisch verheiratet und kann mich gut erinnern, wie meine Frau und ich abends im westfälischen Telgte Tag für Tag vor dem Fernseher saßen und unseren Augen nicht trauten. Manchmal habe ich im ersten Moment gedacht: „Ist das jetzt Wirklichkeit oder Traum oder alles ein geschickt gemachter Sciencefiction?“ Die Tausende von Flüchtlingen in der Prager Botschaft, die 70 000 Demonstranten am 9. Oktober in Leipzig und dann am 9. November die Pressekonferenz mit Günter Schabowski, in der er die Öffnung der Mauer „ab sofort“ ankündigt – alles das waren so unglaubliche Geschehnisse, das uns der Atem stockte. Als ich dann Anfang Dezember in Westberlin zu tun hatte, wollte ich erleben, ob ich nun wirklich am Brandenburger Tor einfach so von Westnach Ostberlin marschieren konnte. Zwar guckte mir der Grenzpolizist tief in die Augen, aber ohne größere Kontrollen konnte ich nun für 30 Minuten unter den Linden bummeln gehen. Dann musste ich mich sputen, um zu meiner Sitzung zu kommen. Unglaublich –die Mauer war zwar noch da, aber sie war durchlässig geworden. Wir waren Zeuge einer Revolution geworden – und kein Schuss war gefallen.
Dass unter den Mutigen, die diese friedliche Revolution herbeigeführt haben, auch Frauen und Männer aus dem Inneren der Kirche waren, erfüllt mich mit besonderer Freude. Denn für die Kirche, besonders die evangelische Kirche, war die friedliche Revolution ein durchaus schwieriges Lernfeld. Jahrhunderte lang gab es in der evangelischen Kirche eine unglückliche Verbindung von Thron und Altar. Im Herbst 1989 hat die evangelische Kirche gelernt – zum Teil auch hervorgerufen von Gruppen, die nicht aus dem Innenraum der Kirche kamen, - dass alle geistlichen und theologischen Aussagen eine politische Wirkung entfalten. Manche Bibelworte sind wörtlich zu nehmen und zeigen dann ihre eigene Wahrheit.
Der Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat den Slogan, der bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig entwickelt worden war - „Keine Gewalt!“ - als eine Kurzzusammenfassung der Bergpredigt bezeichnet. Der Sachgrund für diese Aussage ist ein Vers aus der Bergpredigt Jesu, der eben diesen Geist atmet:
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.
(Matthäus 5,5)
Diese Seligpreisung ist mit der ganzen Bergpredigt eine Belehrung Jesu an seine Jünger und geschieht vor dem ganzen Volk. Das ist typisch. Die Bergpredigt verpflichtet Jesu Jünger, aber alle, die hören wollen, sollen sie kennen. Die insgesamt acht Seligpreisungen sind poetische Kurzusammenfassungen der Lehre Jesu. Sie zeigen, wofür Jesus steht. Schon Martin Luther hat die Aussageabsicht der Seligpreisungen zusammengefasst: „Denn das ist die Summe von diesem Evangelio, dass unser lieber Herr Christus uns hie vormalet, was er für Jünger haben, wie es ihnen auf der Welt gehen und was sie hoffen sollen.“1 Die Seligpreisungen umschreiben kurz und atemberaubend klar, was Christsein ausmacht.
Zu schaffen macht uns Heutigen wohl nur die Bezeichnung „selig“. Es ist ein etwas aus der Mode gekommener Begriff, der eine doppelte Bedeutung hat, übrigens im Griechischen wie im Deutschen. Die mehr vordergründige Bedeutung könnte auch übersetzt werden mit glücklich, im Sinne von begeistert, entzückt, erfreut. Die hintergründige Bedeutung hat eine religiöse Komponente und steht auch für „erlöst, im Himmel/ Paradies, der ewigen Seligkeit teilhaftig“.2 Wer selig ist, für den gilt beides. Er ist vielleicht nicht immer im oberflächlichen Sinn glücklich, aber zutiefst von Gott erfüllt, von ihm getragen und deswegen auch der ewigen Seligkeit teilhaftig. Wer selig ist, der kommt in den Himmel.
Ich habe gerade eine denkwürdige Erfahrung gemacht, die mir hilft, zu verstehen, was „selig sein“ ganz praktisch bedeutet. Gestern wurde in Greifswald eine gute Freundin meiner Frau beerdigt. Viel zu jung ist die Mutter dreier Kinder mit 51 Jahren an den Folgen ihrer Krebserkrankung gestorben. Wir haben geweint und geklagt, aber nach einer Leidenszeit von eineinhalb Jahren ist sie dennoch gestorben. So gerne hätte sie noch weitergelebt und ihre Kinder erwachsen werden sehen. Sie hat mit Gott gerungen und konnte am Ende ihr Schicksal irgendwie akzeptieren, weil sie wusste, dass die größere Herrlichkeit noch kommt. Die erwartete Gemeinschaft mit Jesus Christus nach dem Tod war ihr Trost in allem Leid. Einen Monat vor ihrem Tod hat sie einen Satz gesagt, der mich sehr bewegt hat und der mir ein lebendiges Beispiel für dieses Besondere „Selig“ geworden ist: „Ich habe alles, was ich brauche.“ Trotz ihrer Krankheit war ihr am Ende das, was Gott ihr gab, genug.
Der zweite Teil der Seligpreisung, der Denn-Satz, sagt, was eintritt, wenn man so lebt, wie es der erste Satz benennt. Er beschreibt die Zukunft derer, die im Gericht Gottes bestehen, weil sie nicht auf ihre eigenen Qualitäten und Leistungen, sondern allein auf Gott vertrauen. Ein solcher Denn-Satz folgt auf jede der acht Seligpreisungen. Er ist eine Umschreibung dessen, was – in volkstümlicher Formulierung ausgedrückt – „im Himmel“ zu erwarten ist.
Die Seligpreisung der Sanftmütigen ist wohl hervorgegangen aus der griechischen Übersetzung des ursprünglich hebräischen Wortlauts von Psalm 37, 11: „Die Armen (oder: Elenden) werden das Land erben“. Aus den Armen wurden so die Sanftmütigen. Jesus nimmt diese Wendung offensichtlich auf. Sanftmut ist die Eigenschaft der Schwachen. Sanftmut schließt Gewaltlosigkeit ein, ist aber noch mehr und meint eine demütige Lebenshaltung, eine Milde, die aus dem schlechthinnig Auf – Gott – angewiesen - Sein wächst. Dabei transportiert der griechische Begriff stärker als der deutsche, dass Sanftmut keine passive Haltung ist, sondern ein aktives Gott-Vertrauen und sich von Gott in-Dienstnehmen lassen. Es gehört eben eine gehörige Portion Mut dazu, sanft zu sein angesichts mancher Formen von Gewalt. Ein sanfter Mut, der sich auch darin ausdrückt, dass man sich sein Gottvertrauen nicht so leicht nehmen lässt. Hier wird gesagt, wie sich Menschen verhalten, die ihre Maßstäbe von Jesus Christus beziehen. Er ist doch der, der alles von Gott erwartet. Er sagt von sich selbst: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demü-tig.“ (Matth. 11, 29).
Aber was hat das nun mit Politik zu tun? Das, was es manchem Christen und manchem Kirchenmann im Herbst 89 schwer gemacht hat, eine eigene Position zu finden, hängt damit zusammen, dass er womöglich in die Falle eines neuprotestantischen Missverständnisses der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre getappt ist. Martin Luther hat in einer hilfreichen Unterscheidung verdeutlicht, dass der Mensch Bürger sowohl des Reiches Gottes wie des Reiches dieser Welt ist. Während im "Reich dieser Welt" Gott die Obrigkeit einsetzt, der Mittel des Zwangs, der Gesetze und der Gewalt zur Verfügung stehen, regiert er im Reich Gottes durch Wort und Sakrament. Die Einheit der Herrschaft Gottes in beiden Reichen fällt jedoch auseinander, wenn man jedem Bereich eine Eigengesetzlichkeit zugesteht und die Obrigkeit als von Gott eingesetzt nicht mehr hinterfragt wird – etwa durch Maßstäbe des Wortes Gottes. Damit hat die Kirche ihr prophetisches Amt in dieser Welt aufgegeben.
Fragt man nun verschiedene Politiker zur Bedeutung der Bergpredigt für die Politik, so wird der lange Schatten dieser Tradition sichtbar. Der alte Bismarck hat die Frage glatt verneint, und auch Helmut Schmidt hat – kaum überraschend – geantwortet: „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“. Dagegen wusste Carl Friedrich von Weizsä-cker, dass im Atomzeitalter die Politik der Bergpredigt die klügere Politik ist. Es ist klüger mit dem, der mich nötigt, eine Meile zu gehen, zwei zu gehen, ohne mich von meinem Ziel grundsätzlich abbringen zu lassen. Wer sich mit einer Atommacht anlegt, löst mit ziemlicher Sicherheit eine Katastrophe aus. Da ist es klüger, erst einmal einen Weg gemeinsam zu gehen.
Der Bruder, Richard von Weizsäcker, ist überzeugt: „Ich kann mir humane Politik nur mitder Bergpredigt vorstellen.“ Und Reinhard Höppner hat 2007 an Jesu Zentralforderung "Liebet Eure Feinde" erinnert und konkret vorgeschlagen, auch mit den Taliban oder mit der Hamas und anderen Terroristengruppen zu verhandeln.
Es gehört zur Lehre aus der friedlichen Revolution von 1989 für uns als Kirchen, den Mut aufzubringen, von Gottes Wort her eine prophetische Stimme auch in den Bereich der Politik erschallen zu lassen.
Im Mai 2009 saßen wir, eine kleine Delegation von evangelischen Bischöfinnen und Bischöfen, die mit der einheimischen lutherischen Kirche deren 50jähriges Jubiläum als eigenständige Kirche gefeiert hatten, in Ramallah (Palästina) zusammen mit dem Ministerpräsidenten Palästinas Dr. Salaam Fayyad. Wie aus seiner Sicht die Möglichkeiten für einen Weg zum Frieden und zu einem Miteinander von Israelis und Palästinensern seien, wollten wir wissen. Er antwortete, es gehe um gegenseitige Anerkennung, um das Recht für Israelis und Palästinenser in anerkannten und sicheren Grenzen zu leben und um Vertrauen zueinander. Außerdem sei die Rolle der Christen, klein an Zahl, sehr wichtig. Unser Interesse gerade an dieser Frage war groß. Was könnten denn die Christen beitragen? Ihr Hauptbeitrag sei die stetige Erinnerung an Gewaltlosigkeit bei der Lösung der anstehenden Konflikte. Er als Moslem verstände die politische Ethik der Christen so, dass Gewaltlosigkeit bei der Lösung von Konflikten einen sehr hohen Rang habe. Bei der Lehre Jesu würde ihm als Moslem imponieren, dass Jesus sehr entschieden und klar seinen Weg verfolgt habe, aber immer gewaltlos geblieben sei. Ja, gäbe es nicht ein Jesuswort, das die Gewaltlosigkeit zur Erreichung von politischen Zielen priese? Salaam Fayyad hatte da offenbar genau diese Seligpreisung Jesu im Kopf: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich, das Land besitzen.“
Liebe Gemeinde, sanftes Wasser bricht den Stein. Eine tiefe Grundüberzeugung, die im Glauben gegründet ist, verändert die Welt. Bei aller Zielstrebigkeit helfen Demut, Sanftmut und Gewaltlosigkeit, in der Liebe zu bleiben. Das wünsche ich uns nicht nur in der Kirche, sondern auch in unserer Gesellschaft und in der Politik. Am Ende werden die Sanftmütigen das Land besitzen. Auch in einer Nordkirche sind wir nicht immer alle einer Meinung. Am Ende wird sich durchsetzen, was vor Gott Bestand hat. Wir können jede und jeder nur das zum Ausdruck bringen, was wir verstanden haben und was wir vor Gott zu verantworten in der Lage sind. Verwurzelt in Gott brauchen wir diesen sanften Mut, damit wir in Jesu Spur bleiben. Amen.
1Martin Luther, WA 52, 552.
2So Duden. Das Synonymwörterbuch. Ein Wörterbuch sinnverwandter Wörter, Dritte, völlig neu erarbeitete Auflage, Mannheim u. a. 2004, 789.