Rede zum Volkstrauertag bei der zentralen Gedenkstunde im Plenarsaal des Landeshauses in Schleswig-Holstein
17. November 2025
Jes. 2, 3-4
Kriegsgefangenenpost. Brief Nr. 9 vom 2.4.1945. Im letzten Kriegsmonat. Die Alliierten auf dem Vormarsch. Die deutschen Soldaten zunehmend gefangen genommen. Meine Großmutter, ausgebombt und mit zwei kleinen Söhnen unter schwierigsten Verhältnissen lebend, schreibt an ihren Mann:
Geliebter, guter Vati!
Ostern ist nun bald vorüber. Alles ist nach dem letzten Regen grün geworden. Das Wetter ist ja nicht besonders, es könnte wärmer sein. Wir wollen jetzt mal in den Wald, da wachsen viele Himmelschlüssel. Heute Morgen war ich mit Mutter in der Kirche. Meine Gedanken sind bei dir. Unsere Söhne haben gestern fleißig im Garten Ostereier gesucht. Ich grüße dich recht herzlich in Liebe und Treue. Dein Gretelein
So klingt der letzte Monat des 2. Weltkriegs für einfache Leute, die sich einfach nur nach Normalität sehnen. Und doch ist nichts, wie es sein soll. Aber das steht nur zwischen den Zeilen.
Was meine Großmutter nicht wusste: Der Brief erreichte meinen Großvater erst viel später, denn er war am 2.4. schon auf hoher See. Wenige Tage vorher wurde er mit einem Frachtschiff der Liberty-Klasse Marion Grawford in die USA verschifft.
Unterbringung in Kriegsgefangenenlagern in Texas und Arizona und später in England. Arbeitseinsatz in der Orangen- und Baumwollernte. Entlassung im Sommer 1947. Er trifft seine Frau, seine beiden ihm unbekannten Söhne.
Mein Großvater war also ein weitgereister Mann. Welten allerdings, die er nie hatte sehen wollen. Denn er war von Grund auf ängstlich und bodenständig. Nach seiner Rückkehr ist er nur unter großen Widerständen mal in den Urlaub gefahren. Er hatte genug gesehen von der Welt. Er blieb nachher zeitlebens im Nahbereich – alles, was eine Tagesstrecke entfernt war. Weiter weg – nie.
Und der Krieg – kein Thema. Jahrzehntelang. Erst irgendwann hat er mit der Enkelgeneration darüber gesprochen. Und das immer wieder. Von den warmen Öfen in russischen Häusern und den vor Frost erstarrten Füßen in den harten Stiefeln. Wie die Baumwolle in Arizona an den Händen klebte. Dass es in England zu viel regnete. Nie aber über Schuld. Dass auch Mitlaufen schuldig macht und er zu den Tätern gehörte, war für ihn nicht denkbar. Bis zuletzt nicht. Er teilte die Erfahrungen so vieler, die uns vom Krieg erzählen.
Nur an einer Sache hat er keinen Zweifel gelassen: Kein Mensch kann Krieg wollen. Um Gottes und um uns Menschen willen nicht.
Sehr geehrter Herr Dr. Klug,
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin Herbst,
sehr geehrte Mitglieder des Landtages,
sehr geehrte Frau Ministerin von der Decken und Frau Ministerin Finke,
sehr geehrter Herr Admiral Meyer und sehr geehrter Herr Oberst Skamel,
sehr geehrte Repräsentantinnen und Repräsentanten der Bundeswehr,
sehr geehrte Damen und Herren aus der kommunalen und städtischen Politik,
sehr geehrte Vertreter von Verbänden, Kirche und Diakonie,
Sie alle werden Ihre eigenen Familiengeschichten neben meine eigene legen können. Wir alle leben von dieser entsetzlichen und schuldbeladenen Stunde Null unserer deutschen Geschichte her und wissen: Krieg zerstört. Nicht nur Häuser und Infrastruktur. Krieg zerstört Familien und brennt sich ein. Über Generationen hinweg.
Deshalb ist es an uns, das Erlebte unserer Vorfahren zu bewahren. Zu erinnern. Weiterzutragen. Denn was Krieg real und im Alltag bedeutet, das wissen zumindest wir Nachgeborenen nicht.
Und wir lernen daraus. Frieden ist ein kostbares Gut.
Nie selbstverständlich und täglich neu zu erringen.
Wir versammeln uns heute an diesem besonderen Jahrestag zur Gedenkstunde. Wir denken an alle, die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft geworden sind und auch in diesen Minuten immer noch werden.
Der Volkstrauertag erinnert uns an die Wunden der Vergangenheit und ruft uns zugleich zur Verantwortung in der Gegenwart auf. Die Stimmen der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen müssen wir mehr denn je hören und schätzen. Ihre Erlebnisse sind Geschichten der Wahrheit und die unzähligen Kriegsgräber sind keine stummen Denkmäler, sondern Orte der lebendigen Erinnerung und Mahnung. Sie erinnern uns daran: Frieden ist kein Zustand, der sich von selbst erhält. Freiheit und Sicherheit brauchen auch heute unseren Schutz und ein umfassendes Frieden braucht unsere unbegrenzte Hoffnung.
Denn eins ist ja deutlich in dieser Zeit: Das Verwischen der Grenzen, was nun noch Frieden ist und was schon Krieg, schürt Angst. Wir sind als Demokratie verwundbar, weil wir auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind, die hohes Vertrauen in das demokratische System setzen. Genau dieses nötige Vertrauen aber wird von hybrider Kriegsführung genutzt, wenn nicht mehr deutlich ist, wie die Zeichen der Zeit zu deuten sind und auf einmal Unterseekabel und Drohnen unmissverständlich zeigen, wie verletzlich unser Leben ist. Die Demokratie wird dadurch destabilisiert, wird weltweit zunehmend als Ausweis von Schwäche gesehen, belächelt und durch autoritäre Auftritte nationalistisch gesinnter Staatsoberhäupte demontiert.
Das hohe Gut unserer Demokratie und die ihr genuin eigenen verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten machen uns vulnerabel. Umso wichtiger ist es, dass wir deutlich und aufrecht für unsere grundlegenden Werte einstehen. Die eben IN ihrer Pluralität nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern in der Gleichzeitigkeit ihre Gültigkeit haben und es je neue Aushandlungsprozesse sind, wie sie in der jeweiligen Situation zu gewichten sind.
In diese Richtung argumentiert auch die vor wenigen Tagen veröffentlichte Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nicht den Anspruch auf Freiheit anheimgeben, auch wenn notwendigerweise über Pflichten gesprochen werden muss. Nicht die Vision von Frieden aufgeben, nur weil wir uns sehr ernsthaft mit der Realität Krieg auseinandersetzen müssen.
In ihr lesen wir: Lassen wir uns nicht verführen von dem Ruf nach einer Eindeutigkeit, die es nicht geben kann und die notwendigerweise mit einer massiven Einschränkung unserer Pluralität und damit unserer Freiheit einhergehen muss.
Es ist daher unabdingbar, gerade in dieser Zeit fundamentaler Uneindeutigkeiten deutlich für die uns so wichtigen Werte einzustehen und sie in die Aushandlungsprozesse einzutragen!
Weil wir wirklich etwas zu verlieren haben, wenn wir innere Bilder davon verlieren, wie kostbar Freiheit ist. Wie zentral Frieden ist, damit Kinder in Sicherheit aufwachsen. Familien zusammenbleiben. Damit die Himmelschlüssel im Wald nicht umsonst blühen und keine Frau und kein Mann umsonst Briefe schreibt, die niemals ankommen. Und niemand mehr an Orte reisen muss, an die man nie wollte.
Sie haben mich heute eingeladen, als Bischöfin zu Ihnen zu sprechen. Und ich möchte an dieser Stelle Worte eintragen in die gegenwärtigen Debatten um Krieg und Frieden, die schon tausende Jahre vor uns Menschen immer wieder neu ausgerichtet und fokussiert haben.
Es sind Worte der Propheten der jüdischen und christlichen Bibel. Sie haben in – ebenfalls – unfriedlicher Zeit – umfassende Friedensvisionen eingetragen. In Sprache geformt, was sie glaubten. Was ihnen Anker war und Richtschnur in schweren Zeiten.
Jesaja 2: „Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 4 Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Die, die vor uns gelebt haben, wussten: Wir Menschen brauchen solche Hoffnungsbilder. Trauen wir also den Bildern, die bereits Jahrtausende überdauert haben. Generationen um Generationen vor uns haben sie gelesen. An Küchentischen, in Kirchen, in großer Not. Nicht als Ausflucht. Nicht als Verdrängung der Realität.
Aber als Erdung in dem, was trägt. Als Stärkung unserer Resilienz in dem Wissen, dass auch wir nur in diese Zeit hineingestellt sind. In aller Demut und im Wissen um unsere Begrenztheit.
Ich möchte Sie heute einladen, diese alten Worte auch zu sich sprechen zu lassen.
Denn, sehr geehrte Damen und Herren, Frieden ist ein hohes Gut. Gerade heute an diesem Gedenktag machen wir uns das erneut bewusst. Deshalb brauchen wir Bilder, die größer sind als das, was uns die Wirklichkeit erzählt.
Und es ist an uns allen, je in unseren Funktionen und an unseren Orten dafür einzustehen, dass wir uns unserer Verantwortung stellen, die Vision eines Lebens im Frieden nicht aufzugeben, sondern an ihr festzuhalten. Ob in der Bundeswehr, in der Politik, in Gesellschaft und Kirche. Niemand von uns kann sich dieser Verantwortung entziehen mit dafür zu sorgen, dass unsere Kinder und Kindeskinder in eine Welt hineinwachsen, die von Frieden und Freiheit geprägt ist. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir nicht nur verteidigungsfähig werden, sondern gerade darin auch friedensfähig bleiben.
Der zwischen 1943 - 45 im KZ Flossenbürg inhaftierte und später ermordete evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb in einem seiner Briefe aus der Haft:
„Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen. Es ist sehr viel leichter, eine Sache prinzipiell als in konkreter Verantwortung durchzuhalten.“
Vergessen wir gerade heute nicht die mahnenden Stimmen derer, die vor uns gelebt haben. Vergessen wir nicht die Erzählungen derer, die wissen, was Krieg heißt. Damals und heute.
Ziehen wir uns nicht aus der Affäre.
Denn es geht um viel in diesen Zeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.