"Bauen an einer gnädigen Gesellschaft"

Reformationsempfang der Nordkirche in Greifswald mit rund 170 Gästen

v.l. Landesbischof Gerhard Ulrich, Justizministerin Katy Hoffmeister, Weihbischof Dr. Matthias Heinrich (Berlin)
v.l. Landesbischof Gerhard Ulrich, Justizministerin Katy Hoffmeister, Weihbischof Dr. Matthias Heinrich (Berlin) © Annette Klinkhardt / Nordkirche

31. Oktober 2018 von Annette Klinkhardt

Greifswald. Mit einer Geistlichen Besinnung im Greifswalder Dom St. Nikolai und einem festlichen Empfang im Pommerschen Landesmuseum feierte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland heute (31. Oktober) den Reformationstag. Am 31. Oktober im Jahr 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen zur Erneuerung der damaligen Kirche.

Landesbischof Gerhard Ulrich hielt den Festvortrag, seine Kollegen im Sprengel Mecklenburg und Pommern, Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit und Bischof Dr. Andreas v. Maltzahn, feierten eine Andacht im Dom. Bischof Abromeit predigte zu einem Vers aus dem Galaterbrief des Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“. Dabei beschrieb er, wie eine erstrebte unbegrenzte individuelle Freiheit tatsächlich zu Angst und Unfreiheit führe. Dagegen habe Martin Luther vor 500 Jahren in den Schriften des Paulus eine ganz andere Art von Freiheit wiederentdeckt, nämlich die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘: „Die Freiheit, zu der ich durch Jesus Christus befreit werde, bedeutet nicht, dass ich machen kann, was ich will. Vielmehr ist derjenige, der immer nur das tut, was er will, zutiefst versklavt durch sein eigenes Ich. Er droht, der Wolf des Menschen zu werden. Frei bin ich nicht nur für mich, sondern gerade dann, wenn ich auch für andere frei bin. Darum gehören die herrschaftliche Freiheit und der Dienst für den Nächsten zusammen.“ Die Andacht begleitete Landeskirchenmusikdirektor Frank Dittmer an der Orgel und das FrauenChorEnsemble St. Nikolai aus der Universitäts- und Hansestadt.

Für die Nordkirche begrüßte Dr. Andreas Tietze, der Präses der Landessynode, die Gäste des Empfangs im Pommerschen Landesmuseum. Tietze hob hervor, dass der Reformationstag eine allgemeine gesellschaftliche Bedeutung gewinnen müsse: „Als gesetzlicher Feiertag wird dem Reformationstag eine Bedeutung zugesprochen, die über das traditionell kirchliche Interesse an diesem Termin weit hinausgeht. Dieser Tag kann seine gesellschaftliche Bedeutung dadurch gewinnen, dass für die heutige Zeit relevante Aspekte der Reformation thematisiert und diskutiert werden.“ Als Beispiel nannte der Präses die Behauptung der Würde des einzelnen Menschen, ein bereits für Luther wichtiges Anliegen. Tietze: „Wenn in unseren Tagen Menschen, die in Deutschland eine Zuflucht suchen und eine Existenz aufbauen wollen, diffamiert und ausgegrenzt werden, ist der Reformationstag eine Gelegenheit, dies zum Thema zu machen und für ein besseres Miteinander und eine gesellschaftliche Erneuerung im Sinne unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung einzutreten.“

Den Festvortrag hielt Landesbischof Gerhard Ulrich. Dabei ging er der Frage nach „Wie bekommen wir eine gnädige Gesellschaft? Die politischen Folgen von Luthers Frage nach dem gnädigen Gott“. Der Landesbischof stellte zunächst die ernüchternde Gegenwartsdiagnose einer „gnadenlosen“ Gesellschaft: „Wir leben in einer Gesellschaft, die getrieben ist von dem Gedanken der Selbsterlösung durch Selbstoptimierung. Und von der Erlösung jedes Einzelnen auf diesem Weg. Durch dieses ökonomistische Denken verwechseln wir die Gesellschaft und uns selbst mit einem Unternehmen, in das wir nur investieren müssten: Geld, Ressourcen, Energien. Dann können wir möglichst viel aus ihr und uns wieder herausholen.“ Als Beispiel der herrschenden Gnadenlosigkeit führte er den „zunehmenden Rückgang des Respekts vor dem Anderen“ an: „Im Schutz der Anonymität der sozialen Medien fühlen sich Menschen zunehmend ermutigt, mal so richtig ‚die Sau rauszulassen‘, dem anderen mal so richtig die Meinung zu geigen und dem Hass freien Lauf zu lassen – ungebremst.“ Gegen den derzeitigen Machbarkeits- und Selbstoptimierungswahn stellte der Landesbischof Luthers Erkenntnis, „dass wir aus Gnade leben, dass wir uns also verdanken.“

Dies betreffe jedoch nicht nur das Individuum, sondern ist laut Ulrich „eine eminent politische Erkenntnis, eine Botschaft an die Gesellschaft: Grenzen, Fehler und Makel gehören dazu. Zu mir und zu allen anderen - derer Gott sich gnädig annimmt.“ Aus dieser Erfahrung der göttlichen Gnade heraus könne der einzelne daran gehen, „eine gnädige Gesellschaft zu bauen“: „Wir könnten versuchen, unsere Urteile über die Welt und den Nächsten nicht zuerst aus dem zu gewinnen, was ihm oder ihr alles fehlt, was also in unseren Augen defizitär ist, sondern zuerst staunen über die Fülle, aus der wir leben und die sich in jedem Menschen – stark oder schwach, von hier oder von weit weg – spiegelt. Wir könnten, statt uns ängstlich abzugrenzen, neugierig sein. So würde Neues möglich.“ Der Landesbischof leitete den Begriff der Gnade etymologisch vom mittelhochdeutschen „Genaade“ her, was auch die Bedeutung „sich niederlassen um auszuruhen“ hat und hob von daher die Bedeutung von „Atempausen in der Gesellschaft“ hervor: „Auch darum bin ich froh und dankbar, dass der Reformationstag nun in ganz Norddeutschland gesetzlicher Feiertag ist. Diese Feiertage setzen auch Reflexionsfähigkeiten frei, um uns zu vergewissern, woher wir kommen, was unsere gemeinsamen Werte sind, was schützenswert ist.“

Justizministerin Katy Hoffmeister nannte im Grußwort der Landesregierung die Nordkirche einen „wichtigen Partner“ insbesondere im Bereich der Bildung: „Unser Gemeinwesen heute, allem voran das Erziehungs- und Bildungswesen, ist ohne die christlichen Kirchen nicht denkbar. Sie sind ein wichtiger Partner des Staates im Bereich der Kindererziehung, der Schule und Ausbildung. Mit ihren vielfältigen Angeboten von Kindertagesstätten über Schulen bis hin zu Hochschulen nehmen sie eine hohe Bildungsverantwortung wahr und stellen sich in vielfältiger Weise den Herausforderungen unserer Zeit.“

Mit der schier unendlichen Informationsflut seien nach den Worten der Ministerin, heutzutage viele Menschen überfordert. Der Wunsch nach Orientierung und Halt wachse. „Bei manchen“, so Katy Hoffmeister, „äußert sich das auch im Wunsch nach Abschottung. Schon im Kindesalter sollten Menschen daher lernen, sich zurechtzufinden und Seriöses von Unseriösem zu unterscheiden. Ich baue darauf, dass die evangelischen Kirche in diesem Bereich Bildung ein verlässlicher Partner der Politik bleiben.“

 

In seinem Grußwort erinnerte Weihbischof Dr. Matthias Heinrich (Berlin) an das Reformationsjubiläum, das er als eine „Zäsur in der Geschichte unserer Kirchen“ versteht. Unter Bezug auf das „Healing of Memories“, eines Prozesses der Versöhnung zwischen katholischer und evangelischer Kirche, sagte er: „Nie zuvor habe ich so deutlich erlebt, wie sich die Grenzen zwischen den konfessionellen Milieus abbauen und das Verbindende im Vordergrund steht, genauer gesagt, der uns Verbindende - Jesus Christus.“ Daraus entstehe aber eine bleibende Herausforderung: „Aus der Erfahrung der Kirchengeschichte können und müssen wir Christen darum einen Beitrag leisten für den sozialen Frieden und für eine versöhnte Verschiedenheit in Deutschland, in Europa und in unserer Welt.“

Der Empfang wurde musikalisch umrahmt vom Jazztrio der Musikfabrik Greifswald und Sängerinnen des Domjugendchors.

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