9. November 2019 | Dom zu Ratzeburg

Schwerter zu Pflugscharen – biblische Vision von Gerechtigkeit und Frieden 1989, heute und in Zukunft

09. November 2019 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Predigt im Ökumenischen Gottesdienst zum 9. November 2019 zu Micha 4

Liebe Schwestern und Brüder,

ach, der Herbst in Deutschland. Wunderschön kann er sein: Herbstlich warme Sonnenstrahlen. Ein ruhender See im Morgennebel. Und eine einzige Explosion der Farben an Bäumen und Blättern.

Ach, der Herbst in Deutschland: Zum Fürchten kann er sein. Morgen- und Abendstunden, in denen man die Hand nicht vor Augen sieht. Nebelwände, Nieselregen. Und feuchte Kälte zieht durch alle Ritzen.

Ach, der deutsche November. Wunderschön kann er sein: Vor 30 Jahren führt der friedliche Einsatz für Demokratie und Menschenrechte zur Überwindung von Unterdrückung, von Unrecht und Unfreiheit. Die Friedliche Revolution bricht sich Bahn - ermutigt von den Freiheitsbewegungen in Teilen Osteuropas, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn. Tage so großen Mutes, Tage unglaublicher Freude. Und irgendwo sitzt ein Mann einer kurz zuvor noch gefürchteten Diktatur und starrt auf den Zettel in seiner Hand: „Das tritt nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich", so hat er gesagt. Menschen schließen sich in die Arme. Und sofort gehen Menschen über die Grenze von Ost nach West. Erst vorsichtig, zögernd, aber sehr schnell sicher und selbstbewusst. In noch ungeübter, aber in der Wochen, Monate, Jahre zuvor errungenen Freiheit. Und niemand kann sie mehr hindern. Trabis und Wartburgs überqueren in endloser Folge die Grenze. Und auf der so lange trennenden, der schrecklichen Mauer tanzen und jubeln Frauen und Männer aus Ost und West bis in den frühen Morgen. Können kaum fassen, was geschieht. „Freiheit, Freiheit ist das einzige, was zählt....“

Ach, der deutsche November. Zum Fürchten kann er sein: Vor 81 Jahren Hass und Gewalt in den Novemberpogromen. Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens wurden erniedrigt, geschlagen, verfolgt, gejagt und ermordet. Tage des Verbrechens im November 1938, denen Tage noch größerer Verbrechen und unermesslicher Schuld folgen sollten. Millionenfaches Morden und Töten

in deutschem Namen über Jahre hinweg nahm seinen brutalen Anfang. Und ebenso begann das Wegsehen, das Billigend-in-Kauf-nehmen, das Schweigen, Mitmachen, Profitieren, Leugnen, das nicht-wissen-und-auf-immer-vergessen-Wollen. Und hält bei manchen an bis heute. Ein Viertel aller Deutschen teilt in diesem, dem 81. Jahr nach den Novemberpogromen, nach der Shoah, nach Ausschwitz, antisemitische Gedanken. Manche von diesem Viertel teilen diese Gedanken noch immer - und sehr viele andere schon wieder. Ach, ach, ach - Gott und den Menschen sei es geklagt.

Ach, diese deutschen Novembertage. In ihren Ambivalenzen und Spannungen sind sie kaum auszuhalten. Während wir in diesen Wochen der Friedlichen Revolution gedenken, froh und dankbar sind für den erfolgreichen, mit hohem persönlichen Risiko verbundenen Einsatz so vieler Menschen für Bürgerrechte, für Demokratie und Freiheit damals und während wir heute die Öffnung der innerdeutschen Grenze vor 30 Jahren feiern - während wir all das tun, werden zugleich die Sicherheitsvorkehrungen vor Synagogen und jüdischen Einrichtungen verschärft, weil aus mit Hass, Rassismus und Antisemitismus erfüllten Worten, aus Beleidigungen und tätlichen Übergriffen grausame Morde geworden sind.

Zu diesen Herbsttagen gehört aber auch, dass viele Menschen in Ost und West zusammenstehen gegen Hass und Hetze, gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Antiislamismus. Dass sie sich gegen Rechtsextremisten und Populisten zur Wehr setzen, Solidarität und Verbundenheit zeigen mit denen, die angegriffen werden - in Worten und Taten. Ermutigend ist das und gut und schön. Und bitter nötig inmitten von all der Hetze und all der Wut, die wie Gift in die Seelen kriechen. Denn so viel unbestimmte Wut ist in der Welt. Eine unbestimmte Wut auf die Welt, auf alles und jeden. Eine Wut, die der Philosoph Hans Blumenberg für die Quelle des Totalitarismus hielt. Wenn Sinn und Ziel des Lebens verloren gehen, wenn es keine gemeinsamen Ziele und Visionen für das Zusammenleben gibt, wenn Teilhabe und Gerechtigkeit vermisst werden, dann machen sich Enttäuschung und Zorn breit. Und es wird nach den daran angeblich Schuldigen gesucht.

II

Als sich Menschen vor 30 Jahren in der damaligen DDR auf die Straße gewagt haben, um ihre Freiheit zu erobern, um sich Diktatur und Unfreiheit zu widersetzen, erklang immer wieder ein Ruf: „Keine Gewalt.“ Keine Gewalt - das hieß: Wir beantworten erfahrene Gewalt nicht mit Gegengewalt. Wir widerstehen, wir widersetzen uns Unterdrückung und Unfreiheit, aber wir wenden keine Gewalt an. Und durchbrechen damit die nur allzu bekannten Kreisläufe von Rache und Vergeltung. Für viele war damals eine biblische Vision leitend, die für Juden und Christen gleichermaßen zu den großen Verheißungen ihres Glaubens zählt. Eine Vision des Propheten Micha. In ihr heißt es: Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.

Dass Schwerter zu Pflugscharen werden, das war seit den 1980er Jahren eine Ost und West verbindende Hoffnung. Friedensgruppen, insbesondere in den Kirchen, setzten sich mit der Frage auseinander, wie es über trennende Grenzen hinweg zu Versöhnung und Frieden kommen kann. Die Partnerschaftsarbeit der Kirchen auch zwischen Ost und West im geteilten Deutschland trug viel dazu bei, dass die Mauer schon lange vor ihrem Fall durchlässiger wurde. Und in den zeitgleich begangenen Friedensdekaden leisteten die gemeinsamen Themen, der Austausch, Gebet und Fürbitte einen entscheidenden Beitrag dazu, miteinander im Kontakt zu bleiben, sich nicht trennen zu lassen, gemeinsam unterwegs zu sein.

III

Das Friedensthema hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Morgen beginnt die diesjährige ökumenische Friedensdekade. Sie steht unter der Überschrift „Friedensklima“. Viele der jungen Leute, die weltweit bewegt sind von den globalen Klimaveränderungen, treibt auch die Angst um, dass diese Klimaveränderungen zukünftig noch mehr die Ursache für kriegerische Auseinandersetzungen sein werden. Für den Kampf um Ressourcen, den Zugang zu Wasser. Vor wenigen Tagen war ich im Gespräch mit Vertretern aus unseren Partnerkirchen in Afrika, Europa, Südamerika. Einer unserer Partner sagte: „Ihr beschäftigt euch mit den Plastikflaschen in den Ozeanen. Okay - das ist sehr wichtig. Aber wir in unserem Land haben Angst, dass der Krieg zu uns kommt. Dass wir mit unseren Kindern fliehen müssen. Plastikflaschen im Ozean, haben gerade nicht unsere höchste Aufmerksamkeit. Wir müssen uns mit ganz anderen Fragen beschäftigen. Wir bitten euch, tut etwas gegen die Plastikflaschen im Ozean, aber tut auch etwas gegen Waffenexporte und Aufrüstung. Denn diese Waffen kommen auch aus eurem Land und sie töten - jetzt.“

Die Maueröffnung vor 30 Jahren wäre wohl nicht möglich geworden, ohne dass sich Menschen schon Jahre und Jahrzehnte zuvor mit friedlichen Wegen zur Überwindung von Gewalt, Unterdrückung und Unfreiheit beschäftigt hätten. Beharrlich, geduldig, friedlich. Die Friedliche Revolution konnte auch deshalb friedlich bleiben, weil es Menschen gab, die in Friedens- und Umweltgruppen Formen des friedlichen Protestes und der Gewaltfreiheit eingeübt hatten. Die andere mit dieser Haltung überzeugt haben. Die diese Haltung vorgelebt haben. Die gezeigt haben, was es heißt, wenn man das wirklich ernst meint: „Schwerter zu Pflugscharen“.

Im 30. Jahr der Friedlichen Revolution ist es an der Zeit, dass wir uns erneut und verstärkt dem Frieden widmen. Dem gesellschaftlichen Frieden in unserem Land, unserem Zusammenleben und unserem Miteinander. Und dem Frieden weltweit, der weder zu trennen ist vom Thema der globalen Klimaveränderungen noch davon, mit welchen wirtschaftlichen Interessen wir selbst an Aufrüstung und Waffenexporten beteiligt sind. Wir müssen uns der Frage widmen, wie wir selbst beitragen können zu einem „Friedensklima“, in unserem Zusammenleben hier ebenso wie weltweit. Das ist das neue und zugleich ach so alte, das uns alle verbindende Thema in Ost und West, in Nord und Süd.

IV

Ach, der Herbst in Deutschland. Weil wir die Schrecken und die Unmenschlichkeit erlebt haben, die Ausgrenzung, Hass und Krieg bedeuten, lasst uns nicht nachlassen darin, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten. Weil wir die Folgen von Trennung und Teilung, von Unfreiheit und Unterdrückung erlebt haben, lasst uns nicht aufhören damit, beieinander zu bleiben, immer wieder das Verbindende und Gemeinsame zu suchen. Und Trennendes zu überwinden - gerade heute.

In der Vision des Propheten Micha sollen alle genug zum Leben haben. Keiner lebt auf Kosten des anderen. Und niemand wird geängstigt, erschreckt, verfolgt. Die Vision des Propheten von Gerechtigkeit und Frieden schenkt Freiheit für Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Und sie entfaltet ihre Kraft. Sie hat es getan. Sie wird es wieder tun. Hört nur auf seine Worte, traut ihnen nur - so soll es sein, so wird es sein: Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.

Amen.

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