17. Juli 2016 | St. Andreas Schlutup

Singen ist eine Hoffnungssprache

17. Juli 2016 von Kirsten Fehrs

8. Sonntag nach Trinitatis, Gottesdienst und Chorfest der Nordkirche, Predigt zu Epheser 5, 8b-14

Liebe Schwestern und Brüder!

„Ich hebe meine Augen auf…“ So beginnt das schönste und älteste Segenslied der Bibel, der 121. Psalm. Wir haben ihn eben gemeinsam gebetet. Denn Segen steht allem voran. Diesem schönen Chorfest allemal – mit seiner grandiosen Stimmung, pfiffigen Posaunen, 26 Chorateliers, 3.000 Sängerinnen und Sängern, dazu 300 Jugendliche – was für ergreifend schöne Musik haben wir eben hier hören dürfen von dem Jugendchor aus Estland! Ich bin so dankbar und froh, dies mitzuerleben und bei Ihnen in Schlutup zu sein. (Als übrigens die Gottesdienste für dieses Chorfest zwischen uns Bischöfen aufgeteilt wurden, habe ich sofort nach Schlutup gewollt – so viel Gutes verbindet uns, so auch heute!).

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“

Der Psalm kennt auch das Seufzen. Und trifft heute Morgen das andere Gefühl, das uns bewegt: die Trauer. Pastor Schäfer hat es eingangs aufgenommen. Man kann doch wirklich klagen, dass nun schon wieder der Terror ins Leben eingreift. So furchtbar viele Tote und Verletzte in Nizza. Ermordet von einem Fanatiker. Was ist das bloß für eine verkehrte Welt. Männer, Frauen, so viele Kinder, aus dem Leben gerissen, mitten aus einer fröhlichen Feier. Und es stockt einem der Atem und man fragt sich: Darf man da singen? Im Angesicht des Todes?

Und ich denke an Paris, Brüssel, die vielen Anschläge in den letzten Monaten. Angelegt darauf, Sicherheit, Lebensfreude, unsere Herzlichkeit bis ins Mark zu treffen.

Darf man da einfach so singen?

Ja, liebe Geschwister. Und wir dürfen nicht nur, wir müssen singen.

Für all die, die ihre Freude verloren haben.

Wir müssen ansingen gegen den Tod. Die Einschüchterung. Singen und wach werden und aufstehen von den Toten, so wie es in unserem Predigttext heißt. So wird uns Christus erleuchten.

Keine Angst! Lebt als Kinder des Lichts! Und deshalb hebt die Augen auf zum Licht und singt. Denn das Singen – und allzumal das gemeinsame Singen - holt uns den Himmel auf die Erde herunter; der Chor hat es uns eben gezeigt. Das Singen macht klar, buchstäblich mit jedem Atemzug, dass es eine Dimension gibt, die über und zugleich in mir ist. Eine Dimension voller Weite. Frieden. Freiheit. Klang. Hebe deine Augen auf – beim Singen ist man aufgerichtet. Das geht gar nicht anders. Und deshalb ist Singen viel mehr als das Reden in Tönen. Singen ist eine Hoffnungssprache, die die Welt braucht. Weil sie über das hinaussingt, was jetzt ist. Sie ist „aufrichtig“, voller Ehrlichkeit. Kein Trallala über die Nöte hinweg. Sondern eine Sprache mit Tiefe. Im Glauben, dass es gut werden wird. Und das heißt ja: Singen kommt aus dem Herzen. Deshalb hat man dabei oft so tiefe Gefühle. Und es verbindet uns mit dieser Dimension, die wir „nicht im Griff“ haben und auch gar nicht haben müssen.

Der Mensch auf diesem Bild hier hebt auch seine Augen auf. Seine Hände sind gen Himmel gehoben, von dem ein helles Licht strahlt. Es ist eine Geste wie ein Gebet. Gerade hat er eine Taube aus seinen Händen entlassen. Ist das nicht ein wunderbares Bild für die Vision, liebe Gemeinde, das es hinter dem Horizont weiter geht? Und dass der Geist der Freiheit in die Welt will? Eine Taube gen Himmel. Wie die Taube, die einst – nach der großen Sintflut - mit einem Palmzweig zu Noah zurückkehrt, um zu zeigen, dass neues Leben möglich ist.

Und Frieden!

Denn die Mauer ist gefallen.

Keine Angst mehr. Diese massive Einengung, Unfreiheit, die Schatten der Zertrennung – der große Betonquader zeugt davon – ist gebrochen.

Sie wissen es genau, liebe Gemeinde, das Bild wurde gar nicht weit von hier, am ehemaligen Grenzübergang aufgenommen. Und sicherlich erkennen Sie auch den Mann, Björn Engholm - aber das tut eigentlich nichts zur Sache, würde er selbst in aller Bescheidenheit sagen. Und eigentlich wäre er just zu einer anderen Verpflichtung unterwegs, wäre da nicht, ja wäre da nicht die Lufthansa, die ausgerechnet seinen Flug gestrichen hat… willkommen, lieber Herr Engholm, ich freue mich so, dass Sie heute live und in Farbe hier sind!

Und nicht allein Sie, auch die junge Fotografin: Herzlich willkommen, liebe Alexandra Ulleweit aus dem Fotoclub „Lichtwerker“ des Lebenshilfewerks Mölln-Hagenow. Sie hat dieses tolle Bild zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit gemacht, aus ihrer besonderen Perspektive im Rollstuhl. Und sie hat dem Bild einen sehr treffenden, prägnanten Titel gegeben: „Frei“.

Frei. Das kann man wohl sagen. Und unser Predigttext fügt hinzu: Es ist das Licht, das frei macht. „Habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, deckt sie vielmehr auf“. Und weiter: „Alles aber wird offenbar, wenn’s vom Licht aufgedeckt wird.“ Wie das stimmt! Sie haben es ja hier Schlutup hautnah erlebt! Wie jene Atmosphäre des Verschweigens, der Bespitzelung, der erstickenden Ideologie vor mehr als einem Vierteljahrhundert dazu führte, dass die Menschen es nicht mehr ausgehalten haben hinter jener Mauer. Und als man sich immer öfter traf zum Friedensgebet und schließlich hinausdrängte aus den Kirchen, hinaus auf die Straße, da wurde auch - gesungen. „Sonne der Gerechtigkeit“ oder „We shall overcome“ … Gemeinsames Singen macht stärker, mutiger, wacher. „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“

Dass das Singen nicht nur wach, sondern frei macht, buchstäblich – dafür stehen Sie, liebe Frau Raitmaa mit Ihrem wunderbaren Chor heute besonders! Denn die singende Revolution der Esten, Letten und Litauer – sie ist sprichwörtlich geworden. Hunderttausende Balten kamen nämlich Ende der 80-er Jahre in einem riesigen Chor zusammen, so es wie einst einmal Tradition war. Doch nun: Gegen Sowjetpanzer hebet die Stimme! Und die Augen auf. Singen wurde eine unglaublich kraftvolle Form gewaltlosen Widerstands – und es hat tatsächlich frei gemacht! Deshalb auch können wir heute und hier gemeinsam feiern, Esten und Deutsche, in singender Gemeinschaft. Ohne trennende Zäune und Mauern.

Und wenn man dann auf dieses Bild schaut und den Epheserbrief dazu liest, ist so klar, dass hier Vergangenes auf Zukünftiges weist. Hin zu einer neuen Perspektive. Zu einer neuen Öffnung. Das Licht ist nämlich nicht allein für sich strahlend, es bringt etwas in uns hervor: „Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“ Heißt: Es verändert uns. Nichts weniger.

Würden diese Botschaft doch die Ängstlichen unserer Tage hören! Gerade jetzt, wo so viel Hass verstört und immer neue Grenzen und Zäune aufgerichtet werden. Wo auch so ein unsäglicher Brexit sich einreiht in eine Welle von Angst (wovor eigentlich wirklich?) mit einem weitverbreiteten Misstrauen gegen „die da oben“. Und mit einer Fremdenfeindlichkeit – in ganz Europa.

Nein, lebt als Kinder des Lichts! Wir sind aufgerufen, von Christus her, für das Leben Protest einzulegen, mit Worten, mit Gebeten, mit Liedern. Anzusingen gegen Hoffnungslosigkeit. Einzutreten für die Freiheit. Auch der Religionen. Denn diese Religionsfreiheit, liebe Gemeinde, diese unentwegte Übung der Toleranz ist ein so hohes Gut in unserem Land, wenn nicht gar das höchste. Liegt doch in der Religion eben nicht vor allem Konflikt, sondern im Gegenteil die Lösung von Konflikt. Deckt sie auf, die Finsternis der Fanatiker, die mit ihren Ideologien den Kern unserer Religionen verdunkeln!

Sehr eindrücklich habe ich am vergangenen Sonntag in einer Gemeinde in Hamburg erlebt, was das heißt.  Dort hatte ich die große Freude, bei der Taufe von 13 Geflüchteten aus dem Iran bzw. Afghanistan mitzuwirken. Wohlgemerkt nach einem halben Jahr intensiver Auseinandersetzung mit unserem Glauben, wobei nicht selten der Pastor und die Christen ins Schwitzen gerieten. Denn das ist ja sowieso alles nicht so einfach mit der Verständigung der Kulturen. Und dann erklären Sie mal unsere christliche Religion so, dass man auf Farsi Fragen beantworten kann wie: Wieso hat die Bibel so viele Bücher und nicht nur eins? Wie kann es sein, dass der eine Gott zu dritt ist? Warum nur betet einer vorn, wenn doch alle etwas auf dem Herzen haben? Solche Fragen haben wir uns schon lange nicht mehr gestellt, will mir scheinen. Kurzum: Endlich, endlich kam dann die Taufe. Und die war so feierlich! Innig. Alle aufgeregt. In den besten Kleidern. Dann: Lesung auf Farsi, das Evangelium in plattdeutsch. Verleih uns Frieden und persische Musik. Interkulturelle Öffnung auf norddeutsch.

Als ich später die Täuflinge fragte, was sie in dem Moment der Taufe empfunden haben, sagt einer: Freiheit, das war das erste Gefühl! Religion hat nichts mehr mit Zwang, Strafe, Bedrängnis zu tun wie in der Heimat. Eine andere ergänzte: Sie dürfe denken als Christin! Auch den Glauben! Nachfragen, interpretieren. Eine dritte rührte uns alle an: In dem Moment der Taufe sei ihr die Würde wieder zurückgegeben worden-. Und schließlich der Vierte: „Als Pastor Andreas mir mit dem Wasser das Kreuz auf die Stirn zeichnete, hatte ich plötzlich keine Angst mehr.“ – Kinder des Lichts.

Und dann sind sie aufgestanden, einer nach der anderen, und haben spontan angefangen zu singen.  Ein persisches Lied. Aus der Heimat. Es war dort verboten zu singen. Ein Lied von der Liebe Gottes. Liebe, die bleibt, wenn der Mensch wächst und vergeht. Die bleibt, wenn er träumt und zweifelt, wenn er liebt und begehrt, wenn hinfällt und wieder aufsteht.  Singen - und die Angst ist vorbei. Singen, und die Finsternis weicht. Das Licht des Lebens scheint ganz hell. Und ich höre unsere Musik hier heute und denke: Ja. Sie ist Freiheit. Unsere Zukunftsmusik! Es ist Musik derer, die den Blick nach oben heben. Weil sie von der Liebe wissen, die in unseren Herzen wohnen will. Ubi caritas – wo die Liebe wohnt, da wohnt Gott. Hier in Schlutup, in Estland, in euren Herzen und Sinnen. Sie bewahre der Friede Gottes, höher als all unsere Vernunft, in Christus Jesus.

Amen.

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