"So singen Engel"
10. Juni 2024
Liebe Freundinnen und Freunde der Bachwoche, liebe Gemeinde, intensive Tage liegen hinter uns voller himmlischer Klänge, berührender Momente, großartiger Musik. All dies wieder, ja natürlich, durch Konzerterlebnis, aber eingebettet in den Rhythmus geistlichen Lebens von Morgengebet und Morgenmusik bis zum Nachtgebet. Dieser Rhythmus mündet mit großer Selbstverständlichkeit in diesem Festgottesdienst. Bischof in Greifwald zu werden hat sich allein schon durch das Privileg gelohnt, Vorsitzender des Kuratoriums der Bachwoche sein und im schönsten Gottesdienst des Jahres predigen zu dürfen.
Ohne es uns immer bewusst zu sein, haben wir uns in den vergangenen Tagen in vier Zeitebenen bewegt. Basis war selbstverständlich die Barockzeit mit den Kompositionen ihres größten Meisters. Bei Bachs Vokalmusik haben wir uns immer wieder die biblischen Grundlagen bewusst gemacht und die Zeit Jesu und der Hebräischen Bibel wurden lebendig. Trotz allen Kulturgenusses brachen immer wieder die drängenden Themen der Gegenwart in unser Herz und Hirn. Und dieses Jahr nun noch eine vierte Ebene: Bach romantisch. Im Jubiläumsjahr Caspar David Friedrichs haben wir über die Wiederentdeckung Bachs in der Romantik nachgedacht und mehr romantische Musik gehört als sonst.
Diese vier Zeitebenen möchte ich mit Ihnen auch im Blick auf die soeben gehörte Kantate durchreisen. Wir starten diese Zeitreise im Barock Johann Sebastian Bachs. Bach ist 1723 das erste Jahr in Leipzig. Beim Wechsel zum neuen Rat der Stadt wird am 30. August 1723 sonntäglicher Gottesdienst gefeiert als Dank an Gott für den Einsatz der Gehenden und Segensbitte für die Kommenden. Diese sogenannte Ratswahl hat wenig mit Demokratie zu tun. Das sogenannte stehende, also aktive Ratskollegium, wird gegen eines der beiden sogenannten sitzenden Kollegien ausgetauscht, ein jährliches Ritual, sichtlich mit viel Pomp. Mit gesundem Selbstbewusstsein und barockem Überschwang wird Leipzig so im Eingangsrezitativ als der Ort gepriesen, „woselbst der Herr sein Herd und Feuer hat“. Hier also sichtlich ist die Wohnstatt Gottes, der an seinem Heimatort dafür sorgt, dass Gerechtigkeit und Friede einander küssen. Wenn das so ist, kann man nur schwärmen: „Gesegnet Land, glücksel’ge Stadt!“
Gott selbst ist folglich himmlischer Oberbürgermeister, der Stadtrat immer dann weises Regiment und kluge Obrigkeit, wenn er sich ganz an den göttlichen Geboten orientiert. „Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild“, konstatiert die Arie des Alt; da scheint kein Blatt Papier zu passen zwischen dem liebenden Schöpfer und der sächsischen Stadtpolitik. In dieser so direkten Identifikation von göttlichem und weltlichem Regiment liegen aber auch alle Gefahren eines Gottesstaates; 90 Jahre nach der Barmer Theologischen Erklärung und dem Versagen der Kirchen in der Nazizeit bleiben einem solche Sätze eigentlich im Halse stecken.
Wunderbar formuliert das Sopran-Rezitativ Freud und Leid des Ratswechsels. Gott sei zu loben,
Zumal, nachdem der heut’ge Tag,
Der Tag, den uns der Herr gemacht,
Euch, teure Väter, teils von eurer Last entbunden,
Teils auch auf euch schlaflose Sorgenstunden
Bei einer neuen Wahl gebracht.
Für die Ratswahlkantate Bachs ist der Weg kurz vom himmlischen Regieren Gottes zur Stadtpolitik. Ja, je dichter sich beide kommen, desto wohler geht es der Stadt. Insofern ist der Ratswechsel Anlass für pompöse Festmusik mit Pauken und sogar vier Trompeten und für hohes Gotteslob. Der Neuling in Leipzig fährt alles auf, was ihm zur Verfügung steht.
Anlass für uns, in der Zeitreise noch weiter in die Vergangenheit zu schauen. Der Eingangschor unserer Kantate zitiert Psalm 147. „Preise, Jerusalem, den Herrn, lobe Zion, deinen Gott! Denn er machet fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder drinnen, er schaffet deinen Grenzen Frieden.“ Doch wir wissen gar nicht exakt, wo wir historisch genau landen. Vermutlich wird Jerusalem hier hoch gelobt zum Zeitpunkt, als die ins Exil Vertriebenen in ihre Stadt zurückkehren dürfen.
Sollte das stimmen, ist dieser Psalm allerdings die pure Schönfärberei. Denn die Exilierten finden mit Jerusalem einen seit Jahrzehnten vegetierenden Trümmerhaufen vor. Die meisten Wohnhäuser zerstört, ebenso Palast und Tempel. Jerusalem war damals und ist und bleibt Zankapfel der Völker und Religionen, von wechselnden Herrschern regiert, selten in Ruhe, bis heute. So ist dieses hohe Lob, wie oft in der Bibel, kein einfaches Abbild der Wirklichkeit. Der Psalm preist Gott für ein Jerusalem, wie dieser es sich wünscht. Und wie Gott es einmal heraufführen wird als seine ewige Stadt. Das Gottvertrauen und die Hoffnung auf Gottes strahlende Zukunft geben dem Psalmbeter Kraft für eine schwer zu ertragende Gegenwart. Ein bleibender Grundgedanke beim Lobpreis Gottes: Hymnen auf ihn fußen immer auf erlebter Bewahrung oder Staunen über seine Schöpfungswerke, weisen damit aber auch immer über das Irdisch- Vergängliche hinaus in Gottes unvergängliches Friedensreich.
Bach leiht sich diese hohen biblischen Worte, um seine neue Heimatstadt Leipzig als Stadt Gottes zu loben, gewissermaßen als neues Jerusalem. Sicherlich gilt für das frühe 18. Jahrhundert allerdings Ähnliches wie für die nachexilische Zeit Israels: Das hohe Gotteslob ist nicht einfach Beschreibung der Wirklichkeit, sondern vertrauengesättigtes Hoffnungsbild.
Grund genug für die dritte Station unserer Zeitreise. Wir springen in die Gegenwart. Wir feiern Gottesdienst am Ende einer erfüllenden und begeisternden Bachwoche. Und tun dies an einem Wahltag. Hier in Mecklenburg- Vorpommern sind heute neben den Europawahlen auch Kommunalwahlen. Mit weit deutlicheren Worten als in der Vergangenheit haben Kirchen und Religionsgemeinschaften im Vorfeld dieser Wahlen betont, welch ein Geschenk Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind. Um zugleich aber auch der Sorge Ausdruck zu verleihen, wie bedroht diese hohen Errungenschaften heute wirken.
Wir können nach der Katastrophe der Nazizeit heute nicht mehr einfach wiederholen, dass alle Obrigkeit von Gott kommt, wie Römer 13 es formuliert. Als Christenmenschen sind wir gerufen, wach auf unsere Gesellschaft zu schauen, immer besonders diejenigen im Blick, die unter die Räder zu geraten drohen. Und wir hören nicht auf, davon zu reden, dass jeder einzelne Mensch geliebtes Geschöpf ist, egal mit welcher Hautfarbe, wie reich, jung, gescheit, mit welcher sexuellen Orientierung. So ist dieser Gottesdienst mit dieser Kantate auch glühendes Gebet, dass die heutige Wahl politische Vernunft und Demokratie stärken möge.
Bleibt uns noch die letzte Zeitreise- Station, die Romantik. Wie schön, dass wir Bach dieses Jahr romantisch hatten, uns bewusst geworden sind, dass wir ohne die romantische Wiederentdeckung Bachs kaum hier sitzen würden. Wir haben mehr romantische Musik gehört, viel Mendelssohn. Und wir haben sie gehört vor der Kulisse der überwältigenden Elíasson- Fenster, moderne Vollendung der romantischen Umgestaltung des Doms, der damals unter fleißiger handwerklicher Unterstützung des Bruders von Caspar David Friedrich ein neugotisches Gesicht im Inneren bekam. Und Friedrichs Farben sind es, die durch die Fenster heute den Dom verwandeln.
Am 18. April 1843 erklingt im Leipziger Gewandhaus unsere Kantate. Am Pult steht Felix Mendelssohn- Bartholdy, der Bach- Verehrer. Er hat ein Bachdenkmal vor der Thomaskirche gestiftet, das erste seiner Art, das an diesem Tag eingeweiht wird. So sind wir heute nicht nur mit dem barocken Ratswechsel verbunden, sondern auch mit der im 19. Jahrhundert beginnenden weltweiten Rezeption und Aufführung der Werke des nie erreichten Johann Sebastian Bach. Anders als bei allzu schnellen Vereinnahmungen Gottes für politische Zwecke traue ich mich zu sagen: In der Musik Bachs begegnen wir dem Schöpfer selbst, so singen seine Engel. Sie vermag direkt in unsere Herzen zu dringen und macht uns froh und glaubensfest in stürmischen Zeiten. Ich bin zutiefst dankbar für diese Woche.
Und deswegen möchte ich zum Abschluss der Predigt noch zwei weitere Zeitebenen kurz ansteuern. Heute in einer Woche, am 16. Juni, ist der 50. Todestag von Hans Pflugbeil, dem Vater der Bachwoche. Wer ihn gekannt hat, schwärmt von seinem Charisma. Schwer durch den Krieg verwundet hat er dennoch das älteste Musikfestival unseres Bundeslandes ins Leben gerufen und unter weit einfacheren und schwierigeren Bedingungen jahrelang engagiert geleitet, gemeinsam mit seiner Frau Annelise. Die 28. Bachwoche 1974, vor 50 Jahren, von ihm geplant, begann mit einer Trauerfeier für diesen besonderen Menschen, vor dem wir uns heute erneut verneigen.
Und schließlich: Mit dem heutigen Tag beginnt die Vorfreude auf Bach familiär. Wir treffen uns wieder, nächstes Jahr, um der himmlischen Musik aus dem irdischen Leipzig erneut zu lauschen und uns an ihr zu ergötzen. Denn in ihr begegnen wir dem, der alle Zeit in seiner göttlichen Ewigkeit umgreift. Amen.