Spuren
08. Dezember 2015
Impulsandacht in der Reihe „Anderer Advent“ in der Hauptkirche St. Petri, Hamburg
Liebe Schwestern und Brüder,
Um Spuren soll es gehen, dieses Jahr in dieser Reihe hier in St. Petri, die unserem Sehnen nach einem anderen Advent diesen lichten und freien Raum gibt. Wunderbar.
Der andere Advent, das ist jetzt. Hier mit Ihnen. Mit dieser schönen Musik. Mit einem Moment der Ruhe. Gern auch mit dem Lachen, das wir von den Ständen draußen mitgenommen haben mögen.
Advent – das ist ein Weg nach innen. Mit dem Wunsch anzukommen, vorzugsweise bei sich selbst. Deshalb einen Moment besinnen, eben: auf Spurensuche gehen, wer man ist und wie viele. Was man sich erträumt, wen man liebt, was einen schmerzt, wohin es einen hofft und was in einem arbeitet.
Meine Spurensuche hat mich gestern ins Glück geführt. Genauer: Zu jemandem, der mich vom ersten Moment an, als ich ihn kennen lernte, beeindruckt hat. Mit seiner Fähigkeit, glücklich zu sein hat er buchstäblich Ein-Druck gemacht, so wie ein Fußabdruck auf meiner Lebensstrecke.
Dabei kann er gar nicht laufen.
Nicht mehr.
Samuel Koch ist nach seinem Unfall bei „Wetten dass“ Tetraplegiker. Vom Hals abwärts gelähmt. Für den Akrobaten und Kunstturner das Aus. Dachte man.
Doch für Samuel war und ist das nicht das Aus gewesen. Sicher, es ist ein kompliziertes Leben mit traurigen Momenten und praktischen Problemen, gerade jetzt als ausgebildeter Schauspieler, aber es ist kein auswegloses. Und schon gar kein spurenloses.
Im Sommer 2013 haben wir zusammen eine Bibelarbeit gehalten. Vor dreitausend Menschen im CCH ein freies Gespräch über einen Bibeltext – nicht ganz tiefenentspannend für jemanden wie mich. Aber: Samuel kann nur frei.
So frei sein Geist in einem zerbrochenen Körper.
Immer mal wieder haben wir Kontakt per SMS. Knapp, liebevoll. Samuel eben. „Dauereinladung nach Darmstadt steht. Morgen vielleicht?“ – Das Leben ist jetzt.
Und er, dem oft angeblich mitfühlend gesagt wird „Was für ein Unglück!“, er wartet nun in seinem neuen Buch mit dem Glück auf. Unerwartet glücklich – haben mich diese Gedanken gemacht. Und ich möchte sie gern daran teilhaben lassen, es könnte uns reich machen. Gerade in diesen Zeiten.
Samuel schreibt:
„Wenn man mich heute fragen würde: ‚Bist du glücklich?‘, kann ich das nicht uneingeschränkt mit einem Ja beantworten, so wie früher. Unter dem Rundum-glücklich-Gefühl schwingt immer ein Aber mit. Allerdings erleben vermutlich die wenigsten Menschen ein dauerhaftes, allumfassendes Glücklichsein.
Zeitweilige Glücksmomente habe ich nach wie vor. Wenn ich in der Schweiz bin und ein Skipisten-Bullifahrer von der Bergwacht schnallt mich auf sein Schneemobil und heizt mit irrer Geschwindigkeit die Alpenketten entlang und die Sonne knallt vom schwarzblauen Himmel und die Aussicht ist herrlich – dann empfinde ich Glück.
Oder wenn ich über den Dächern von Verona die ebenfalls herrliche Aussicht auf meine leicht bekleidete Freundin genieße, während wir in einem 37 Grad heißen Whirlpool sitzen und man uns Prosecco reicht.
Es sind aber keineswegs nur extravagante Momente, bei denen ich denke: Meine Fresse, jetzt bin ich wirklich der glücklichste Querschnittgelähmte der Welt!
Manchmal schießt mir auch einfach so durch den Kopf: Ach, ich hab’s gut, wenn ich einen herrlichen Sonnenuntergang sehe oder einen schönen Abend mit Freunden und viel Lachen erlebe. Ich habe zunehmend gelernt, die Lebensqualität im Augenblick wahrzunehmen. Selbst wenn es manchmal nur eine Zehntelsekunde ist.“
Soweit Samuel Koch. Ich finde, man kann an diesen Worten erkennen: Es sind weniger die Ereignisse, die zählen, als vielmehr die Spuren, die sie hinterlassen. Ein Unfall, der eine unumkehrbare Katastrophe zu sein scheint, hinterlässt eben keine Spur der Verwüstung in seiner Seele. Stattdessen hinterlassen die kleinen Momente Spuren des Glücks, die am Ende viel stärker sind als das Leid.
Wir haben Gottes Spuren festgestellt auf unseren Menschenstraßen,
Liebe und Wärme in der kalten Welt,
Hoffnung, die wir fast vergaßen.
So beginnt eines der bekanntesten neueren Kirchenlieder – und es spricht mich gerade heute so an. Weil dieses herzzerreißende Sehnen nach einem Hoffnungsgrund, nach Liebe und Wärme gerade jetzt so real ist. So real wie die Kälte eines Krieges, der derzeit in Syrien tobt – und beileibe nicht nur dort. Fatal aber wäre, wenn die schrecklichen Realitäten im Nahen Osten jede Rede vom Glück und die Realitäten der Hoffnung zurück drängen würden. Mit Samuel ist vielmehr zu sagen in diesem Advent 2015: Habt keine Angst, lasst euch in dieser irren Welt nicht beirren, Zeichen der Hoffnung zu sehen und Zeichen der Hoffnung zu setzen! In diesem Sinne Gottes Spuren habe ich in den vergangenen Monaten immer wieder beglückt sehen dürfen, wenn ich Gemeinden besucht habe: So viele Menschen, auch Nichtkirchenmitglieder engagieren sich für Flüchtlinge. In diesen Wochen besonders für die Transitflüchtlinge vom Hauptbahnhof - evangelische und katholische Helferinnen und Helfer, gemeinsam mit Mitarbeitenden der Al-Nour-Moschee. So viele, die neben ihrem Beruf zig Stunden in der Flüchtlingsarbeit mittun und sagen: Das hat mein Leben wirklich verändert. Für andere und mit anderen da zu sein - das ist das Sinnvollste und Glücklichste, was ich seit langem gemacht habe. Gottes Spuren, denke ich. In ihrem Leben und in dem der anderen. Weil am Ende das Leben siegt und die Liebe.
Ich wünsche Ihnen, dass auch Sie in diesen Adventstagen glückliche Spuren entdecken, auch in Ihnen selbst. Damit ihre Seele eine Heimat finden möge und die Hoffnung ein Ziel hat.
Amen.