Süd-Ohio-Synode: Von der Freundschaft zur Kirchenpartnerschaft
23. April 2021
Über den Lutherischen Weltbund (LWB) besuchte Pastor Larry Hoffsis 1985 als einer von sechs amerikanischen Pastoren die DDR. Noch ein Jahr zuvor durften sich die US-amerikanischen Pastoren nur in staatlich verordneter Begleitung bewegen und im Interhotel übernachten. Dieses Mal waren sie in drei Kirchengemeinden in verschiedenen Landeskirchen der DDR untergebracht, eine Premiere. Im Gespräch erinnern sich Pastor i. R. Dr. Larry Hoffsis (Jahrgang 1937) und Pastor i.R. Hans Kasch (Jahrgang 1953).
Eine Woche lang lebte Pastor Larry Hoffsis aus der lutherischen Epiphanias-Gemeinde in Dayton gemeinsam mit seinem Kollegen Pastor John Merck aus North Carolina im mecklenburgischen Pfarrhaus von Pastor Hans Kasch in Pritzier (Landkreis Ludwigslust-Parchim). Hans Kasch sprach kaum Englisch, Larry Hoffsis ein bisschen Deutsch, und doch verstanden sich die beiden auf Anhieb so gut, dass daraus eine tiefe Freundschaft, zahlreiche Gemeindepartnerschaften und eine bis heute bestehende Kirchenpartnerschaft entstanden.
Larry Hoffsis: Wir waren sehr aufgeregt, als wir in Tegel gelandet sind. Es gab zu der Zeit Tausende Atomwaffen auf deutschem Boden. Als wir den Checkpoint Charlie überquerten dachten wir, vielleicht in ein Land zu kommen, das nicht so freundlich ist. Und ich hatte vorher keine Ahnung gehabt, wo Mecklenburg liegt.
Hans Kasch: Larry sagte später zu mir: Ich habe von der ersten Sekunde an gespürt, dass wir ähnlichen Geistes sind. Wir hatten eine ganz tolle intensive Woche. Ich habe mich um meine Schafe gekümmert und Larry hat gekocht und abgewaschen, John Merck hat gestaubsaugt (lacht). In der Woche wurde nämlich gerade unser viertes Kind geboren und meine Frau war im Krankenhaus.
Larry Hoffsis: Am ersten Abend haben wir bis 11 Uhr geredet, in der zweiten bis Mitternacht und die nächsten Tage nur noch ein paar Stunden geschlafen. Hans Kasch nahm uns zu allen Veranstaltungen mit. Wir waren bei der jungen Gemeinde, im Kirchengemeinderat, bei der Christenlehre. Einmal waren wir mit dabei bei einer Beerdigung. Er hatte uns gebeten, hinten stehen zu bleiben. Doch alle haben nur die zwei Amerikaner im Hintergrund angeschaut.
Hans Kasch: Wenn die Amerikaner kamen, konnte ich machen, was ich wollte, die Kirche war voll. Das haben wir als Gemeinde erlebt, da waren natürlich auch Leute interessiert, die gar nichts mit Kirche zu tun hatten. Larry ist jedes Jahr mit einer Gruppe zu uns nach Pritzier gekommen, solange es die DDR gab.
Larry Hoffsis: In den Köpfen der Menschen waren wir Feinde, doch nach einer Woche in Mecklenburg gingen wir als Freunde. Die Menschen erzählten mir, dass sie von der Regierung und in der Schule gelernt hatten, dass wir die Feinde seien. Und hinterher sagten sie, es war so gut, dass wir diese schöne Woche zusammen hatten.
Hans Kasch: Eine Kirchenälteste, eine mecklenburgische Bauersfrau hat damals zu Larry gesagt: ‚Ich kann das nicht glauben, dass du tatsächlich hier bist. Das ist so, als ob ein Fenster aufgemacht wird und frische Luft hereinkommt.‘ Für viele war das tatsächlich ein Jahrhundertereignis und ein Schritt zum Frieden über Grenzen und große Entfernungen hinweg.
Larry Hoffsis: Ich hatte für eine Predigt eine Altarkerze aus Dayton mitgebracht, die bei uns schon etwa 60 Stunden gebrannt hatte. Diese amerikanische Kerze habe ich dann mit deutschen Streichhölzern angezündet in dem Bewusstsein: Wir sind die Kirche. Wir sind nicht Amerikaner, wir sind nicht Russen, wir sind nicht Ostdeutsche, sondern wir sind Christen und wir zünden ein Licht an, auf unserem Weg in die Welt. Ich habe auch Brot mitgebracht, das dann mit dem deutschen Wein auf dem Altar stand. Beim Abendmahl haben wir diese beiden Elemente zusammengebracht und ich habe gesagt, dass Christus das mit uns macht in der Welt.
Ein anderes Mal hatte ich Karten dabei, auf die die Gottesdienstbesucher drei Dinge aufschreiben sollten, die sie fürchteten und drei Hoffnungen. Die Leute in meiner Heimatgemeinde in Dayton und in Deutschland schrieben fast exakt die gleichen Dinge auf, vor allem die Angst vor einem Atomkrieg war beherrschend.
Hans Kasch: 1988 durfte ich dann als Vertreter der mecklenburgischen Kirche zusammen mit sechs weiteren Kirchenleuten aus lutherischen Landeskirchen der DDR den Gegenbesuch antreten. Dazu hatte uns die gerade gegründete ELCA (Anm.: Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika) eingeladen. Diese drei Wochen waren das Highlight meines Lebens: Die ersten drei Nächte schlief ich schlecht wegen des Jetlag, die vierte Nacht gut und danach fast gar nicht mehr, es gab so viel zu erleben. Ich hatte immer das Gefühl, das ist jetzt die Chance deines Lebens, das kommt nie wieder.
Larry Hoffsis: Schon bei meinem ersten Aufenthalt 1985 dachte ich, ich muss unbedingt noch einmal mit jungen Leuten wiederkommen. Alle schüttelten den Kopf und meinten, das geht niemals. Da hatte ich die Idee, dass wir das als Kulturaustausch laufen lassen. Es gibt bei uns eine große Tradition des Handglockenchors.
Hans Kasch: Larry hat es tatsächlich geschafft. Eine Woche vor dem Termin bekamen 16 Jugendliche ein Visum. So tourte er dann durch verschiedene mecklenburgische Gemeinden, seine Frau leitete den Chor, und überall war das ein Wahnsinnsereignis. Unsere Kirche war brechend voll, die Empore quietschte und knarrte, so dass ich Angst hatte, dass sie abstürzt. Wenn sonst etwa 100 DDR-Mark als Kollekte gegeben wurden, waren es an dem Abend 2200 DDR-Mark. Das war ein großes Zeichen dafür, was das für die Menschen bedeutet hat, dass diese jungen Amerikaner das Geld, den Mut und die Energie aufgebracht haben, um in ein fremdes Land und zumal hinter den ‚Eisernen Vorhang‘ zu reisen, um dort ihre Musik und ihre Ideen zu teilen.
Larry Hoffsis: Die Jugendlichen wurden wie Rockstars behandelt! Wir spielten dann auch einmal in der Thomaskirche in Leipzig, dort, wo Bach begraben ist, das war für unsere jungen Leute sehr bewegend. Ich hatte vorher gesammelt für zwei Sätze Handglocken für Mecklenburg und Thüringen. Innerhalb von zwei Wochen ging aus meiner Epiphaniasgemeinde das Geld für einen kompletten Satz für Dabel ein. Den Dabeler Handglockenchor gibt es übrigens bis heute.
Hans Kasch: Mein Ältester war damals in der 4. Klasse, und der Lehrer sagte, dass Präsident Reagan ein ganz schlimmer Mensch und alle Amerikaner böse und unsere Feinde seien. Er meldete sich und meinte, das könne nicht ganz stimmen. Am Wochenende seien 16 Amerikaner bei uns gewesen, die alle ganz freundlich und nett waren. Dass unsere Aktivitäten genau beobachtet wurden, war uns natürlich klar. Ein Kirchenältester hat später auch einiges in den Akten gefunden. Ich habe mir allerdings vorher nicht so einen Riesenkopf gemacht, weil ich wusste, dass ich mich auf meine Kirche verlassen konnte. Die Weisung von Bischof Rathke war ganz klar: Wenn die Stasi auf uns zukam, sollten wir sagen, vielen Dank, aber ich rufe jetzt meinen Bischof an und erzähle davon, damit eben keine Konspiration entstehen kann.
Larry Hoffsis: Mich hat unglaublich diese große Loyalität der mecklenburgischen Christen gegenüber ihrer Kirche beeindruckt. Sie hatten überall Nachteile: bei Wohnungszuweisungen, bei der Berufswahl, in der Schule, und haben sich trotzdem zu ihrer Kirche bekannt.
Hans Kasch: Mich hat an den Amerikanern diese große Offenheit und Zugewandtheit beeindruckt, die Spontaneität und innere Freiheit. Larry hat mal gesagt: Ihr sitzt immer so zusammengesackt und zieht die Schultern hoch, als hättet ihr Angst, ihr kriegt gleich eins drüber. Das stimmt auch, wir sind immer Untertanen gewesen - vom Landesfürsten, von Hitler, von Honecker. Ein Vorbild für mich ist auch dieses riesengroße Engagement, die Bereitschaft, sich einzubringen in den Gemeinden. Ich habe es bei meinen Besuchen so erlebt: Einmal im Jahr gab es ein Gemeindetreffen, da wurden Zettel verteilt und man trug ein, woran man sich beteiligen möchte: Laubharken, Suppenküche, Falten der Gottesdienstblätter für den Sonntag, Bibel- und Gesprächskreise. Das war eine Liste mit über 200 Aktivitäten in Larrys Epiphaniasgemeinde, und sie sind super organisiert. Dann die verschiedenen Arten, soziale Kontakte zu pflegen. Man trifft sich in kleinen Gruppen mit acht Leuten, jeder bringt etwas zum Essen mit, die Kinder sind dabei, man betet gemeinsam und lernt sich kennen.
Larry Hoffsis: Eine Gemeindepartnerschaft oder Kirchenpartnerschaft ist so etwas wie das gemeinsame Leben der Christen im ersten Jahrhundert. Jeder hat etwas, was er kann und auf den Tisch legt. Das wird geteilt
Hans Kasch: 1991 durfte ich bei der Tagung der Southern-Ohio-Synode ein Grußwort sagen. In diesen Jahren entstanden 13 Gemeindepartnerschaften zwischen mecklenburgischen und amerikanischen Gemeinden, und es war Larrys und meine Aufgabe, das zusammenzubringen, sie zu begleiten und zu fördern. Manche blieben nur von kurzer Dauer, andere bestehen bis heute.
Larry Hoffsis: Da es bei uns keine Kirchensteuern gibt, waren wir bislang fixiert auf die Anzahl der wöchentlichen Gottesdienstbesucher. Das sind in meinen fünf Gottesdiensten am Wochenende durchschnittlich 1100 Besucher. Bei meiner Tochter Becky Hoyng in der Lutheran Church of Hope in West Des Moines, Iowa, besuchten vor der Pandemie rund 20 000 Menschen die verschiedenen Gottesdienste an einem Sonntag, zu Ostern waren es sogar 45 000. Über die Kollekten bei den Gottesdiensten finanzieren wir uns.
Nun müssen wir neue Wege finden, was nicht ganz einfach ist, gerade für die älteren Leute. Doch die Pandemie zeigt uns, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Wenn ich die Kirchenzeitung für Mecklenburg und Pommern lese, dann bin ich sehr beeindruckt davon, wie die Kirchengemeinden der Nordkirche mit der Pandemie umgehen, wie kreativ, mit welchen Ideen. Es gibt so viele Projekte. Die Pandemie zeigt uns auch noch einmal, wie wichtig die weltweiten Kirchenpartnerschaften sind: Die alten Traditionen funktionieren nicht mehr so ohne weiteres. Und vielleicht ist das auch gut so. Wir müssen jetzt alle unsere Erfahrungen teilen und uns gegenseitig unterstützen.