Tradition des Dialogs stärken
25. Januar 2015
Letzter Sonntag nach Epiphanias, Gottesdienst in der Universitätskirche auf dem Campus der Christian-Albrechts Universität, Kiel; Predigt zu Lukas 2, 41-52
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen
Liebe Universitätskirchengemeinde!
Jüngst hatte ich in meiner Bischofskanzlei in Hamburg eine interessante Runde zu Gast. Da saßen der katholische Weihbischof, der jüdische (orthodoxe) Landesrabbiner, der Vorsitzende der islamischen Gemeinschaft Schura sowie ein Buddhist und ich. Gemeinsam haben wir überlegt: Was können die Religionen in dieser aufgewühlten Zeit zum Frieden beitragen? Wie können wir erneut nach außen ein Zeichen setzen, dass wir als Religionen zusammenstehen gegen Hass und Gewalt?
Erneut, sage ich – denn erst im vergangenen Sommer haben wir ein gemeinsames Friedensgebet vor der Blauen Moschee gehalten, als in Gaza und Israel die Raketen flogen. Wir fünf, oder besser: acht (wenn man die Aleviten, Hindus und Ba´hai dazu rechnet), wir kennen uns gut. Treffen uns oft. Mögen uns sehr. Längst haben wir nicht mehr diese Unsicherheit, ob man womöglich etwas Falsches sagt oder tut. Wir haben Vertrauen gelernt und: dass interreligiöses Gespräch ein weites Herz und sinnigen Verstand, vor allem aber auch Humor braucht.
Das Hamburger Abendblatt übrigens war dabei und hat berichtet. Das Foto auf der Titelseite war eindrücklich: fünf erkennbar unterschiedliche, tiefenentspannte Religionsführende, die einander die Hände auf die Schulter legen. Wie oft bin ich positiv auf dieses Bild angesprochen worden! Denn es ist eine Stimmung in der Stadt, verstehen Sie, so eine Sehnsucht danach, dass all den Pegidas, Legidas oder wie sie immer heißen ein Kontrapunkt gesetzt wird. Gegen diese namenlose, anonyme, stumme Masse auf den Straßen, Angst schürend und impertinent aggressiv.
Muss man dafür tatsächlich Verständnis haben?! Nein, es ist eine tiefe Sehnsucht in der Stadt nach dem ganz anderen, nach Begegnung – so viele etwa bieten an, Flüchtlinge zu begleiten und ihnen zu helfen. Eine Sehnsucht ist da nach klarem Widerwort zur Gewalt ebenso wie nach einer Herzenssprache, die die Idee des Guten im anderen aufsucht und sich am Dialog erfreut.
Wir sind bereits mitten im Predigttext, liebe Gemeinde – diese Geschichte von dem aufgeweckten 12-jährigen Knaben im Tempel, der sich am Dialog freut und lernt und redet. So viel Energie und Faszination ist in diesem Lehrgespräch. Kaum ist auszumachen, wer da von wem lernt. Die Lehrer sind entzückt von der Klugheit des Knaben, so jung und schon so weise!
Die Eltern dagegen sind weniger entzückt. Eher entnervt, weil sie sich tagelang Sorgen gemacht haben. Allerdings – wer hier den Vorpubertierenden wittert, der die ansonsten heilige Familie einmal so ganz menschlich auf den Boden der Tatsachen bringt, ist auf dem Holzweg. Auch die gewitzte Vermutung, dass die Weisheit des Jesuskindes darauf zurückzuführen sei, dass er das erste Krippenkind überhaupt war, ist zwar pfiffig, hält aber historisch kritischer Forschung kaum stand.
Nein, es geht gewissermaßen um den Text im Text, der hineingewoben ist in die alltägliche Szene eines besorgten Elternpaares, das sein Kind, Gott sei's gedankt, wiederfindet. Es ist dieses Geheimnis, das durch den Alltag hindurchleuchtet und uns hilft zu leben. Und das einen hellen Schein in unsere Herzen gibt. So dass wir neu sehen. Erkennen, was hinter den Dingen ist. Und das ist viel mehr als ein kognitiver Vorgang. Nein, es ist ein Bild, das sich dem erhellten Herzen erschließt – ein Schauen. Schauen als Bildung.
Und damit bin ich bei der ersten der drei Botschaften, die der Text im Text mir erschließt:
Der Mensch braucht anschauliche Religion. Jesus wird von klein auf vertraut gemacht mit den Ritualen. Er erlebt hautnah, wie die aufgeregten, erwartungsvollen Menschen die Passahprozessionen begleiten und wie sie die Befreiungstaten Gottes feiern. Mit Pauken und Trompeten und Mirjams Tanz. Und er lernt: Das ist der Kern seiner jüdischen Religion: Freiheit von Gott her zu bekennen, zu erhoffen, zu leben, auch wenn es immer wieder zu Irritationen und Irrtum kommt. Wie selbstverständlich fängt er an sich dies anzueignen, danach zu fragen, selbst von dieser Freiheit zu erzählen.
Die Wurzel unserer Religion ist genau dies: die Freiheit, Ich zu sagen inmitten der großen Geschichte Gottes, in die ich eingebunden bin. Die Freiheit, ohne Scham über Gott zu reden, ja mit anderen zu disputieren, kurz: Jünger, Lernende des Lebens zu werden. Und was wäre angesichts jüngster Ereignisse dringlicher, als dass wir dem Zwölfjährigen in den Tempel nachgehen und uns immer wieder im Reden der Freiheit üben?!
Denn zweitens: Religion bekommt ihre Tiefe und Lebendigkeit, ja ihre Wahrheit vor allem durchs Gespräch. An den ärgerlichen Eltern vorbei lässt uns das Evangelium nämlich ein herrliches Bild schauen: einen Jungen zwischen etlichen Gelehrten nach jüdischer Weise mitten im Gespräch. Die Alten und der Junge reden selbstvergessen, fast auch ein wenig fassungslos, wie leicht das geht mit dem Lehren und Lernen, Fragen und Antworten all der großen Themen. Welch' wegweisendes Bild – eine Gesellschaft der Verschiedenen wird zur Lerngemeinschaft! So nämlich erst emanzipiert sich Jesus: im Gespräch mit der Tradition, auf der gemeinsamen Suche nach Wahrheit – auch dadurch wird er, der er ist.
Erwachsenwerden im Glauben setzt voraus, die Verschiedenheit all der Lehren, Meinungen, ja Lebensformen für wahr zu nehmen und zusammen zu denken. Sich eben mit dem Unterschied zu befreunden statt ihn zu befürchten – das ermöglicht Entwicklung und ermöglicht Identität.
Und daraus entstehen Haltungen, etwa die, in dieser Gesellschaft konstant für den Dialog zu stehen, gerade wenn sich keine schnellen Lösungen abzeichnen. Oder in der Smartphone-rasenden Hast das Innehalten zu pflegen. Oder die Haltung, in einer merkwürdig auf den Tod zentrierten Sterbe-„Hilfe"-Debatte auf das zu verweisen, was, glaube ich, die Menschen in Wahrheit zutiefst bewegt: Wie Klarheit, Nähe, Halten, Mitgehen – wie vitale Liebe beim Sterben nicht aufhört, sondern uns begleitet bis zum letzten Atemzug. Dieser lernende zwölfjährige Jesus lehrt uns, Religion lebendig zu halten, indem wir davon reden, was uns trägt und tröstet und wie es in uns liebt.
Dieses dialogische Prinzip der Religion, wie es hier vom Anfang unserer Tradition her aufscheint, ist ein wunderbares Modell. Und es hat ein entscheidendes Merkmal: das Wort. Alle drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sind Wortreligionen. Heißt: Das gesprochene, später das geschriebene Wort (das es ja stetig auszulegen gilt) –das Wort hat Vorrang vor dem Bild.
Das finden wir im Judentum schon am Beginn der Zehn Gebote: Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen. Das setzt sich fort im Christentum, angefangen von der mittelalterlichen Reformbewegung der Zisterzienser über die Bilderstürme der Reformation bis hin zu den reformierten Kirchen, die in ihrer Bilderlosigkeit den unbedingten Vorrang des Hörens vor dem Sehen herausstellen. Nun, und im Islam werden bildliche Darstellungen insbesondere von Menschen und Tieren, und natürlich des Propheten selbst, als Lästerung Gottes verstanden.
Warum diese Skepsis, ja hohe Empfindlichkeit gegenüber den Bildern? Ganz einfach: Weil das Bild zwar wirksam, aber uneindeutig ist. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Ein Bild in seiner Schönheit, seiner Wucht, seiner emotionalen Aussage entzieht sich letztlich dem Diskurs. Daher immer wieder der Versuch, Bilder einzuhegen, in ihrer Macht zu begrenzen. Erst recht, ihrer kultischen Verehrung zu wehren.
Stattdessen: Vorrang des Wortes. Auch das ist nicht immer friedlich, natürlich. Religionen kennen auch die Hasspredigt – die Salafisten beweisen's allerorten. Umso wichtiger, heutzutage die Tradition des Dialogs stark zu machen! Es braucht das öffentliche Gespräch über Religion und mit den Religionen. Gerade jetzt. Es ist unabdingbar für eine demokratische, friedliche Zivilgesellschaft.
Und ich sage das ganz bewusst gegen die, die nach den Ereignissen von Paris vermehrt für einen Laizismus in Deutschland plädieren. "Religion ist Privatsache", heißt es allerorten – als würde unsere Zeit nicht zeigen, dass Religion alles andere ist als privat.
Wenn aber der Staat dies ignoriert und die Religion per definitionem ins Kämmerlein verbannt, geschieht genau das, was niemand will: Es bilden sich Parallelgesellschaften, die vom Staat und von der Gesellschaft nicht mehr erreicht werden. Wer etwa den schulischen Religionsunterricht oder die universitäre Ausbildung von Theologen für verzichtbar hält, spielt das Spiel des Fundamentalismus. Denn dann wird die Religion in ein Dunkel zurückgestoßen, das vom Licht der Aufklärung nicht erreicht wird.
Gerade weil alle Religionen ein fundamentalistisches Potenzial in sich tragen, wie übrigens auch jede säkulare Ideologie, müssen sie lernen, sich dem selbstkritischen Diskurs zu stellen. Und das geht, unter anderem, am besten auf dem Markte, in der Öffentlichkeit, in der Universität.
Allzumal in einer so altehrwürdigen Institution wie der Christian-Albrechts-Universität. Sie zeigt mit ihrem Jubiläum, wie eine Bildungsinstitution Gesellschaft mitprägt. Und wie dafür der Diskurs konstitutiv ist. Und: geschieht nicht in den unterschiedlichsten Lerngemeinschaften der Fakultäten genau das, was auch den jungen Jesus mit den altehrwürdigen Lehrern verband? Nämlich eine sinnstiftende Koalition von Erfahrung und Neugierde, Bedächtigkeit und Chaos, Frage und Antwort. Eine Begegnung der Verschiedenen, die, um sich zu finden, sich unaufhörlich aufeinander zu bewegen?
Damit die Welt weiser wird. Und der Friede immer wieder neu geboren.
Denn das ist die dritte Botschaft: Gott wurde Mensch, dass wir Mensch werden. Würdigend. Mit freundlichem Angesicht und gebildetem Herzen. Mit großer Friedenssehnsucht und hellem Verstand. Und deshalb mit tiefer Ehrfurcht vor dem Leben. Das ist das Ziel, auch religiöser Bildung. Dass jeder, auch schon der kleine Mensch, sich geehrt sieht. Angesehen eben. Das ist das Ziel: dass heutige Zwölfjährige keinen Grund haben, von Gewalt- und Hasspredigern fasziniert zu sein, weil sie sich nur von ihnen gesehen fühlen.
Das ist das Ziel. Und deshalb: Begegnung! Begegnung ist das Geheimnis des Friedens.
Denn "Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?", fragt Jesus. Und seine Eltern verstehen ihn nicht. Wie auch? Waren sie doch nicht dabei bei der erstaunlichen Begegnung zwischen Alt, Jung, Lehrer, Schüler, Jude und Christ. "Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?" Meint: Er ist in ihm, dem wahren Gott, dieser junge, wahrhaftige Mensch. Gottinniglich. Sein Haus ist die Welt. Seine Liebe grenzenlos.
Und er fragt damit: Wisst ihr nicht, wie innig euch Gott liebt? Möge er uns doch heut' damit erreichen und das Herz erhellen. So dass wir gar nicht anders können, als andere zu fragen: Wisst ihr nicht, wie innig euch Gott liebt? Als Lernende, Jüngerinnen und Jünger des Lebens, aufrecht und frei, sind wir gesandt in die Welt. Um zu zeigen, dass sein Friede, höher als alle Vernunft, längst unsere Herzen und Sinne bewahrt in Christus Jesus.
Amen