Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind
08. Mai 2015
Gedenkrede an der Stolperschwelle auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg.
Liebe Brüder und Schwestern,
es ist eben nicht allein ein Stolperstein. Es bedarf einer Schwelle. Eine Stolper-schwelle, die uns das Ausmaß des Schreckens von vor mehr als 70 Jahren deuten will und einen zutiefst berührt. So dass wirklich das Herz stolpert. Man kommt kaum drüber über diese Schwelle der Vorstellungsgrenze. Wie gerade eben. Es ist uns doch allen so gegangen, dass man diese beeindruckende szenische Lesung mit ihrer Dokumentation des Grauens kaum aushalten konnte?! Und ich habe mich wieder einmal gefragt: Wie konnte das, was auch Dr. Wunder gerade so eindrücklich geschildert hat, geschehen? Unfassbar bleibt diese abgründige Grausamkeit, diese ideologische Vergiftung ausgerechnet in einer Einrichtung, die sich doch den Schutz und die Pflege behinderter Menschen zum Ziel gesetzt hatte!
Die Nazi-Ideologie war schon schlimm genug. Von vorneherein gegen das so genannte lebensunwerte Leben eingestellt strebte sie mehr oder weniger deutlich dessen Ausschluss bis zur Vernichtung an. Wenn Hitler in „Mein Kampf“ schreibt: „Er [der völkische Staat] muß dafür Sorge tragen, dass nur wer gesund ist, Kinder zeugt, dass es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen.“, dann ist das der wahre Irrsinn und jenseits aller Moral. Und wir versuchen es zumindest historisch einzuordnen: Nazis sind Nazis, ihre Ideologie ist rassistisch, man muss das ablehnen.
Emotional unbegreiflich aber finde ich: Wie konnten so viele christlich erzogene, zum Teil tiefgläubige Menschen diese menschenfeindliche Ideologie unterstützen, ja sich zu eigen machen? Und das mit den krudesten Argumentationen. Die Antworten auf diese Frage darauf fallen sehr verschieden aus. Vorurteile bis hin zum Hass, blinder Gehorsam, gedankenloses Mitläufertum – all das hat sicherlich dazu beigetragen, dass ein großer Teil der Deutschen, der Hamburgerinnen und Hamburger, die Verfolgung von Minderheiten gutgeheißen oder zumindest mitgetragen hat. Von jüdischen Zeitzeugen kennen wir entsprechende Aussagen, die von totaler Verstörung geprägt sind: „Von einem Tag auf den anderen haben unsere Nachbarn nicht mehr mit uns gesprochen, haben uns beschimpft und verjagt.“
Und nun stehe ich hier an diesem Ort und denke: Es ist kaum zu glauben, dass eine Steigerung noch möglich ist. Aber sie ist möglich. Wenn es schon unbegreiflich ist, dass Nachbarn ihre Nachbarn verraten haben oder dass deutsche Familienväter zu Mördern wurden und Männer, Frauen und Kinder erschossen, vergast oder zu Tode geprügelt haben – wer vermag es zu fassen, dass kranke und behinderte Menschen von denen ans Messer geliefert wurden, die sie eigentlich pflegen und schützen sollten? Aber sie haben es getan, und daran erinnert diese Stolperschwelle.
Schwestern und Pfleger, Ärzte und Pastoren haben es nicht nur zugelassen, sondern aktiv daran mitgewirkt, dass die ihnen anvertrauten Schützlinge wie Vieh verladen und in Arbeits- und Vernichtungslager abtransportiert wurden. Auch hier zuerst die Juden, dann aber auch all die anderen. Und das in einer Einrichtung, deren Gründungsgeist Heinrich Sengelmann mit seinem berühmten Zitat beschrieben hatte: „Wir haben es nicht mit ‚Fällen‘ zu thun, sondern mit Mitmenschen, in denen auch eine Seele wohnt, wenn auch eine verhüllte.“ Zwei Generationen später gaben seine Nachfolger ihren Schützlingen auf dem Weg in die Vernichtungslager ein Schreiben mit, dessen letzter Satz lautete: „Wir bitten bei einem eventuellen Ableben des Patienten um Zusendung des Gehirns für unsere Sammlung.“
Das Herz stolpert – was für ein Abgrund! Und so kann ich nur erschüttert davor stehen und bitten: Möge die Betroffenen und ihre Angehörigen, möge die Welt und möge Gott es seiner Kirche verzeihen, dass sie in entscheidender Stunde so dermaßen versagt hat. Dass sie nicht klarer Christus bekannt und deutlicher widerstanden und inniger gegen diese Menschenverachtung angeliebt hat. Lasst uns nicht aufhören, daran zu erinnern, wozu der Mensch fähig ist. Denn das menschliche Gedächtnis ist kurz. Jede Gesellschaft neigt dazu, die Schwachen entweder durch aktives Handeln oder durch gleichgültiges Zuschauen auszugrenzen, – und wir als Kirche müssen klar und deutlich und immer wieder für sie eintreten. Manchmal vielleicht einfach dadurch, dass wir die Bibel ganz wörtlich nehmen. Zum Beispiel mit einem Lieblingswort von Heinrich Sengelmann: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ Das ist keine Frage mehr, sondern Antwort der Zukunft – und dem zu folgen, dazu helfe uns Gott.