12. September 2018 | St. Nikolai Stralsund

Um Segen kann man kämpfen

12. September 2018 von Hans-Jürgen Abromeit

Predigt zu 1. Mose 32, 23-33 anlässlich des Sprengelkonventes Mecklenburg und Pommern

Liebe Schwestern und Brüder,

hinter einem ist Jakob her, hinter dem Segen. Um diesen Segen zu bekommen, hatte er seinen blinden Vater und seinen Bruder Esau betrogen. Durch eine List war es ihm gelungen, den Segen zu erlangen. Er wollte unbedingt die Kraft Gottes auf seiner Seite wissen. Er suchte den Schutz und die Sicherheit in unsicheren Zeiten. Er wünschte sich Erfolg in seinem Leben, den ihm Gott schenken konnte. So viele Wege müssen im Leben zurückgelegt werden, so viele Gefahren überwunden. Ein Auskommen muss gefunden werden. Darum tut die positive Wirkung göttlicher Kraft so gut. Segen heißt: das Leben steht auf deiner Seite. Bedrohtes Leben wird geschützt und kann sich entfalten. Das ist Segen.

Jakob hatte schwierige Familienverhältnisse, aber wer hat die nicht? Ja, und er selbst war auch nicht ganz einfach. Aber wer ist das schon? Er war ein Zwilling, aber der jüngere. In einer Welt, in der der Erstgeborene alle Vorzüge des Rechtes, des Erbes und des Ansehens hatte, war es schon Mist, so knapp der Zweite geworden zu sein. Die Geburtslegende von Jakob und seinem Bruder Esau erzählt, wie der jüngere Zwilling Jakob dem älteren Esau schon im Mutterleib auf den Fersen war. Bei der Geburt bereits hält er mit der Hand die Ferse seines Bruders Esau.[1]

Schon immer wäre Jakob gern ein Anderer gewesen. Einer mit mehr Ehre und Macht. Von Anfang an gönnt er seinem Bruder nicht diese mit der Erstgeburt verbundenen Vorzüge. Wir wissen heute, wie wichtig der Platz in der Geschwisterkonstellation ist. Manch einer ringt sein ganzes Leben um die Anerkennung, die er in seiner Stellung in der Familie zu vermissen meint. Das ganze Leben wird zur Bühne eines familiären Emanzipationsstrebens.

So auch Jakob. In seinem Bemühen Erstgeburtsrecht und Segen zu erlangen, schreckt er vor List und Betrug nicht zurück. Am Ende ist das Verhältnis zu seinem Bruder so kaputt, dass er um sein Leben fürchten muss.[2] Vor der Rache seines Bruders flieht er nach Haran, der Heimat seiner Mutter, einer Stadt im nördlichen Zweistromland, heute in der Südtürkei gelegen. Weit weg von seinem Bruder und seinen Problemen. Hier, in der Ferne, ganz anderswo, kommt er zu Familie und einigem Wohlstand.

Aber bald ist auch das Verhältnis zu seinem Schwiegervater Laban belastet. Da will Jakob mit seiner ganzen großen Familie, zwei Frauen, zwei Mägden und zwölf Kindern, zurück in sein Heimatland nach Palästina. Je näher Jakob seinem Bruder Esau kommt, desto unheimlicher wird ihm seine Situation. Wie wird sein Bruder ihn aufnehmen? Trachtet er ihm weiterhin nach dem Leben?

In der entscheidenden Nacht steht der Tross mit der ganzen Familie am Ufer des Jabbok, einem Nebenfluss des Jordan im Ostjordanland, heute Nahr az-Zarqa (der blaue Fluß) genannt. Er bringt seine Familie über eine Furt des Flusses auf die andere Seite und bleibt allein. Jakob steht nun unmittelbar vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau, den er seit seinem vor 21 Jahren verübten Betrug, bei den er ihn um den Segen des Erstgeborenen gebracht hat, nicht mehr gesehen hat. Esau ist ihm mit 400 Männern entgegen gekommen. Jakob weiß, dass er ihm völlig ausgeliefert ist. In dieser schwierigen, vielleicht ausweglosen Lage, bereitet sich Jakob allein auf die Begegnung mit seinem Bruder, deren Ausgang ungewiss ist, vor. Im Dunkel der Nacht ist er allein und an der Furt des Jabbok verwickelt ein Unbekannter ihn in einen Kampf. Keiner von beiden kann diesen Kampf gewinnen. Jakob wird auf die Hüfte geschlagen, so dass er hinkt. Als die Sonne aufgeht, bittet der Unbekannte Jakob, von ihm abzulassen. Aber Jakob lässt ihn nicht gehen, bevor er einen Segen von ihm empfangen hat. Der Unbekannte sagt zu ihm: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen“ (V. 29). Als der Unbekannte seinen Namen nicht nennt, versteht Jakob, dass Gott selbst seinem Ringen mit ihm diese Gestalt gegeben hat.

In dieser Geschichte verbirgt sich eine alte Gotteserfahrung, wohl sogar noch älter, als die  Gotteserfahrungen Israels sind, die sich sonst im Alten Testament niedergeschlagen haben. Es gibt Situationen, da muss man mit Gott kämpfen. Im Grunde hast du dir dein Elend selbst zugefügt. Du hättest ja nicht um die Stellung in der Familie streiten müssen. Warum nicht auch einmal der Zweite sein? War der materielle Anlass den Streit mit dem Bruder wert? Warum bin ich auch immer so dickköpfig? Aber hat mich Gott nicht benachteiligt? Er hätte es doch auch ganz anders machen können. Man kann hadern über die persönliche Lebensgeschichte, man kann hadern über die große Politik – fast jeder hat auf seine Weise seinen Kampf mit Gott auszutragen.

Wenn Gott der Herr der Geschichte ist, warum muss dann die Geschichte so verlaufen, wie sie verläuft? Jakob hatte in seiner Not gebetet: „Errette mich von der Hand meines Bruders, von der Hand Esaus; denn ich fürchte mich vor ihm“[3]. Jesus hat in Gethsemane aus ganz anderem Anlass mit Gott gerungen und gebetet: „Nimm diesen Kelch von mir. Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“[4] Martin Luther berichtet, wie er sich im Gebet vom in der Geschichte verborgenen Gott zum in Christus offenbaren Gott geflüchtet hat. Die Geschichte ist immer zweideutig. Oft kriegen wir Gottes Handeln und seinen in Christus offenbarten Willen nicht zusammen. Da bedarf es dieses Ringens mit Gott, bis wir Gefühl und Erkenntnis überein bringen.

Nicht das Ringen mit Gott an sich ist ungewöhnlich. In dieser Geschichte ist außerordentlich, dass der Kampf unentschieden ausgeht: 1:1. So ist bei Jakobs Kampf nicht von vornherein klar, mit welcher Macht er kämpft. Es gibt Widersacher im Leben, da wird dir erst im Nachhinein deutlich: Gott steckte dahinter. Er hat dir eine Grenze gesetzt. Jakob geht nach einer solchen Auseinandersetzung gezeichnet aus diesem Kampf hervor. Fortan muss er hinken. Aber er ringt seinem Widersacher –  und nun ist schon deutlich, dass es Gott ist – einen Segen ab: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“(V. 27). Und Gott lässt sich diesen Segen abringen.

Liebe Schwestern und Brüder, ich mag diese Geschichte. Ja, sie ist archaisch. Aber ist es nicht wunderbar, dass schon die Alten solche Erfahrungen mit Gott gemacht haben, die wir auf unsere Weise auch kennen? Wir sind doch alles ambivalente Persönlichkeiten. Und trotzdem schreibt Gott mit uns seine Geschichte. In dieser Geschichte haben wir unseren Platz, großartig und bescheiden zugleich. Großartig, weil Gott uns gebrauchen will. Bescheiden, weil wir ja doch nur kleine Lichter sind.

Schon die Alten wussten: Wir führen ein Leben auf der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Nicht alles ist unseren Augen offenbar. Das Leben spielt im Vordergrund, hat aber einen Hintergrund, der uns nur je und dann aufleuchtet. Dann begreifen wir es auch mit unseren Verstehensvoraussetzungen, jeder zu seiner Zeit auf seine Weise. Mag dieses Gegenüber für die vorisraelische Tradition die Gestalt eines nächtlichen Dämons angenommen haben, für Israel war schon klar: Uns stellt sich manchmal Gott in den Weg. Das Leben läuft nicht nur glatt, aber wir können und dürfen auch mit Gott ringen. Manchmal allerdings gehen wir als Geschlagene, hinkend vom Platz. Die Narben unserer metaphysischen Wunden gehören auch zu unserer Existenz.

Als junger Pastor wurde ich gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, an einem Buchprojekt zum Thema „Am Scheitern leben und glauben lernen“ mitzuarbeiten. Ich lehnte ab, weil ich bis dahin keine tiefen Erfahrungen mit Brüchen oder Scheitern gemacht hatte[5]. Es war immer alles gut gelaufen. Wenige Jahre später wurde bei meiner Frau Krebs festgestellt und sie verstarb bald darauf im Alter von 34 Jahren. Mit einem Mal waren unsere Lebenspläne gescheitert und ich verstand, was die Kollegen gemeint hatten, als sie sagten, man müsse an Menschen und an Gott gescheitert sein, um Leben zu lernen. Natürlich bedeutet das Unsicherheit und einen gewissen Schwebezustand der Gefühle. Wir gehen am Ende hinkend vom Platz, aber als Gesegnete. Dieser Jakob, mit all seinen menschlichen Unzulänglichkeiten, aber zum Schluss segnete ihn Gott doch. In seiner Verunsicherung über seinen Weg ans Kreuz gewann Jesus im Gebet die Größe, sich in Gottes Willen fallen zu lassen. Martin Luther, auf der Suche nach einem gnädigen Gott, konnte am Ende seines Lebens, wenige Tage vor seinem Tod schreiben, wofür man Christus halten solle „nämlich nicht für einen Richter oder zornigen Herrn, sondern für einen lieblichen Heiland und tröstlichen Freund“[6]. Mögen wir auch hinken, am Ende gehen wir diesem „lieblichen Heiland und tröstlichen Freund“ entgegen, hinein ins Land der Verheißung.
Amen.

[1] Vgl. 1. Mose 25,26.
[2] Vgl. 1. Mose 27,41.
[3] 1. Mose 32,12.
[4] Lukas 22,42.
[5] Vgl. Hans Bernhard Kaufmann unter Mitarbeit von Renate Hagedorn und Willi Stöhr, Am Scheitern leben und glauben lernen, Neukirchen-Vluyn 1987, 13.
[6] Im Bibelmuseum in Münster findet sich dieses Luther-Wort als handschriftliche Widmungsinschrift in einer Lutherbibel von 1545, unterschrieben mit „1546 Martinus Luther“.

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