6. Juni 2015 | Stuttgart

Vor dem Klugwerden braucht es Einsicht

06. Juni 2015 von Kirsten Fehrs

„Aus der Missbrauchsdebatte klug geworden? - Was Kirche und Gesellschaft gelernt haben“. Impuls von Bischöfin Kirsten Fehrs beim Podium im Zentrum Gender.

1.    Auf das wir klug werden – Zwei Einsichten zuvor

Danke, liebe Christine Bergmann und dem Kirchentag, dass diese Veranstaltung stattfindet. Denn Missbrauch bzw. besser: dessen Aufarbeitung mit dem Ziel einer wirklich sinnhaften und wirksamen Prävention  - das ist ein Thema, das ein Forum braucht. Immer wieder. Nicht allein, um zu informieren. Sondern auch, um gemeinsam zu reflektieren -  und in diesem Sinne klug – oder zumindest klüger - zu werden. Und allem voran besteht dieses Klugwerden in der Einsicht, dass es zwar einerseits Einzeltäter sind, die sexualisierte Gewalt mit furchtbaren Folgen für die Betroffenen ausüben. Andererseits aber trägt eine Institution insofern klar die Mitverantwortung, wenn sie ihrem naturgemäßen Auftrag, die Schwächeren zu schützen, nicht gerecht wird. Wenn sich in ihr also Mechanismen verfestigen, die strukturelle Gewalt ermöglichen und Täterstrategien - meist unbewusst - unterstützen. So passiert bei dem wohl bekanntesten Missbrauchsskandal der evangelischen Kirche, in der Kirchengemeinde Ahrensburg bei Hamburg. Dazu gleich Näheres.

Die zweite Einsicht, die direkt dazu gehört: Es gibt einen persönlichen, aber auch kollektiv institutionellen Reflex, sich das Thema vom Leib zu halten, im wahrsten Sinne. Leider. Weil dies vielfach zur Marginalisierung des Themas Missbrauch in der Institution führt. Der Grund dafür liegt meinem Gefühl nach in der totalen Verstörung des Selbstbildes. Man wird gewahr, dass Menschen schwer verwundet wurden. In Räumen, in denen man mit Inbrunst gesungen hat: „Geh aus, mein Herz und suche Freud“. Es ist ein so intimes Thema. Scham spielt eine große Rolle. Es geht um jugendliches Liebessehnen und um den Verrat dieser Gefühle. Um die Brüche, die das für eine Biographie bedeuten kann. Und immer geht das Thema an die Grenzen. Auch persönliche Grenzen der Vorstellungskraft.

„Unfassbar, dass so etwas in Kirche vorkommt“ - so oft habe ich den Satz gehört. In ihm schwingt die Verunsicherung mit, die in den letzten viereinhalb Jahren mit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle zu spüren ist. Mitarbeitende in der Kirche fragen sich, und das ist genau richtig so: Was ist vertrauensbildende Nähe, was ein Übergriff? Wo hört eine Umarmung auf tröstlich zu sein? Man fühlt den schmalen Grat. Das Thema konfrontiert immer auch mit eigenen Ängsten, zu weit zu gehen. Oder gar mit eigener Gewalterfahrung – und das betrifft bekanntlich mehr Menschen als wir denken. Erst das Hinsehen-Wollen auf die dunklen Seiten unserer Institution hat uns ins Handeln gebracht. Keine Prävention ohne Auseinandersetzung.

2.    Auseinandersetzung

Was nun haben wir in der Nordkirche erkannt und für Konsequenzen gezogen? Welche Fehler haben wir gemacht? Mit Mut zur Lücke möchte ich Sie in unseren Lernprozess hineinnehmen und einige der Interventionen kurz beschreiben.

Vieles ist zunächst in uns passiert, die wir mit etlichen Betroffenen, Opfer von Missbrauch in unserer Kirche geredet haben - und immer noch reden. Präziser muss man sagen: Sie reden mit uns. Dankenswerterweise. Für mich persönlich sind es jetzt dreieinhalb Jahre, in denen ich mit ihnen im Gespräch bin. Die Beziehungen sind -dies sei kurz angemerkt - nicht „bischöflich“, auch wenn das hierarchisch hohe Amt per se eine lang ersehnte Würdigung bedeuten kann. Aber sie sind von mir her seelsorgerlich. Seelsorgerin zu sein ist ein unaufgebbarer Teil meiner pastoralen Identität. Und das schließt ausdrücklich ein, dass auf professionelle Weise das Setting zu klären ist, wie man miteinander redet.

Denn natürlich will nicht jede/r der Betroffenen ein seelsorgerliches Gespräch, manche wollen genau das nicht. Aber alle wollten sie, dass ich mich stelle. Mich auseinandersetze, persönlich und als Institutionsvertreterin. Und das war mal eine behutsames Vortasten, mal ein echtes Ringen und Aushalten. Mal mit gebotener Distanz, mal in großer Nähe. Individuell, wie die Menschen eben sind – mit dem, was sie an Gewalt erfahren, aber auch was sie teilweise schon an Verarbeitung durch Therapien geleistet haben. Wahrlich geleistet, ich stehe bewundernd davor.

Oberstes Gebot bei unseren Gesprächen war: Redlichkeit. Ehrlichkeit in der Beziehung. Betrug gab es genug. Diese Ehrlichkeit fordert heraus, und das ist gut so. So konnte ich es manchmal ehrlich nicht mehr aushalten, zuzuhören. Das war so. Grenze. Und immer wieder ist mir klar geworden, was es die Betroffenen gekostet hat und immer noch kostet, sich zu öffnen. Ich empfinde davor tiefen Respekt. Denn es ist angesichts auch der institutionellen Verfehlungen in den vergangenen Jahrzehnten wahrlich nicht selbstverständlich, dass sie Vertrauen gefasst haben. Teilweise sehr zerbrechliches Vertrauen, aber immerhin. Viele schenken es, damit wir lernen.

Der Prozess ist nicht beendet. Im Gegenteil: je länger ich mich damit beschäftige, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass wir nicht aufhören dürfen damit.

Und also gehört zu einem Impuls der Aufarbeitung auch hier und jetzt die Frage: Womit müssen wir uns auseinandersetzen? Und also:

3.    Was geschehen ist… Keine Prävention ohne präzise Wahrnehmung

In einer Kirchengemeinde arbeiten Mitte der 70- er bis Ende der 90-er Jahre zwei Pastoren. Der eine von ihnen hat sowohl im innerfamiliären Bereich gegenüber seinen Stiefsöhnen als auch gegenüber einer letztlich unbekannten Anzahl von Jugendlichen, die ihm in Kirchengemeinde und Schule anvertraut waren, sexualisierte Gewalt ausgeübt. Mindestens 20 Jahre lang. Es waren mehr Jungen als Mädchen betroffen. Die Übergriffe gingen von Flirts, Tätscheleien, angeblichen Gesprächs-„Therapien“ durch Liebe, über zu Tätlichkeiten, Oralverkehr, Geschlechtsverkehr. Oft bei Gelegenheit, das heißt: Er fuhr den einen zum Musikunterricht und griff zu. Dem anderen gab er Schulaufgabenhilfe. Der dritten schwor er ewige Liebe, sie sei die einzige Frau, die ihn glücklich mache. Das Spiel mit der Abhängigkeit ist ein perfides. Wer sich nicht wehrte, war drin in einem hochmanipulativen System. Und wurde mit einem Schweigegebot schärfstens eingeschworen.

Es waren zumeist Jugendliche, die sich aktuell in einer kritischen Situation befanden. Die sich unverstanden fühlten, Probleme mit den Eltern hatten und/ oder Schwierigkeiten in der Schule, Drogen, das volle Programm. Der Täter hat sich die Dünnhäutigsten ausgesucht. „Dir glaubt man eh nicht“ - diese Drohung des Täters war für die Jugendlichen nur allzu einleuchtend und entsprechend wirksam. Und so begann das große Schweigen. Drangsal. Genau dies Wort ist gefallen.

Das Problem: Sie mochten ihn, waren vielleicht sogar verliebt - noch einmal in besonderer Weise schwierig, wenn dies ein Junge empfand. Sie fühlten sich irgendwie mitverantwortlich, schuldig. Ahnten zwar, wussten es aber nicht, dass hier Übergriffigkeit und etwas Gewalttätiges mit ihnen passierte. Und um dies zu bewältigen und den Ekel zu vergessen, wurde viel Alkohol zu sich genommen.

Einige der Opfer haben sich damals schon anvertraut. Schon lange vor 2010, als ein Opfer sich erneut an Kirchenleitende gewandt hatte und über die Medien bekannt wurde, haben sich Betroffene in ihrer Not an Seelsorger gewandt, an Eltern, Kirchenvorsteher. Verbunden war dies oft mit dem Flehen, nichts zu sagen, sonst würde man gemobbt. Gemobbt - wohlgemerkt inmitten der reformpädagogischen Hochburg kirchlicher Arbeit. Diesen Ruf nämlich hatte die Kirchengemeinde. Hier war man „frei“, kannte Psychospiele, war unverklemmt. Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors und sexuelle Anspielungen vor aller Ohren war an der Tagesordnung. Viele im Ort „wussten“ „es“  - mindestens im Sinne von: ahnten instinktiv, dass hier etwas Grenzverletzendes passiert.

Bei Bekanntwerden des Missbrauchsskandals sind sämtliche Fälle verjährt. So blieb als einzige Möglichkeit juristischer Aufarbeitung nur noch das Disziplinarrecht übrig. Ein Recht, das man schlicht als ungenügend für die Aufklärung solch schwerwiegender Vergehen bezeichnen muss. Das Disziplinarrecht ist eben genau kein Strafrecht und kann es auch nicht ersetzen - wird zudem doch das damit verständlicherweise verbundene Bedürfnis nach irgendeiner Form von Satisfaktion genau nicht zufrieden gestellt.

Die Betroffenen haben nicht nachgelassen. Ich stehe mit großem Respekt vor ihnen. Auch wenn oder besser: weil sie konsequent benannt haben, was wir als Institution falsch gemacht haben. Etwa als 1999 das Kirchenamt die Versetzung des Täters veranlasst, davon aber kein einziges Wort dokumentiert. Weder, dass er versetzt wird, noch warum, noch wohin. Wie sich später herausstellt, wird er ausgerechnet im Jugendstrafvollzug eingesetzt. Vertuschung – das ist und war genau das richtige Wort dafür.

Vertuschung – das ist seither das Wort, das an der Kirche klebt. Man könnte fast sagen: trotz allem, was man als Institution, fehlerhaft sicher und unperfekt, aber doch mit neuem Ansatz, versucht anders zu machen… Ich bin bei Kapitel 4

4.    Auf dem Weg ins Neuland – zwei Kommissionen und ihre Ergebnisse

Aus der klaren Einsicht, dass man den Expertenblick von außen braucht, damit die Auseinandersetzung auch eine Aufarbeitung wird, hat die Nordkirche 2012 beschlossen, eine unabhängige Kommission bestehend aus vier juristischen bzw. sozialwissenschaftlichen Expert/innen einzusetzen. Der Auftrag wurde in einem genauen Vertrag festgehalten und bestand darin, aufzuarbeiten, wie sexualisierte Gewalt in der damaligen Nordelbischen Kirche, ausgehend von Ahrensburg, geschehen konnte. Der 500-seitige Bericht liegt seit Oktober 2014 vor und ist von der Kirchenleitung der Nordkirche ungekürzt veröffentlicht worden (<link http: www.kirchegegensexualisiertegewalt.nordkirche.de>www.kirchegegensexualisiertegewalt.nordkirche.de).

Aus den 155 Empfehlungen des Berichtes haben wir mit einem Zehn-Punkte-Plan unmittelbar Konsequenzen gezogen für unsere  - schon derzeit intensiv in Arbeit befindliche - Prävention und Krisenintervention. Darauf gehe ich am Ende noch ein wenig näher ein. Diese zehn Punkte sind wie eine Art Leitplanke, die im guten Sinne versachlichen und orientieren. Nicht verhehlen aber will ich, dass darüber hinaus der Bericht tiefe Emotionen ausgelöst hat. Denn er hat der Nord(elbischen) Kirche eine intensive, sehr kritische Rückmeldung gegeben, was er ja auch sollte. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich es kaum aushalten konnte, diese 500 Seiten durchzulesen. Weil „meine“ Kirche, das wird dezidiert aufgeführt, so eklatant versagt hat. Seite um Seite. Da ist so viel Schmerz. Natürlich auch der der Betroffenen! Und es ging mir beim Lesen dieses Aufarbeitungsberichtes oft durch den Sinn: Nur durch den Schmerz hindurch und nicht an ihm vorbei können wir lernen.

Konsequenterweise ist dann zum zweiten der Kirchenleitung deutlich geworden: Auch wenn man niemals „entschädigen“ kann, was Menschen durch das Verschulden auch der Institution erlitten haben – man muss um einer ehrlichen Würdigung der Betroffenen willen ausdrücklich anerkennen, dass ihnen Unrecht geschehen ist. Seit Dezember 2012 arbeitet deshalb eine zweite Kommission. Die Kommission für „Unterstützungsleistungen für Missbrauchsopfer in Anerkennung ihres Leides und in Verantwortung für die Verfehlungen der Institution“. Hinter dieser langen Bezeichnung verbirgt sich ein neues Konzept, das die Nordkirche unter fachlicher Beratung und gemeinsam mit Betroffenen entwickelt hat. Es ist dies ein Konzept, wie man sich individuell - gemeinsam mit Betroffenen bzw. deren Lotsen -  auf Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid einigen kann. Heißt: Anerkennung materieller wie immaterieller Art, die auch auf die Zukunft, auf das Gelingende im Leben ausgerichtet ist. Unbürokratisch, zügig, ohne Nachweise darüber, was mit dem Geld geschieht.

Die Gespräche gehen unter die Haut. Den Betroffenen gilt dafür unser Dank. Auch dass sie überhaupt mit uns reden. Und reden wollen. Wichtig dabei: Unseretwegen müssen sie nicht die belastenden Missbrauchssituationen erneut oder gar Details schildern, auch zuvor keine Fragebögen ausfüllen. Doch in den allermeisten Fällen ist es den Betroffenen wichtig, dass wir aufmerksam hören, was passiert ist. Damit die Institution wach wird und wach bleibt. So kommt es manchmal dazu, dass es mehr als ein Gespräch gibt.

Um die Belastung der Betroffenen möglichst gering zu halten, besteht das Angebot von Lotsen und Lotsinnen, die von den Betroffenen frei ausgewählt werden können. Wohlgemerkt: Die Betroffenen sind völlig frei, das Angebot anzunehmen. Die Lotsen gehören unterschiedlichen Opferhilfe-Organisationen an, auch eine kirchliche Lotsin ist dabei. Diese Lotsen sind dazu da, die Betroffenen zu beraten, sie als Beistand zu vertreten, sie auf Wunsch im Gespräch mit der Kommission zu begleiten oder gar in Abwesenheit der Betroffenen für sie zu reden. Die Betroffenen können auch z.B. ihre Therapeuten als Lotsen oder Lotsinnen einsetzen, wenn sie es wollen.

Seit Dezember 2012 haben wir uns in der Unterstützungsleistungs-Kommission mit fast allen Betroffenen, die seitdem aus der ganzen Nordkirche an uns herangetreten sind, verständigen können.Und das ist unerhört erleichternd. Nicht nur für uns, ganz offenkundig und explizit auch für die Betroffenen. Dabei ist den meisten enorm wichtig, dass es neben der materiellen auch irgendeine immaterielle Anerkennung gibt - es geht eben um Achtung, Würde, manchen gar um Versöhnung.

Die Arbeit in dieser Kommission ist mehr als intensiv; sie rüttelt auf, macht uns traurig. Glücklicherweise berät uns eine erfahrene Therapeutin; Supervision ist selbstverständlich. Denn wir sind mit Traumata schwer verletzter Menschen konfrontiert. Mit zerstörerischer Macht und zutiefst verschämten und beschämten Menschen. Und mit unserer eigenen Scham und Vergebungsbedürftigkeit.

Und so sind alle vor jedem Gespräch aufgeregt: die Betroffenen, weil sie Angst haben, dass diese „Kommission“ ihnen nicht glaubt und von oben herab behandelt. Und wir sind aufgeregt, weil wir Angst haben, dass sie uns womöglich genau so erleben. Und dass es uns nicht gelingt, Vertrauen aufzubauen.

In jedem Fall merken wir, wie sehr wir hier Neuland betreten. Wir machen auch Fehler, nicht alles lässt und ließ sich konzeptionell im Vorwege erfassen. Deshalb sind wir jetzt dabei, die Arbeit zu evaluieren.

Lernen - ich komme zum Schluss - Lernen, das ist das Programm. In den 13 Kirchenkreisen, gemeinsam mit der Präventionsstelle der Nordkirche und entlang des 10-Punkte-Plans entwickeln wir derzeit Konzepte, wie sich in den Kirchengemeinden und Kitas und Einrichtungen so etwas wie eine neue Haltung entwickelt, die un-hysterisch und sachgemäß das Thema Grenzverletzung, aber auch das Thema lebensfreudige Sexualität offen angeht. Gerade in der Jugendarbeit geht es dabei um Enttabuisierung in gutem Sinne. Aber auch

-       um ein explizit in den Gesetzen verankertes Abstinenzgebot (sexueller Kontakte) in allen Bereichen seelsorgerlicher Arbeit,

-       um den Aufbau einer professionellen und traumatherapeutisch begleiteten Krisenintervention im Akutfall,

-       um eine kirchlich unabhängige Ansprechstelle für Betroffene, die bereits seit letztem Herbst arbeitet (www.wendepunkt-ev.de/una.html)

-       um ein ambitioniertes Fortbildungsprogramm,

um nur einige Punkte des 10-Punkte Planes zu nennen, den wir teilweise bereits umgesetzt haben bzw. versuchen umzusetzen.

Lernen, das ist das Programm. Aufarbeitung bedeutet eben nicht: Abarbeiten. Aber es bedeutet: zutiefst sinnhafte Arbeit. Weil man durchschauen lernt, dass Gewalt solange Macht hat, solange man sie nicht beim Namen nennt. Und das zu tun, dazu sind wir alle hier.

Dafür danke ich Ihnen. Ebenso wie für Ihre Aufmerksamkeit.

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