9. Februar 2012

Vortrag zum Jahresempfang der Stadtmission

09. Februar 2012 von Kirsten Fehrs

"Metaphysische Obdachlosigkeit. Wer sind die `Armen´ in unserer Stadt"

Ein gesegnetes, kraftvolles, inspiriertes neues Jahr Ihnen und der Stadtmission! Das ist das wichtigste zuerst: Segen, den ich Ihnen und euch in herzlicher Verbundenheit wünsche. Ebenso herzlich danke ich für die freundliche Einführung und die Einladung zu diesem Jahresempfang. Ich freue mich sehr, zu Ihnen reden zu dürfen. So kann ich gleich die Gelegenheit nutzen, Sie zu erwärmen für ein Ereignis, das uns hier in Hamburg in absehbarer Zeit ins Haus steht. Genauer: nicht nur ins Haus, sondern in die Stadt, in die Hallen, Kirchen, auf die Plätze: Der deutsche Evangelische Kirchentag! Er wird die U-Bahnen wieder mit Gesang plus furchtbar guter Laune am frühen Morgen füllen, wird die kontroversesten Debatten führen und bestimmt wieder eine politische Bewegung in Gang setzen – was wäre die Friedensbewegung ohne den Kirchentag 1981 gewesen?

Evangelischer Kirchentag ist Protestantismus von unten. Und das spiegelt sich auch in seiner Grundidee: Immer verbindet der Kirchentag die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der Suche nach Lebens-Sinn. Nach Gottes Spuren auf dem Boden der Realität. Sorgfältig, kritisch, scharfsinnig, mitunter gar prophetisch wird hingeschaut, hingehört, diskutiert, protestiert. Und dies immer mit dem Blick, selbst als Christin oder Christ Verantwortung zu übernehmen für eine lebensnahe, vielseitige – ja tatsächlich überzeugt plurale! – Kirche, die alles andere als beliebig ist. Vielmehr ist sie eine Kirche, deren „Kerngeschäft“ Gerechtigkeit heißt. 150.000 Menschen erwarten wir. Sie brauchen Obdach. Die Jungen werden zu Gast sein in den Schulen und Gruppenquartieren. Und da ab einem gewissen Alter die Isomatte nicht mehr schmerzfrei zu überstehen ist, sind die älteren bei privaten Gastgeberinnen und Gastgebern. Und ich frage Sie und mich: Was und wen werden sie antreffen, hier in Hamburg, im Mai 2013? Sicherlich auch das, worüber ich nun zu Ihnen reden möchte: zum einen über einige Aspekte der realen Armut, zweitens über die Sinnfrage als Frage nach der metaphysischen Obdachlosigkeit, sowie drittens über Gedanken zur Mission der Kirche in, mit und für unsere Stadt.

Alles Themen, die gerade keinen abstrakten theologischen Vortrag brauchen können. Auch auf Zahlen und Statistiken möchte ich verzichten; sie spiegeln zwar manches, was Realität darstellt – doch sind sie meist ermüdend und vermitteln letztlich kein Bild der Wirklichkeit. Dagegen interessiert mich das andere: das, was wir sehen. Sie und ich. Was wir für wahr nehmen und wie wir es beschreiben können. Damit wir uns innerlich einem Phänomen annähern können, das die wenigsten unter uns kennen und verstehen.

Deshalb zuallererst eine persönliche Frage, meine sehr geehrten Damen und Herren. Haben Sie jemals unfreiwillig eine Nacht ohne Dach verbracht? Ich gebe zu – ich habe dies nie erlebt. Doch ich sehe es täglich. Obdachlosigkeit ist real, und sie liegt im wahrsten Sinne vor der Haustür.- So bin ich beim 1. Kapitel:

 

 I.        Reale Obdachlosigkeit

Wir kennen ihn schon lange. Er ist uns fast vertraut. Und zugleich so fremd in seiner eigenen, stillen, derzeit überaus kalten Welt. Jeden Abend bezieht er seinen Ladeneingang nebenan. Es ist seine Adresse - und, wie er findet, nicht die schlechteste. Neben sich ein bisschen Tabak, ein Bier, wenn´s ein guter Tag war, eingemummt in einen Schlafsack von einer der karitativen Einrichtungen in Hamburg. Er gehört zum vertrauten Bild unserer Straße, und doch wissen wir nichts von ihm. Genauso wenig wie von den meisten Wohnungslosen ohne Obdach. Wie sie früher gelebt, welchen Beruf sie erlernt, welche Liebe sie verlassen haben, ob sie Söhne haben oder Töchter, welches Unglück sie heimatlos gemacht. Obdachlosigkeit passiert schneller als sie zu verstehen ist.

Ob sie je – wenigstens zeitweise - eine Wohnstatt hatten, frage ich mich. Ist das, was sie in ihren Tüten und Einkaufswagen mit sich tragen, so etwas wie ihre Heimat? Ihr Dach und Schutz und Schirm? Oder anders gefragt: Wie übersteht man diese Kälte, diesen Regen, diese Schwüle – jeden Tag? Worauf hofft man, wenn man so lebt? Auf eine Wohnung, sicherlich, doch wann, wie, wo – hier in Hamburg?

So wenig wir verstehen – eines steht fest: Ihr Leben kennt kein Dach. Bei manchen scheint es gar so zu sein, als würde ein Dach ihnen den Atem nehmen. Oder auch: all die anderen, die mit unter diesem Dach leben. Abend für Abend. Das liegt nicht allein daran, dass die Unterkünfte, gerade die Notunterkünfte, grenzwertig auszuhalten sind. Ich glaube, vorsichtig gesprochen, es gibt das Phänomen, dass Obdachlosigkeit für einige in ihrer Situation manchmal die letzte innere Freiheit zu sein scheint. Deshalb gehen sie ins Freie. Auf der Suche nach Würde. Autonomie. Klarer Luft. Aber sie erleben real: Nichtachtung, Fremdbestimmung, Auszehrung. Ihnen wird kalt, so kalt im Moment, und sie werden krank. Unser Mann im Ladeneingang nebenan übergibt sich jeden Morgen, elendig. Mir geht das durch und durch. Die letzte innere Freiheit ist gnadenlos zunichte gemacht. Sie verarmt in den Armen geraubter Würde. Und so ist´s ohne Dach nicht innere Freiheit, sondern die letzte innerste Verzweiflung.

Glücklicherweise geht es vielen durch und durch. Durch Seele und Leib. Deshalb bewegen sie sich und andere. Um warm zu werden und Wärme zu verteilen. Sie, Sie hier in diesem Saal sind es ja selbst und wissen das am besten, fahren Mitternachtsbus, bewegen das Zahnmobil, geben im Kirchencafé einen aus und tauschen als Seitenwechsler den Armani-Anzug des Bänkers mit der Jacke der Bahnhofsmission. Und wer im Herz As schon einmal Dienst in der Kleiderkammer getan hat, weiß, was die einen so dringend brauchen und die anderen nicht mehr. Weiß, was Armut ist und Scham und weiß, dass Reichtum auch die helfende Hand kennt. Für eine humane Gesellschaft ist relevant, dass wir die Begegnung mit dieser Realität in ihrer Differenziertheit suchen. Aktiv, freundlich, interessiert. Deshalb wird es Zeit, dass wir mit den Armen in der Gesellschaft reden und nicht über sie.

Um kennen zu lernen, wer sie sind. Woher diese Armut kommt und ob man sie auch irgendwann wieder loswird. Wie sie sich beschreiben lässt – und dies nicht allein aufgrund von Quantität. Das Bild erlebter Armut bleibt unvollständig, wenn man nur fragt, wie viel oder wenig jemand verdient, wie viel oder wenig Hartz IV umfasst, wie viel Kilos er oder sie hat. Relevant ist vielmehr, ob jemand teilhat an Kultur, Bildung, Gesundheit, Lebenslust. Relevant in unserer ökonomisierten Welt ist also genau das Andere: Lebens-Qualität. Wir alle merken, gerade wenn wir schwere Krisen durchkämpfen und überstanden haben: wirklich wichtig ist die Erfahrung von Zuwendung, Trost, Freundschaft und Lebensfreude, eben Qualität von Leben. Und das ist ein zutiefst religiöses Thema. Zielt doch unser Evangelium darauf, dass jeder Mensch diese Lebenslust erfahre, mit all den Äußerungen, die dem eigen sind: Genuss, Liebe, Begehren, dem sich zugehörig fühlen und schöpferisch sein. Herrlichkeit nennt das die Bibel.

Und so komme ich zu deren Gegenteil, Kapitel:

2.     Metapysische Obdachlosigkeit – oder:

2.1.  Religiöse Armut macht krank

Er hat die kleinen Anzeichen konsequent gering geachtet, sagt er. Und irgendwann war die Kraft zu Ende. Als Ralf Rangnick vom Fußball-Bundesligisten Schalke 04 aufgrund eines Erschöpfungssyndroms zurücktritt, wird dies mit Respekt und Mitgefühl begleitet. Es sei eine persönliche Tragik, hieß es.

Ich horche auf. Denn nur persönlich ist die Tragik nicht. Vielmehr gehört er zu denen, die die Kehrseite unserer Leistungsgesellschaft erleben, deren Volkskrankheit Nr. 1 Depression heißt. Es wäre ein erster heilsamer Schritt, laut darüber nachzudenken und zu reden, was denn in diesen Leistungssystemen etwa des Sportes, der Medien, der Politik krank macht. Ein Schritt, an dem alle hier beteiligt wären. ….

Doch das Problem reicht meiner Überzeugung nach tiefer: Ich beobachte, dass die meisten Menschen auch nicht mehr in Sprache fassen können, was sie gesund macht – theologisch: was sie heil sein lässt. Sie haben buchstäblich keine Worte – und damit auch keine Vorstellung - für das, was ihnen Lebenslust ist und Qualität von Leben. Etwas, das sie verheißungsvoll erwarten wie ein Kind, das geboren wird. Damit es die alte Ordnung, das ständige getaktet sein, die Fremdbestimmung vom Sockel stürze.

Vielen fehlt, so meine These, der Kontakt zu einer Vision, die einem Kraft gibt und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinaus weist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Unsere Gesellschaft leidet zunehmend unter dem Verlust dieser Dimension. Es fehlen Momente und Orte der Be-Sinnung, an denen man nach Sinn fragt und Liebe, danach, wie man mit Scheitern umgeht und inneren Grenzen, mit Schuld und Verletzung – all dies kommt kaum irgendwo unter. Wir sind damit metaphysisch obdachlos. Und wenn einen dann irgendwann der bekannte Ruck durchfährt mit der Frage: Das soll alles gewesen sein? , dann werden etliche sich einer eigentümlichen Leere bewusst. Schlicht, weil es keine Anknüpfung mehr gibt an den Menschen, der man einmal war und auch nicht mehr an den, der man sein wollte. So lässt diese metaphysische Obdachlosigkeit einen stumm werden, wenn´s ums Ganze geht. Wenn es um unsere Wurzeln geht und unser Ziel, um Vertrauen und Gewissheiten.

Entsprechend konstatieren Religionswissenschaftler, dass das Bedürfnis nach letzten Überzeugungen, die tragfähig sind und dem Leben insgesamt Grundlage und Richtung geben, besonders groß geworden sind. Denn: Da muss doch etwas und mehr als das gewesen sein! Man möchte das eigene Leben auf einen letzten, allumfassenden Zusammenhang bezogen verstehen, es in einem letzten Zweck versammelt wissen, möchte sein Leben als gehaltvoll und bedeutsam erkennen. Ohne diese Anerkennung des eigenen Seins kann kein Mensch leben. Der Mensch braucht individuelle Bedeutsamkeit im Gewebe allgemeiner Deutungen. Deshalb sucht der moderne Mensch „nach Sinn, nach Halt und Geborgenheit, nach einer zielgewissen Lebensorientierung“[1], die das Ganze der Wirklichkeit in sich aufnimmt. Der Sinn wird erst tragfähig, wenn alles Einzelne in einem umfassenden Horizont enthalten ist. Dies aber stößt sich an der gesellschaftlichen Realität der Moderne, die aus zig unverbundenen Teilsystemen besteht. Einzelne Sinnsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur folgen jeweils ihrer eigenen Logik und funktionieren für und in sich. Für ein umfassendes Sinnsystem jedoch, oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung, gibt es kein Forum: Es wird immer weniger erkennbar und damit immer weniger plausibel. Was bleibt, ist die Frage. Die Sprachlosigkeit. Die Leere. Der Flachbildschirm. Mit Symptomen, die zeigen, wie gefährdet die Humanität unserer Gesellschaft ist: Krankheiten wie Depression z. B. oder fremdenfeindliche Attacken in Internetforen. Kaltblütige Hassreden in Wohnzimmern. All das, was einen frösteln lässt, wie ein Haus ohne Dach.

Das gab es Jahrtausende zuvor auch schon. Unsere jüdisch christliche Tradition hatte dabei eine weise Methode, gegen zu halten:

2.2            Wer Visionen hat, ist gesund

Unsere Religion erinnert. Sie erinnert an die Zukunft, indem sie die großen Verheißungen noch und noch wiederholt. Sie erinnert an die Wärme und die Sprache Gottes und macht die Gegenwart erträglich.

Vor 3000 Jahren etwa. Das Volk Israel steht vor verwüsteten Feldern und den rauchenden Trümmern ihrer Lebenshäuser. Das ganze Volk Israel war gebannt in seiner Heimatverlorenheit, innerlich wie äußerlich. In dieser schrecklichen Situation erinnert der Prophet Micha, dass es einen geben wird, der das Volk rettet:

Und du, Bethlehem, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll kommen, der in Israel Herr sei. (…) Und sie werden sicher wohnen, denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein. (Micha 5,1.3f)

Sie werden sicher wohnen. Darauf geht schon immer alles Sehnen. Und bevor ich dieser Suche nach Obdach weiter nachgehe, drängt sich die Aktualität dazwischen: Wie mag man so etwas heute in Bethlehem hören, frage ich mich? Steht man doch dort vor einer 8 m hohen Mauer, die durch diesen tatsächlich sehr kleinen Ort hindurch geht. Sie ist Stein gewordenes Symbol eines endlos scheinenden Krieges zwischen Israelis und Palästinensern, der unvereinbaren Trennung zwischen Juden, Moslems und Christen, Orthodoxen und Gemäßigten, sie alle gleichermaßen in Angst vor dem Terror und der Gewalt des anderen. Wer wird da ihr Friede sein?

Immer wenn ich als Christin laut bekennend daran glaube, dass Michas Friedensverheißung in Christus wahr geworden ist, ja dass mit einem kleinen Kind in einem zugigen Stall auch das Böse in uns umarmt wird, um es zu überwinden, – jedes Mal wieder fühle ich den Schmerz über die Verlorenheit, die Menschen an so vielen Orten der Erde friedlos macht und kalt. Dort – und hier. Hier nun geht mir besonders nach, wie viele ihren Glauben verloren haben und schützende Gebete. Wie viele in ihrer Religion nicht mehr zu Hause sind und damit auch nicht mehr in ihren – zugegeben mitunter sehr wortgewaltigen – Verheißungen. Wir sind nicht mehr zu Hause in unseren Friedenssehnsüchten! So richtet diese metaphysische Obdachlosigkeit in der westlichen Welt, im modernen Menschen etwas an: Sie entledigt ihn auch seiner Religion. Immer weniger Menschen wissen etwas von ihr. Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle. Es redet kaum noch jemand von dem, was er glaubt, was ihn leitet, was ihm Halt gibt. Es wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, Gebote, vertraute Gebete, ohne Halt ist der moderne Mensch fast alles losgeworden, nur nicht seine Verlorenheit.

Deshalb ist es die Sache aller Religionen und aller Konfessionen in dieser Stadt, gemeinsam gegen diese Gottvergessenheit oder anders formuliert: Arreligiösität anzugehen. Dies besonders durch Bildung – etwa durch Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Religionsunterrichtes. Ihn gilt es in gemeinsamer Verantwortung dringend einzufordern und einzulösen! Ich bin sicher, wir einigen uns, wie das geschieht – Hauptsache, dass es geschieht!

Den Menschen von klein auf religiös wieder Obdach zu geben, ist deshalb so dringlich, weil sonst Grundüberzeugungen wie Nächstenliebe und Toleranz in unserer Gesellschaft verloren gehen. Die braucht es aber. Gerade jetzt, wo fremdenfeindliche, rassistische und rechtsradikale Gedanken wieder mehr Verbreitung finden und salonfähig werden. In unserem Land braucht es eine Allianz der Humanität gegen radikale Tendenzen überhaupt. Und das um Gottes Willen.

3.     Um Gottes Willen – Mission mit Feingefühl

Wie könnte es gelingen, den christlichen Glauben wieder sprachfähig zu machen und in säkularer Welt plausibel werden zu lassen? Wie Obdach geben?

Ich bin sicher: nicht dadurch, dass wir noch mehr Events, noch mehr Konzepte entwickeln und kompatibel sind mit aller Welt. Die Suchenden merken, wenn sie da einer werben will, der aber letztlich weder brennt für die Sache, die er vertritt, noch ein tieferes Interesse hat an den Menschen, die ihm begegnen. Ein Gegenbild zur Erfolgsquote, darum geht es mir je länger desto deutlicher. Wichtig dafür wäre eine christliche Sprachkultur, die an die Erfahrungswelt unserer nicht-kirchlichen, aber Sinn-suchenden Zeitgenossen anknüpft und sie so beschreibt, dass sie durchlässig ist für christliche Glaubensbilder. Und dies braucht Zeit. Begegnung. Kontinuität. Besonders empfänglich sind Menschen bekanntlich an den Wendepunkten ihres Lebens. Wenn ein Kind geboren wird. Wenn zwei sich verlieben. Und sich entschließen, ihre beiden Lebenswege zu einem gemeinsamen verschmelzen zu lassen. Wenn wir Abschied nehmen müssen und tieftraurig an Gräbern stehen. In diesen Momenten, in denen so viel mit uns passiert und die wir am wenigsten verstehen, können christliche Glaubensgeschichten und Glaubenserfahrungen die Lebenssituation für die Menschen deuten und aufschließen und damit in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dafür braucht’s eine eigene, aber verständliche Sprache: behutsam, einfühlend, bilderreich. Religiöse Sprache eben, die unbeirrbar das Gute sucht und meint:

„Das Gute kann nur entdeckt werden,

das Gute kann nie vollstreckt werden,

es kann auch in Dir geweckt werden

darf aber niemals verzweckt werden.

Das Gute ist kein Wohlverhalten

lässt sich durch Regeln kaum verwalten,

und will's der Teufel ständig spalten -

die Liebe wird doch nicht erkalten.

Das Gute kommt in leisen Tönen

Will uns mit stiller Kraft versöhnen,

das Leben sachte uns verschönen,

daran muss man sich erst gewöhnen.“[2]

Wenn man möchte, kann man diese Sprache „missionarisch“ nennen. Dann aber gerne in dem Sinn, den Matthias Drobinski am letzten Sonntag in den NDR-Glaubenssachen beschrieben hat. Die großen Kirchen in Deutschland müssen, statt noch betriebsamer zu werden, eine eigene Tiefe finden, sagt er. Das meint eine Frömmigkeit, die heraus kommt aus dogmatischer Starre aber zugleich nicht das Gottesgeheimnis auflöst in eine Wellness-Religiosität, in der Gott allenfalls der beste

 

Therapeut ist: „Die Christen müssen sich, statt sich sicher im eigenen Milieu zu bewegen, der Erfahrung von Fremdheit aussetzen. Sie ist das Kennzeichen alles Missionarischen.“[3] Das bedeutet: wir müssen lernen zuzuhören, ohne das Gehörte abzuwerten und ohne die eigenen Grundsätze zu verraten: „Die Mission der Zukunft für Christen wird heißen: Zeugnis geben in einer zunehmend glaubensfremden Welt, ohne den Anderen zu belästigen. Und das, was daraus wird, einer höheren Macht zu überlassen.“[4]

„Ohne den anderen zu belästigen“ - das gefällt mir sehr. Überhaupt sollte jeder Mensch, der missionarisch wirken will, mindestens einmal selbst eine Mission überstanden haben[5]… Am Ende werden wir der metaphysischen Obdachlosigkeit nicht anderes entgegen halten können, als immer wieder von den Erfahrungen zu erzählen, wie wir selbst einmal ein solches Obdach gefunden haben. Diese Erfahrungen sind vielleicht alles, was wir haben. Aber sie sind offenbar auch alles, was wir brauchen… Ihr werdet sicher wohnen – das unbehauste Kind in der Krippe, das so verloren scheint, wie es so liegt auf dem kalten Boden, – dieses Kind weiß, dass es auf etwas ganz anderes ankommt als äußere Mauern und wehrhafte Panzer. Sicherheit hat etwas damit zu tun, sich innerlich beheimaten können, Halt zu haben und zu geben durch Menschenrecht und Liebeswort. Aug in Aug, Wort zu Wort, Hand zu Hand.

Denn: Ein Zuhause entsteht im Zusammenhalten, im Miteinander. Menschen können sich gegenseitig das Dach sein. Nicht nur Eltern und Kinder, sondern Menschen in allen nur denkbaren und unverhofften Konstellationen können zueinander gehören und sich halten. Und auch das kann stark und echt sein. Siehe Kirchentag. Oder Stadtmission. Heimat, bei uns in Deutschland ja lange Zeit ein belasteter Begriff, Heimat ist hier eben nicht Idylle. Sie nimmt gerade auch das Unbehauste, Wütende, Verlorene von uns auf. Und sie nimmt die auf, die tatsächlich – physisch – ohne Obdach sind. Auch die, die die Enge einer Unterkunft nicht (mehr) ertragen, für die „Heimat“ etwas Zerbrochenes, mag sein der Schlafsack im Nebeneingang ist.

Denn unsere christliche Mission lautet: es gibt eine Verbundenheit auch mit denen, die uns so überaus fremd sind! Von denen wir nicht viel verstehen, auch nicht, was ihnen hilft. Das Haus, das Gott für uns UND sie baut, ist windig und wackelig und ungemütlich und mehr ein Zelt als alles andere. Jedenfalls kein idyllisches Heimatbild. Aber es ist unzerstörbar ein Haus, in dem Menschen miteinander leben, Mitgefühl üben und Hoffnungen nähren:

Mag sein,

Heute, gerade heute

Wird es anders als alle anderen Nächte.

Friedensworte lassen sich liebkosen

wie einen geliebten Menschen,

Glaube lässt sich

in beide Arme nehmen und

Liebe darf mietfrei

in jedem wohnen.

Jeden Tag.

Es gibt also einen Weg, dass die so vielen erschöpften, verängstigten, bitter gewordenen Menschen unserer Tage ein Dach über ihr Herz bekommen. Indem man ihnen gibt, was man einem Kind gibt: Stillen und beruhigen, was so unheil ist in einem, Worte finden dafür, was ein Mensch einem bedeutet, Achtung, die manchem nie gewährt wurde – und viele, viele Tassen Kaffee dazu.

Na Engelchen, höre ich einen auf der Straße zu einer der Helferinnen sagen. Na, Engelchen, haste `nen Kaffee? Den hat sie. Und ein gutes Wort. Freundlich sagt sie, weil es ihr spontan einfällt: Friede sei mit dir. Da hält er plötzlich inne, steht einen Moment ganz still, als lausche er dem Klang noch nach – und geht, was sage ich: er zieht seine Straße fröhlich. Ein Lächeln ist wie eine Antwort auf die menschlichste aller Fragen, ob das Leben seinen Sinn findet. Es antwortet mit Ja. Und du bist zu Haus.



[1] Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, S. 70

[2] Reinhard Schmidt-Rost: Predigt zur Christvesper 24. Dezember 2002, www.predigten.uni-goettingen.de/archiv-5/021224-8.html

[3] Matthias Drobinski: Mission Zukunft. Kirchliches Reden von Gott in der Welt, NDR Glaubenssachen 5. Februar 2012, S. 6, www.ndr.de/ndrkultur/programm/sendungen/glaubenssachen/gsmanuskript349.pdf

[4]
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