Wer sich sehnt, bleibt nicht stehen
20. Juni 2015
Gottesdienst anlässlich der Überreichung der Zertifikate an die Teilnehmerinnen des Fernstudiums "Theologie feministisch" mit einer Predigt zu Psalm 8
Liebe Festgemeinde! Liebe Schwestern und Brüder! Na, das ist ja ein grandioser Psalm für diesen Anlass, grummelte es in mir feministisch theologisch sensibilisiert - als ich in der Lutherübersetzung gleich mit dem ersten Vers vernahm: Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name...
Echt "kess", liebe Frauen.
Doch jetzt und hier, mit geschlechtergerechter Rotnasigkeit und frohsinnigen Schwesterbegegnungen, staunend über Fülle, Glanz und viele Krönchen, da bin ich schwer beeindruckt. Es ist schön hier zu sein und mit Ihnen und euch den Abschluss des Fernstudiums Theologie feministisch zu feiern. Zumal es eben nicht nur ein Abschied ist. Sondern auch ein Beginnen. Immer wieder neu. Denn vermutlich haben Sie diese Erfahrung auf den sieben Wegstationen des Studiums oft gemacht: Je mehr sich einem an Erkenntnis aufschließt, desto mehr Türen sind auf einmal zu sehen, wo es auch verheißungsvoll wäre, sie zu durchschreiten. So viel will doch noch entdeckt und gelernt, verstanden und geherzt sein!
Zu diesem Schwung nach vorn passt übrigens, dass der Psalm 8 im liturgischen Kalenderjahr immer zu Neujahr gelesen wird. Am Übergang also vom Alten zum Neuen geht es mit seiner zentralen Frage um ein Innehalten und zugleich Kraftschöpfen: Was ist der Mensch, Gott, dass du seiner / ihrer gedenkst? Diese Grundfrage aller Existenz, die Frage nach unserem Woher und Wohin, schickt uns über die Schwelle hin in einen neuen Raum. Und zwar nicht nur in einen neuen Zeitraum eines Jahres, sondern in einen inneren Raum, der Entwicklung verspricht - so wie es das Fernstudium für Sie gewesen sein wird. Ein Raum eben zu Exkursion und Nachdenklichkeit, zum Grenzen ausloten und Neuigkeiten entdecken, Raum auch für die Empathie, was in diesen Zeiten unter den Nägeln brennt und welche Fragen uns von der Welt ins theologische Studieren hinein geworfen werden.
Dann kann wirklich eine Theologie entstehen, die nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz erreicht. Eine Teilnehmerin hat dies wunderbar zusammengefasst: "Ich habe neue heilende Glaubensräume betreten. ... Eine Theologie von unten, die ihren Sitz in meinem Leben hat und nicht auf den Lehrstühlen." Und dafür gibt's dann erst recht ein Zertifikat - ein - so übersetzt aus dem Lateinischen: "Sicher-machen", eine Vergewisserung. Der innere Raum wird im Lernen gefüllt mit Vergewisserung, dass Gott, wie immer wir ihn oder sie für uns erkannt haben, tragender Grund ist und bewegende Verheißung.
Und das ist bei aller guten Lerngemeinschaft, die Sie miteinander erlebt haben werden, auch etwas hoch Individuelles. In der Grammatik des Psalms ist jedenfalls erst einmal der Singular gesetzt, jede Einzelne im Blick. Was ist der Mensch, dass du seiner oder ihrer gedenkst? Was ist ein Menschenkind, so geht es weiter, dass du, Gott, dich seiner annimmst und nach ihr siehst?
Das ist interessant und zugleich ein wenig sperrig: Dieser Begriff "Kinder". Menschenkinder. Der Sinn jedoch meint gerade nicht "kindisch" und klein. Sondern zugehörig. Jede und jeder hier ist ein Augenstern Gottes. Immer wieder wird es in der Bibel betont. Buchstäblich vom ersten bis zum letzten Kapitel - wir sind Kinder Gottes. Vom Mutterleib an geschaffen mit unzähligen Gaben sind wir belebt vom Atem, von der Geistkraft Gottes, und deshalb sind wir heilig. Unantastbar. Jede und jeder. Es ist der erste Artikel nicht nur des Grundgesetzes. Es ist auch das Ziel des 8. Psalms. Wir haben es eben gemeinsam bestaunt: Wenig geringer als Gott lässt du uns sein, gekrönt sind wir mit Würde und Glanz. Und nicht nur zärtlich zugesprochen ist es uns, sondern auch Protest liegt darin: Die Geschöpfe Gottes sind in ihrer Würde unantastbar! - Was für eine Nachricht in einer Welt voller Kriegs- und Terrormeldung. Was für eine Nachricht im Angesicht verfolgter und vergewaltigter Christinnen und Jezidinnen und all der Opfer von Erniedrigung und unvorstellbarer Gewalt.
Nein: unantastbar, so unser Protest, unantastbar soll die Würde aller sein. Nicht zur Zerstörung freigegeben. Die Liebe zum Leben ist das Erste und das Letzte unserer Theologie des Herzens. Aus lauter Liebe werden wir in diese Welt hineingeboren und werden sie, so will es Gott, geliebt wieder verlassen. Die Liebe zum Leben ist A und O unseres Seins. Und wir sind auf der Welt, dieser Liebe zum Leben zu verhelfen. Das ist der Mensch! Gibt es im Leben einen tieferen Sinn?
Der Psalm sekundiert: Du hast uns nicht viel niedriger gemacht als dich selbst, mein Gott. Und also haben wir per se Größe. Weil wir Menschenkinder Kinder Gottes sind, sind wir frei von knechtendem Geist. Wir sind befreit davon, erniedrigend, entwürdigend und abwertend zu sein, anderen oder auch uns selbst gegenüber. Vielmehr: Ein Bild von einem Menschen sind wir - schön, klug, begabt, rotnasig, vergnügt, tiefgründig, kurz: wunderbar gemacht! Das sollten wir uns täglich dreimal positiv zumuten.
Und also, Menschenskind!, geht es doch stets darum, diese Größe, die wir haben, zu zeigen. Mensch zu werden. Zu liebkosen, loszulassen und aufzufangen, zu begehren und zu staunen, zu kämpfen und zu beten und immer wieder zu fragen: Woher kommst du und wohin willst du kommen?
Dazu gibt es es übrigens auch eine passende Geschichte. Wir sind - Achtung, Studium! - im Neuen Testament: Jesu Jünger, sicherlich diesmal nicht die Jüngerinnen, streiten sich, wer der Größte unter ihnen sei. Und was tut Jesus? Er stellt ihnen - wiederum! - ein kleines Kind vor Augen. Am Kind gilt es, sich auszurichten, um ins Reich Gottes zu gelangen. Nur der hat Größe, sagt Jesus, der auch nicht einen dieser Kleinen gering achtet.
Ich liebe meinen Glauben, weil er so revolutionär und in so klaren Bildern die Welt auf die Füße stellt: die gering Geschätzten zuerst. Die Kleinen nach vorn. Für sie, die an den Hecken und Zäunen verkümmern, für sie ist der Tisch des Herrn gedeckt. Für die Flüchtenden, Hungernden, die an Armut Leidenden, für sie, die vor sich selbst flüchten, die nach Liebe hungern, die verarmt sind an Barmherzigkeit - sie brauchen uns, sie brauchen die Kraft derer, denen Gott Gutes getan hat. Damit das Gute getan wird.
In der Mitte unseres Glaubens immer wieder das Kind. Und das meint - die Clownin hat uns den Weg gewiesen - auch das Kind in uns. Nicht im Sinne eines rührselig hilflosen Wesens, Gott bewahre. Sondern in dem Sinne, sich selbstvergessen hingeben zu können, über die Schönheit der Schöpfung zu staunen, Spielräume zu suchen, spontan, quer denkend, gewitzt und neugierig zu fragen: Warum? Warum?, so wie Kinder es unermüdlich fragen können. Warum will sie so leben und er so sterben? Warum verstehen wir nicht, was uns schmerzt? Was heißt hoffen - wie Gott es will? Warum bleibt Gott stumm? Die Geliebte krank? Die Frage im Raum?
Die Theologie geht mit. Mit jedem Warum, jeder Frage bis an die Zimmerwand des inneren Raums. Und zugleich bis ins Unendliche des großen Himmels, der sein Zelt über manch Ratlosigkeit spannt. Angesichts der großen Fragen im Leben ist die Theologie des Herzens ein Raum fürs genaue Wort. Die Abwägung. Das sensible Gespräch. Für Lösungen. Keine Lösungen. Für das Aushalten von Spannung. Und das Ertragen paradoxer Wirklichkeit.
Leicht ist das nicht. Unser Glaube ist eine Herausforderung, gerade für die Vernunft, die wissen will. Und Gott? Gott lässt sich nicht wissen. Das ist es ja gerade. Und also, das war immer schon eine Konsequenz - also hat der Mensch sich Gott zu seinem - oder ihrem! - Bilde gemacht.
Und dies nicht aus Hybris, ich bin sicher. Sondern weil sie sich sehnt. Es gibt in uns ein tiefes, manchmal herzzerreißendes Sehnen nach Licht und Klarheit, Trost und Segen. Danach, mehr von Gott, der Ewigen zu verstehen. Teilzuhaben an dieser göttlichen Vollkommenheit. Deshalb holen wir Gott manchmal ins allzu Irdische herunter: damit wir Unvollkommenen uns mehr mit uns selbst zurechtfinden. Es liegt Begehren in diesem Sehnen und Eros und Schmerz - alles zugleich. Denn in dem Maße, wie uns die Lieblosigkeit, Technokratie, das Unrecht und die Friedensferne ans Herz geht, in dem Maße steigert sich das Sehnen nach heilsamer Veränderung. Nach klaren Verhältnissen. Wer sich sehnt, bleibt nicht stehen, wo sie ist. Gut so! Wer sich sehnt, geht. Auch durch ein Fernstudium. Mit großer Kraft.
Nun denn, gehen Sie weiter, liebe Schwestern Theologicae. Mit Gott und der Geistkraft, die uns trägt. Woher immer wir kommen, wohin immer wir gehen - es wartet ein neuer Raum, der Freiheit heißt und jeder Frage, die wir mitbringen, Gastfreundschaft gewährt.
Dafür gebe Gott uns allen ein weites Herz und klugen Geist. Und möge sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, unsere Sehnsucht wachhalten und unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.
Amen