25. September 2015 | Lübeck-Travemünde, Brüggemanngarten

Wir haben alle ein Herz nach vorn zu werfen

25. September 2015 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst zur Themensynode „Zukunft der Ortsgemeinde“, Kurzpredigt zu 1. Kor 12

Die Kurzpredigt bezieht sich auf:
Vier kleine Geschichten von Gegensätzen…
die im Heiligen Geist zu etwas Neuem führen

 

Osternacht – Anja Fährmann

Osternacht. Der Kirchenraum in völliger Dunkelheit, die Schola singt. Christus Licht der Welt. Hier sind wir am Kern, die Kerngemeinde schließt die Augen und atmet Vertrautes. Wir taufen. Die Konfirmanden haben ihre Familien und Freunde mitgebracht. Unsicher wird in alle Richtungen geschaut. Peinlich berührt. Wir versammeln uns zum Abendmahl. Vater S. ist aufgeregt, greift sich beherzt den Kelch und tönt: „Ist irgendwie gut. Prost“. Ich antworte mit „Amen“. Auf dem Vorplatz der Kirche kommen wir ins Gespräch. „Das war echt Hardcore“, sagt er.  „Nächstes Jahr komme ich wieder."


Im Seniorenkreis – Dietrich Kreller

Im Seniorenkreis. Frau K. sitzt am hinteren Tisch und lauscht konzentriert den Worten des Pastors. Er trägt ein Gedicht von Eichendorff vor. Von der Seele, die heimfliegt. Später geht er von Tisch zu Tisch und unterhält sich mit den Frauen und Männern, die heute dabei sind.  Frau K. sitzt vor ihrem Kaffee, in Gedanken versunken. Sie wirkt müde. Der Pastor setzt sich zu ihr. Sie kommen ins Gespräch. Er bietet ihr an, sie in den nächsten Tagen zuhause zu besuchen. Frau K. winkt ab: Ich bin doch eh kaum dort. Morgen treffe ich mich mit meiner Laufgruppe, Nordic Walking. Dann geht es demnächst auf Tour ins Schweizer Jura. Ansonsten bin ich ziemlich auf Achse, meine Tochter lebt ganz in der Nähe, da habe ich rundherum zu tun, passe auf meine Enkel auf – sind gerade in einem schwierigen Alter - und organisiere nebenbei noch eine Gruppe, die kostenlos Deutschunterricht gibt. Mit meinen 82 Jahren habe ich die neue Rechtschreibregel noch nicht ganz intus – aber das wird schon noch.

Wortgottesdienst – Katharina Wittkugel-Firrincieli

Ein ganz normaler Wortgottesdienst in meiner Gemeinde. Alles läuft wie gewohnt und ist uns alten Gottesdiensthasen wohlvertraut. Ich fühle mich heimisch, denn die Lieder sind schön, die Predigt gut ausgearbeitet. Die Fürbitten werden, wie immer eingeleitet mit der Regieanweisung: "Wir nehmen die Bitten auf mit dem Ruf: 'Herr erbarme dich'." Der erste Abschnitt ist vom Pastor gelesen und er sagt: "Wir rufen…" Ein Kind in der Gemeinde ruft laut, mit all seiner Kraft in der Stimme: HERR ERBARME DICH!

 
Der Architekt - Thomas Hirsch-Hüffell

Architekt Wisbareit arbeitet zusammen mit seinem Kirchengemeinderat an einem Umbau seiner Kirche. Sie wollen das Gemeindehaus verkaufen und die Kirche nun so gestalten, dass man dort auch andere Dinge tun kann als Gottesdienst. Das kostet viel Mühe und Beratung. Sie haben ein Konzept geschafft, das eine knappe Million Euro kostet. Nun beginnen die Verhandlungen mit Banken und der Kirchenleitung.

Als er nach der letzten Abstimmung über dieses Konzept aus der Tür tritt, sieht er, wie die Kinder auf dem Kirchplatz ein großes wackliges Zelt aus Bettlaken aufgebaut haben. Darin liegen etwa 20 Kinder auf Sofakissen. Einen Teppich haben  sie sich besorgt, damit es unter ihnen warm ist. In der Mitte steht ein kleines Mädchen mit einem schwarzen Umhang aus Vorhangstoff und singt den anderen litaneiartige Melodien, dann holt sie ein Kreuz aus dem Tuch  und segnet alle. Gefragt, was sie machen, sagen sie, sie spielen Gottesdienst -  und hier stünden Limo, Chips und Pommes. Sie würden im Gottesdienst auch gern essen, das dürfe man ja nicht in der Kirche.

Architekt Wisbareit versteht und schweigt.


Schlusswort – Bischöfin Kirsten Fehrs

Vier Quergang-Geschichten, liebe Schwestern und Brüder, in denen sich für die Einzelnen so viel bewegt. Ja – sich sogar kleine Welten wandeln! Diesmal ohne lange Debatte. Gruppensitzung. Eckpunkte. Tatsächlich allein durch einen Moment, der nachhaltig die Seelen rührt.

Gegensatz-Momente, die das Zeug haben, das Herz zu verblüffen.

Ist doch das Herz das Herz der Gemeinde. Nicht das Kommando von der Brücke auf dem Schiff, das sich Gemeinde nennt. Gerade bei uns ja nicht! Sondern das Innerste, das Herz gibt den Puls. Den Impuls. Denn im Herzen werden sich bekanntlich Verstand und Gefühl eins.

Eins in Christus.

Kennt Ihr das, wie tief das gehen kann?

Ja nicht ständig und immer – aber gern und öfter.

Gerade wenn die Fremdheit, das Besondere, die Eigenständigkeit der anderen mich herausruft aus der Ordnung.

Wenn es mich herausruft aus warmer Liturgie. Für andere ist sie dünnes Eis. Na, dann  - Prost? Nein, Mut. Und nächstes Mal einfach wiederkommen!

Oder wenn ein zartes Wort sie herausruft aus dem Seniorencafé – Geplauder. Weil es sie versteht, endlich. Schreit doch ihre Seele lang schon nach dem lebendigen Wasser.

Oder wenn es uns alle herausruft aus murmelnder Litanei. Das Kind glaubt's laut! Direkt nach oben: Herr erbarme dich.

Und wenn es uns herausruft aus der Architektur des allzu Haltbaren. Manchmal ist's das Zelt, das bereit hält, was der Mensch an Leichtigkeit wirklich braucht.

Und schließlich: Wie tief das auch gehen kann mit der Freude, wenn man einander aus strukturiert gesungenen Kanons heraus singt in die Vielstimmigkeit. Gebrummt, gekonnt, gepfiffen – es lebe der Unterschied!

Vielstimmigkeit – das ist das Kostbare heute in dieser Synode, liebe Geschwister. In der Gemeinschaft der Denkenden und Träumenden, der Sich-Ärgernden, der Engagierten, der „Wir-müssen-was tun-und-zwar-jetzt-Energischen“, der still Singenden und der laut Posaunenden, wir haben alle ein Herz nach vorn zu werfen.

Geht es doch um die Zukunft, nichts Geringeres.

Um das Planbare, sicher, wir kennen uns aus mit Synoden-Vorlagen!

Und – das ist doch das uns auf ureigene Art Verbindende – so richtig schön, empfindungsreich, dick und reich ist das Unplanbare, das Jetztmoment im Ewigen, das wie eine Blitzartigkeit den Schein, den Gott uns in unsere Herzen gegeben, in die Wirklichkeit schenkt.

Der Moment, der Horizonte öffnet. Uns außer Kontrolle bringt. Vor lauter Poesie und Tiefsinn. Die aktive Dame im Seniorenkreis ja auch – da kann sie wirklich gar nichts machen!

Gottes Geist – jetzt, gerade eben, und in Ewigkeit auch – macht dabei eines: froh. Das hat man gesehen bei den kleinen Geschichten mit den Lächeln darin: froh sein. Etwa dadurch, etwas ganz neu verstanden zu haben. Da staune ich und schweige.

Gleich.

Vier kostbare Geschichten sind es, die herausfunkeln aus dem Schatz, der sich Gemeinde nennt. Sie führen mich zu meiner Geschichte.

Die Luthergemeinde, natürlich – diesmal in Hamburg - , betreibt eine Kleiderkammer, die die gesamte Erstaufnahme mit 1500 Flüchtlingen nebenan versorgt. Bis unters Dach ist der Gemeindesaal voller Kleider. Gut genutzt, endlich, dieser Raum. Und mehr noch, die syrischen Mädchen zeigen mir ihre neuen Turnschuhe. Mit Pailletten drauf!! Megaschick, sagen sie. Und laden mich zum Essen ein, das sie gekocht haben. Und dann auch das noch: Es gibt ein Krippenspiel. Als die Engel in das Kirchenschiff einziehen, -  es sind ungefähr vierzig aus Eritrea, Syrien und Afghanistan, mit abstehenden schwarzen Zöpfen und riesigen Flügeln, -  als sie da einziehen, singen sie doch tatsächlich: Fürchte dich nicht. Die Gemeinde hält den Atem an. Fürchte dich nicht. Sie singen es uns. Und wir schweigen und verstehen:

Er hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, Liebe und Besonnenheit.

Wir Christen sind auf der Welt, um in der Welt zu sein.

Mit Herz und Hand und Mut und zärtlichem Wort.

Glauben wir's laut: Herr erbarme dich!

Und wir werden sein wie die Träumenden.

Amen.

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