Zwei Predigtimpulse von Tash Hilterscheid und Bischöfin Nora Steen im Gottesdienst zum Sprengeltag
17. September 2025
Joh 21,2-14
Ein queerer Impuls – Tash Hilterscheid
Wo wir nichts erwarten, entdecken wir oft nichts. Das Netz ist leer. Das Licht ist aus. Auch wenn da viel ist. Sich das Leben tummelt. Wir sehen‘s nicht. Nichts als das leere Netz. Oft braucht es wen, der sagt: Guck nochmal da! Es braucht oft einen Perspektivwechsel, um zu erkennen, dass da mehr ist, als wir annehmen. Nicht nur in der Trauer. Nicht nur, wenn wir vor Schmerz nicht mehr klar sehen können. Auch sonst. Wir sehen vor allem das, womit wir rechnen. Was unsere Narrative bestätigt. Das gilt für Themen und auch für Menschen.
„Kinder, seht doch mal hin.“ sagt Jesus und spricht damit den Teil in uns an, der vielleicht noch ganz frei von all den Normen und Narrativen ist. Frei von Schubladen und Kategorien. Vielleicht sogar frei von Ängsten. „Kinder!“ Und damit weitet Jesus ihren Blick und setzt an mit einem Spiel, das wir alle kennen:
„Ich sehe was, was du nicht siehst!“
Ich sehe was, was die ganze Zeit schon da war, da, aber du nicht gesehen hast! Und da klingt kein Vorwurf mit, keine Genervtheit, weil es doch die ganze Zeit schon so offensichtlich war!
„Ich sehe was, was du nicht siehst!“ Mich erinnert das an meine Arbeit für queersensible Bildung. Ich habe es oft mit Menschen zu tun, die sowas sagen wie:
„Dieser queere Kram, all die Menschen, die meinen nicht Mann nicht Frau zu sein, das gab es früher nicht. Das ist jetzt so ein Trend.“ Oder: „Bei mir in der Gemeinde gibt es sowas nicht!“
Sie sind sich ganz sicher: das Netz ist leer.
Dabei waren wir schon immer da! Aber wir wurden nicht gesehen. Tauchten nicht auf. Gäbe es nicht mutige Menschen, die laut und sichtbar sind, die Worte finden für das, was nicht vorgesehen ist, das Netz wäre scheinbar leer geblieben.
Da zu sein, aber nicht gesehen zu werden macht was mit dir. Irgendwann identifizierst du dich mit dieser Leere. Ich bin nicht. Ich bin nichts. Die Suizidrate unter queeren Jugendlichen ist 5-mal höher als unter cis hetero Jugendlichen. Und die Begegnung mit Menschen, die sie sehen und ihnen Worte geben, rettet Leben.
Ich war lange schon da. Hab mich nicht gezeigt. Mich in der scheinbaren Leere versteckt gehalten. Bin unter dem Radar geblieben. Denn es braucht unglaublich viel Kraft sich zu zeigen und damit rechnen zu müssen, dass du weiterhin nicht gesehen wirst, dir deine Existenz abgesprochen wird. Oder Menschen die Gewohnheit vorziehen, weil es den Lesefluss unterbricht, statt der Fülle des Netzes Rechnung zu tragen.
Leicht ist das nicht! Jesus weiß das. Mehrfach muss er sich bemerkbar machen. Denn nicht nur das volle Netz, sondern auch er selbst wird nicht gesehen! Nicht für wahr gehalten. Sie sehen nur einen Fremden! Seine Liebsten schauen durch ihn hindurch. Immer wieder. Wie schmerzhaft muss das sein!! Doch er bleibt dran. Weil es sich lohnt! Und sagt wieder und wieder: ich sehe was, was du nicht siehst!
Und das braucht euch!
Und dann – dann sehen sie’s. All die Menschen, die unsichtbar gemacht werden, leuchten auf! People of Color, intergeschlechtliche Menschen, Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen, trans und nicht binäre Menschen und viele mehr!
Und nein: das Netz reißt nicht. Es trägt! Es hält! Denn die Vielfalt und Fülle ist nicht das Problem, sondern die Lösung für wunderbare Morgenstunden am Feuer, am See, bei Fisch und Brot!
Vielleicht sollten wir öfter dieses Spiel spielen: Ich sehe was, was du nicht siehst… und was siehst du?
Predigtimpuls – Bischöfin Nora Steen
Spielräume der Freiheit entdecken.
Ein zweiter Blick auf unsere biblische Geschichte heute – im Auferstehungsraum:
Zwei Spielräume und zwei Erkenntnisse. Vier Minuten.
Und so auch hier. Danke. Tash, für deinen Blick auf die Geschichte.
Zwei Spielräume
Der erste Spielraum.
Jünger fischen, sind die ganze Nacht unterwegs, die Netze sind leer. Erfahrung – wir rackern uns ab, wir machen und tun, aber kein Erfolg.
- Viele Gespräche mit PastorInnen – egal wie gut wir sind, wie viel wir arbeiten – Menschen kehren der Kirche Rücken zu. Kriegen wir Austrittsformulare auf den Tisch.
- Erkenntnis – egal wie viel wir tun, wie viel gute Arbeit geschieht, wir können die Institution Kirche nicht retten. Jesus: Sieht sie da am frühen Morgen auf dem See. Müde, frustriert, hungrig. Gibt keine besserwisserischen Tipps, hat nicht die neueste Managementmethode parat, wie sie doch noch besser und erfolgreicher sein können, welche Netze besser wären, welches Boot, welche Fangmethode. Ruft ihnen vom Ufer nur rüber: Dreht euch einfach um. Probiert’s doch mal auf der anderen Seite.
Worum es geht: Nicht alles anders und neu, sondern von dort, wo wir sind, eine kleine Drehung.
Die Jünger werfen die Netze zur anderen Seite aus. Es hat geklappt. Sie sind übervoll.
Eine kleine Drehung. Ein Perspektivwechsel. Ermöglicht Spielräume.
Der zweite Spielraum.
Einer, der Jesus auch nicht erkannt hat, da am Ufer, ist Simon Petrus. Überhaupt wird er von Johannes immer wieder so dargestellt – begriffsstutzig. Petrus versteht das einfach nicht, mit der Auferstehung. Erkennt Jesus wieder und wieder nicht.
Und dann, als der Lieblingsjünger den anderen auf dem Boot sagt – es ist doch Jesus, es ist der Herr! Da – diese Szene muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – wirft sich Simon Petrus sein Obergewand über, denn er war nackt. Und – springt vom Boot ins Wasser. Ich konnte bei keinem Exegeten eine überzeugende Interpretation dafür finden – also bleibt das Nachdenken bei uns. Wieso springt er hier ins Wasser? Außer sich – vor Scham, vor Begeisterung? Er gibt sich rein und läuft nicht oben drüber. Er macht sich nass, und ich muss unweigerlich an Hilde Domins Satz denken: „Wir werden eingetaucht und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen, wir werden durchnässt bis auf die Herzhaut.“
Gerade Petrus, dieser Fels unserer Kirche, hat Ecken und Kanten. Er erkennt nicht, er scheitert an seinen eigenen Ansprüchen, er übertreibt mit seinen Reaktionen. In allem aber zeigt er vor allem: Er ist ein Mensch. Kopfüber in die Fluten, weil ER da ist. Der Herr.
Das Herz übervoll mit Liebe. Befreit uns, das zu tun, was richtig ist. Auch wenn es von außen seltsam wirken mag.
Zwei Erkenntnisse
Erste Erkenntnis:
Unser Glaube hat keinen Sitz im Leben, wenn wir uns nicht einlassen aufs wirkliche Leben. Auf Menschen aus Fleisch und Blut, mit überbordenden Gefühlen und wunden Herzen. Deshalb ist ja gerade da, in der Begegnung, die Kraft unserer Kirche.
Wieso die Auferstehung Jesu die kraftvollste Befreiungsgeschichte ist, die jemals erzählt worden ist, verstehen wir nur, weil sie untrennbar verknüpft ist mit Geschichten und Begegnungen. Mit diesen paar Menschen auf einem Boot auf dem See Genezareth, mit durch die Netze rauen Hände, mit durch die Sonne gegerbter Haut. Mit dem Entschluss, ins Wasser zu springen, weil die Gefühle überborden.
Das Reich Gottes niemals abstrakt, sondern immer nur mit Haut und Haaren zu erfahren und zu schmecken – und, wenn wir Glück haben, zu begreifen. Es geht nur von hier aus. Vom Boden der Tatsachen, vom Grund meines Lebens aus – mit dem, was mich ausmacht – mit meinem Scheitern, meinen Dunkelheiten und meinem Glanz. Durchnässt, bis auf die Herzhaut.
Zweite Erkenntnis:
Vielleicht wäre es schöner, wenn wir ein Abo hätten, der Lieblingsjünger zu sein. Immer nah dran, sofort im Bilde. Aber wahrscheinlich sind wir eher Simon Petrus. Ich zumindest. Begriffsstutzig und immer wieder an unseren eigenen Ansprüchen scheiternd. Das ist o.k.
Es ist o.k., keinen Metaplan zu haben, wo das grad alles hingeht mit unserer Welt. Auch, mit uns als Kirche. Vielleicht – Nebengedanke – wäre das auch ziemlich vermessen. Denn, so lernen wir heute Morgen, egal wie toll ein neues Boot wäre, ein besseres Netz oder eine effektivere Fangmethode – wenn wir nicht bereit sind für kleinste Perspektivwechsel – von dort aus, wo wir sind – dann nützt die beste Strukturreform der Welt überhaupt nichts.
Es geht eben immer bei uns selber los. Und bei der Frage: Was treibt mich? Wo bin ich so überwältigt von der Liebe Gottes, dass ich dafür bereit bin, mich in die Fluten zu stürzen oder auch nur – das gewohnte Denken zu verlassen und eine kleine Drehung zu machen?
Amen