1. Juni 2014 - Nikolaikirche zu Leipzig

1. Juni 2014 - Sonntag Exaudi "Unaussprechliches Seufzen – endlich einmal!"

01. Juni 2014 von Hans-Jürgen Abromeit

Predigt im Universitätsgottesdienst über Römer 8, 26-30

„Ebenso hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich´s gebührt; sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was der Geist will; denn er tritt für die Heiligen ein, wie es Gott gefällt. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie dem Bild seines Sohnes gleich sein sollten, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“

 

Liebe Gemeinde,

 

der Apostel Paulus nimmt uns voll hinein in die Mitte von Erlösung und Rechtfertigung. Wer an Jesus Christus glaubt, hat Frieden mit Gott, seinen Mitmenschen und mit sich selbst.

 

Ach, sagen wir, das ist ja schön, aber es gibt ja noch so Vieles, was uns auf der Seele liegt:

- Da hat dich dein Partner stumm gemacht. Aber du liebst ihn noch. Du möchtest deinen Kummer herausschreien. Doch du bleibst stumm. „Unaussprechliches Seufzen!“

- Deine Arbeit fasziniert dich. Aber seit Jahren gewinnst du keinen Abstand und keine Ruhe. Irgendwie ist alles atemlos. Eigentlich möchtest du jemandem klagen, dass es so nicht immer weitergeht. Doch wem? Bei dem einen darfst du keine Schwäche zeigen, andere haben kein Interesse. „Unaussprechliches Seufzen!“

- Seit Mittwoch wusste sie, dass es etwas Ernsthaftes ist. Am Freitag wurde sie operiert. Da haben sie aber festgestellt, dass es inoperabler Krebs war. Am Sonntag war sie tot. Ihrem Mann erstarb das Reden: „Unaussprechliches Seufzen!“

Es gibt viele Situationen, in denen wir losschreien möchten, reden, klagen, seufzen, aber es kommt kein Wort über unsere Lippen. Wir empfinden lediglich unaussprechliches Seufzen.

 

Das Infant Terrible der deutschen Kultur, der Regisseur und Schauspieler Christoph Schlingensief hat Tagebuch geführt über sein Leben mit dem Krebs, dem er schließlich 2010 erlegen ist: „Heute aber ist die Angst gelandet. Ich weiß jetzt ungefähr, wo es hingeht. Ich will, dass das Ding rauskommt. Bin tatsächlich ein wenig in der Stimmung, die ich vor ein paar Tagen in der Kapelle erlebt habe. Da habe ich geredet, ganz leise vor mich hin geredet, obwohl niemand anderes da war. Habe gefragt, wie ich wieder Kontakt herstellen kann und wie ich begreifen kann, dass das jetzt ein Bestandteil meines Lebens ist. Und ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich mir dabei schon wieder selbst zugehört habe. Nach einer Zeit hat mir irgendjemand einfach die Stimme abgeschaltet. Ich bin ganz still geworden und habe hochgeguckt, da hing das Kreuz, und in dem Moment hatte ich ein warmes, wunderbares, wohliges Gefühl. Ich war plötzlich jemand, der sagt: Halt einfach die Klappe, sei still, es ist gut, es ist gut.“ (Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, München, 2010, S. 24)

 

Auch der Nichtreligiöse kann in einer existentiellen Leidenssituation – auffälliger Weise angesichts des Kreuzes Christi – eine tiefe Entlastung erfahren und sich wohl fühlen. „Da hing das Kreuz, und in dem Moment hatte ich ein warmes, wunderbares, wohliges Gefühl.“ Der am Kreuz hängt, kennt Leid und Schmerz. Dafür steht das Kreuz. Es ist eine große Befreiung, wenn unser Leid vor Gott kommt und wir uns dort aufgehoben fühlen. Dann tritt der Geist Gottes mit Flehen und Seufzen für uns ein. Und wir müssen nichts sagen. Wir sind schweigend bei Gott in guter Gesellschaft. „Unaussprechliches Seufzen – endlich einmal!“

 

Am Ende unserer Kraft, zurückgeworfen auf uns selbst, nicht mehr aus noch ein wissend, tut es einfach gut, nicht schon wieder reden und produzieren zu müssen, nicht „plappern zu müssen wie die Heiden“, sondern sich einfach fallen lassen zu können in Gottes gute Hände. „Halt einfach die Klappe, sei still, es ist gut, es ist gut.“ Wir sind vielleicht zu schwach, um große Glaubenserfahrungen zu machen. Zu leer, um das rechte Gebet zu sprechen. Aber wir sind als Geschöpfe sowieso nicht fähig, Gottes Größe in seiner ganzen Herrlichkeit zu erfassen. Doch er kennt uns. Der große Gott, der in Jesus Christus so klein geworden ist, er kennt alles, was uns bewegt, das Große und das Kleine. Er weiß, was in unseren Herzen vorgeht, selbst wenn wir in einer für uns völlig ungeklärten Situation leben, bringt der Geist Gottes das so vor Gott, dass er uns versteht. Gott versteht uns dann, wo wir uns selber nicht oder noch nicht verstehen. Der Geist Gottes kommt uns so nah, wie wir uns selbst nicht kommen können. Er ist der Dolmetscher zwischen unserer Unaussprechlichkeit und Gottes Herrlichkeit. So sind wir mitten hineingenommen in die Wirklichkeit des dreieinigen Gottes mit dem Vater, der es nur gut mit uns meint, dem Sohn, der unser Bruder geworden ist und alles Leid und alle Schönheit dieser Welt kennt, und dem Geist, der die Verbindung schafft, zwischen Gott und Mensch. Es ist befreiend, dass dieser Geist uns „vertritt … mit unaussprechlichem Seufzen“. Gottes heiliger Geist springt uns zur Seite. Er bringt unsere Not vor Gott, wo wir es nicht mehr vermögen.

 

Unser Leben wird gut, heil, wenn wir es einfach vor Gott hinstellen, es ihm ausliefern. Wir meinen ja, wir könnten unser Leben machen. Nur genug arbeiten, forschen und veröffentlichen und wir werden Erfolg haben. Nur alles in eine Beziehung investieren und dann wird das mit der Partnerschaft schon klappen. Nur achtsam leben, dann wird mir die Gesundheit schon erhalten bleiben.

 

Nein, wir haben unser Leben nicht in der Hand. Es gibt in diesem Sinn kein gelingendes Leben, weder in Beruf noch Beziehung, und auch nicht mit Leib und Leben. Ob wir es im Beruf zu etwas bringen, hängt von vielen – vermeintlichen – Zufällen ab. Es gibt Viele, die sind genauso gut wie wir und sie erreichen ihre Ziele nicht. In der Beziehung ist mir die andere Person unverfügbar. Und unsere Gesundheit balanciert immer auf einem Drahtseil. Jeden Moment kann sie abstürzen.

 

Aber sagt Paulus, das ist alles nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob du dich der Nähe Gottes aussetzt. Oder wörtlich: ob du Gott liebst (v. 28). Wer zu Gott in einer positiven, vertrauensvollen Beziehung steht, sieht alles in einem anderen Licht. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (v. 28 a). Aber wie kann man das sagen, z. B. angesichts der Kriege in der Welt? Sterben nicht auch Menschen in jedem Krieg, die großes Gottvertrauen gehabt haben? Oder wie kann ein Krebsleiden zum Besten dienen? Gibt es nicht Situationen, die sind einfach nur schlecht und darin kann man gar nichts Gutes finden?

 

Wir können die Deutung über solche schlimmen Leiden nicht für andere vornehmen. Jeder Mensch hat die Deutungshoheit über sein Leben. Aber dabei stellen wir fest, dass es Menschen gibt, die auch dem Schlimmen, was sie erlebt haben, eine positive Perspektive abgewinnen können.

 

„Ja, meine Frau ist so schnell gestorben. Das war schrecklich. Aber sie hatte immer Angst, im Alter und im Sterben viel leiden zu müssen. Das ist ihr nun erspart geblieben.“ Es hängt von der Perspektive ab, ob das Glas Wasser halb voll oder halb leer ist. Aber hier geht es um mehr. Lebe ich mein Leben getragen von dem Grundgefühl der Geborgenheit in Gott oder fühle ich mich ohne Beistand ins Leben geworfen? Diese Grundhaltung ist für das Lebensgefühl entscheidend.

 

Liebe Gemeinde, hier sind wir mitten in der Theologie des Römerbriefes und der Reformation. Die Frage heißt: Lebe ich aus der Kraft Gottes, die das Evangelium schenkt (vgl. Röm. 1,16), oder versuche ich mein Leben aus eigenen Kräften zu führen? Als Motto hat der Apostel Paulus ein Wort aus dem Alten Testament über den Brief gesetzt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Habakuk 2,4). Aber: gerecht wird niemand aus eigener Leistung noch Anstrengung, sondern nur aus der durch Jesus Christus erneuerten Beziehung zu Gott. Das ist Rechtfertigung, kein Zustand, sondern eine neue Beziehung zu Gott, eine Beziehung, die Gott auf seiner Seite verändert hat. Unsere Selbstliebe hatte die Beziehung zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen zerstört. Und dann kam einer, der ganz neu aus der Verbundenheit mit Gott gelebt hat. Wir wissen von Jesus Christus, dass er täglich Gottes Nähe suchte – im stillen Gebet und im Haus Gottes. Um diese Nähe zu Gott zu erhalten, fragte er radikal nach Gottes Willen. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“, war sein Gebet. Ja, er war sogar bereit, sich selbst zurückzustellen und für uns den Weg des Leidens und Sterbens zu gehen. Durch diese radikale Selbstzurücknahme hat Jesus die Voraussetzung für die Erneuerung der Gottesbeziehung geschaffen. Durch Christi Tod und Auferstehung hat Gott diese Beziehung wieder ins Lot gebracht. Es gibt nun ein funktionierendes Modell des Menschseins und das heißt Jesus Christus. Diese Lehre von der Rechtfertigung ist das Zentrum der Reformation. Darum ist es richtig und gut, dass der Rat der EKD dies in einer kleinen Programmschrift „Rechtfertigung und Freiheit“ noch einmal im Blick auf die Feier des Reformationsjubiläums unterstrichen hat. Zwei Kritiker merkten an, historisch sei die Reformation viel weiter, müssten weitere Perspektiven beachtet werden. Natürlich, aber Rechtfertigung ist das Zentrum!

 

Rechtfertigung bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit: Durch das Opfer Christi werden uns die Sünden, die wir getan haben, vergeben. Aber gleichzeitig hat Gott uns „dazu bestimmt, neu gestaltet zu werden – und zwar so, dass wir dem Bild seines Sohnes gleichen“ (V. 29 Basisbibel). Christen leben aus dem, was man nicht sieht. Ein Leben aus dem Unanschaulichen ist orientiert an der Anschauung von Jesus Christus. Er ist das Modell der neuen Menschheit. Paulus sagt: Christus ist der Erstgeborene. Aber er soll viele Brüder und Schwestern haben, alle gestaltet nach diesem Urbild Jesus Christus. Es ist Gottes Plan, dass eine aus dem Lot geratene Menschheit wieder ins Lot kommt durch die Ausrichtung auf Jesus Christus.

 

Diese Ausrichtung auf Christus geschieht auf zweierlei Weise. Einmal wird Gott uns bei unserer Auferstehung auf die Form des Menschseins ausrichten, die Jesus Christus vorgegeben hat. In diesem Sinn ist er der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern. Jesus Christus ist der Prototyp einer neuen Menschheit.

 

Wenn wir in Ewigkeit dem Menschsein entsprechen werden, das Jesus Christus gelebt hat, dann sollten wir heute schon beginnen, unser Leben am Leben von Jesus Christus auszurichten. Paulus sagt an einer anderen Stelle (Phil. 2,5): „Seid so gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Jesus Christus hat sich selbst zurückgenommen, damit wir Gemeinschaft mit Gott haben können.

 

Selbstzurücknahme, Nächstenliebe, Solidarität – nichts braucht diese so in sich selbst verliebte Menschheit mehr als diese Verhaltensweisen. In der Geschichte Jesu Christi können wir es lernen. Im Kleinen, in unserem persönlichen Leben, wie im Großen, in Gesellschaft und Politik, können wir es anwenden. Sagen Sie nicht, in Politik, in der Auseinandersetzung der Völker, sei die Lehre Jesu nicht zu gebrauchen. Schließlich ging doch von dieser Kirche vor einiger Zeit eine Bewegung mit dem Slogan: „Keine Gewalt!“ aus, die Politik geschrieben hat, ein Volk vereinte und dazu beitrug, die Staatenwelt neu zu ordnen. Es ist der Sohn Gottes, der uns in seine umgestaltende Kraft mit hineinnimmt.

 

Dieser Plan Gottes, der auch für uns eine solche Zukunft voraussieht, hat lange vor unserer Geburt begonnen. Gott hat uns vorherbestimmt dabei zu sein. Deswegen hat er uns durch unsere Taufe auch dazu berufen. In der Taufe hat er uns die Gerechtigkeit Jesu Christi angerechnet. Deswegen dürfen wir uns der Teilhabe an der zukünftigen Herrlichkeit ganz gewiss sein. Der Glaubende wird immer stärker in die Christuswirklichkeit hineingezogen, so dass Paulus an einer anderen Stelle sogar sagen kann: „So lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Der Glaube ist nichts anderes als „das Leben Jesu Christi in uns“.

 

So schlägt unser heutiger Predigttext einen großen Bogen. Er beginnt mit dem Seufzen in der Tiefe unserer Seele. Vielleicht spüren wir unsere Schwachheit, aber Gott beginnt in unserem Unvermögen, mit uns seinem Plan zu folgen. Er endet mit der Gleichgestaltung unseres Lebens mit dem Leben Jesu Christi. Schon heute spüren wir die Veränderung, weil „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“. Was mit Seufzen beginnt, endet in der Herrlichkeit. Und wir stehen mittendrin.

Amen.

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