1. März 2014: Bericht Missbrauch in der Institution Nordkirche

01. März 2014

5. Tagung der I. Landessynode der Nordkirche TOP 2.1 am 01.03 2014 Bericht: Missbrauch in der Institution Nordkirche

Sehr geehrtes Präsidium, hohe Synode!

Ich danke Ihnen und dem Präsidium herzlich dafür, dass sich die Synode einen ganzen Vormittag Zeit für dieses schwere und ernste Thema nimmt – sowohl für die Berichte als auch für die Möglichkeiten, darauf im Plenum, vor allem aber ob der Sensibilität des Themas auch in Kleingruppen zu reagieren. Ich danke Ihnen dafür auch persönlich – und ich glaube, da spreche ich für all diejenigen, die heute berichten, mit. Denn es ist unserem Gefühl nach dringend an der Zeit, Sie daran teilhaben zu lassen, was uns in den letzten Jahren an die Herzhaut ging, was wir also erfahren und erlebt und versucht, wo wir geirrt und was wir gelernt haben. Und so geht es in den nun folgenden Berichten, die zusammen sicherlich etwas über eine Stunde dauern dürften, darum, Sie in vertiefender Weise mit hinein zu nehmen in einen Verstehensprozess. Seit wir wissen, dass in Ahrensburg über Jahrzehnte hin Jugendliche sexuell missbraucht wurden, fragen wir uns: Was genau ist in dieser Kirchengemeinde passiert? Wieso ist jahrzehntelang keiner eingeschritten, es müssen doch etliche irgendetwas gespürt, geahnt oder gar gewusst haben? Welche Fehler haben wir als Institution gemacht? Was müssen wir im Rückblick verstehen lernen, um jetzt und in Zukunft sensibel zu werden und Präventionskonzepte nicht allein zu schreiben, sondern auch zu leben?

Mit diesen Fragen sind bereits die Themen benannt, die unter dem übergeordneten Thema „Missbrauch in der Institution Nordkirche“ – unter anderem von uns, die wir heute berichten – bearbeitet werden. Und so geht es eben nicht allein um die Aufarbeitung der Ereignisse einer einzelnen Kirchengemeinde – auch wenn Ahrensburg in meiner Einführung gleich eine entscheidende Rolle spielt. Sondern es geht generell um die Frage, aufgrund welcher Faktoren Kirchengemeinden oder kirchliche Einrichtungen zu einem so geschlossenen System werden können, dass strukturelle und insbesondere sexualisierte Gewalt möglich und nicht verhindert wird. Und mit dieser Frage ist man mitten im Thema „Prävention“. Ich bin sehr dankbar, dass wir für die neu eingerichtete 100% -Stelle der Präventionsbeauftragten in der Nordkirche Frau Dr. Arns gewinnen konnten. Seit April 2013 arbeitet die erfahrene Kriminologin und Psychologin in segensreicher Schnelligkeit; manch Kirchenkreis hat bereits davon profitiert. Sie wird sich im Anschluss an meine Einleitung vorstellen und mit einigen konzeptionellen Grundaspekten aufzeigen, wie Prävention konkret vor Ort und auf landeskirchlicher Ebene aussehen kann.

In zwei weiteren 5 bzw. 15 minütigen Berichtsteilen werden wir Ihnen dann zwei Interventionen vorstellen, die die Vorläufige Kirchenleitung im Zuge dieses Verstehensprozesses bereits im August 2012 beschlossen hat. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die ehemalige Nordelbische Kirche, respektive den Leitenden Bischof Ulrich und das Kirchenamt, dieses Thema ja bereits seit 2010 umtreibt. Aus all dem zusammen erwuchs

1.  der Beschluss, eine so genannte „unabhängige Expertenkommission“ einzurichten. Sie besteht aus vier ExpertInnen, die aus juristischer und therapeutischer Perspektive, neutral und von außen derzeit aufarbeiten, was in Gemeinden der Nordkirche vor sich gegangen ist – wobei sich die Mechanismen und Strukturen in der Kirchengemeinde Ahrensburg besonders geballt wahrnehmen lassen. Diese Art der Aufarbeitung ähnelt der vom Canisius-Kolleg oder der Odenwaldschule. Ursprünglich war geplant, dass diese von der Nordkirche und von dem Kirchenkreis Hamburg-Ost gemeinsam finanzierte, ansonsten aber komplett unabhängige Kommission ihren Abschlussbericht im Januar 2014 vorlegen würde. Jedoch hat sich die Aufarbeitung umfangreicher dargestellt als zunächst angenommen. Folge: der Bericht erscheint voraussichtlich im Juni 2014. Ohne dem vorgreifen zu wollen, wollten wir dennoch aufgrund der neuen Synodenplanung die Gelegenheit wahrnehmen, Sie wenigstens in Grundzügen mit dem Ziel der unabhängigen Expertenkommission vertraut zu machen – OKR Wolfgang Vogelmann gibt dazu nachher ein paar Erläuterungen.

2.  Zweitens hat die Vorläufige Kirchenleitung die „Kommission für Unterstützungsleistungen“ beschlossen.Dies ist eine zweite Kommission und nicht zu verwechseln mit der eben vorgestellten. Sie lautet in ihrem kompletten Titel: „Unterstützungsleistungen für Missbrauchsopfer in Anerkennung ihres Leides und in Verantwortung für die Verfehlungen der Institution“. Hinter dieser langen Bezeichnung verbirgt sich ein komplett neues Konzept, das wir unter fachlicher Beratung und gemeinsam mit Betroffenen entwickelt haben. Es ist dies ein Konzept, wie man sich individuell – gemeinsam mit Betroffenen bzw. deren Lotsen – auf Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid einigen kann. Kein gönnerhaftes Hilfsangebot, von oben herab, sondern Anerkennung materieller wie immaterieller Art. Würdigung. Das geht nur auf Augenhöhe.

Die Gespräche gehen unter die Haut, uns allen. Den Betroffenen gilt unser erster Dank. Dass sie überhaupt mit uns reden. Auch reden wollen. Uns etwas verstehen lassen, was so unfassbar ist. Wichtig dabei: Unsertwegen müssen sie nicht die belastenden Missbrauchssituationen erneut oder gar Details schildern; wir geben uns auch mit schon erfolgten Aussagen oder therapeutischen Gutachten etc. komplett zufrieden. Doch in den allermeisten Fällen ist es den Betroffenen wichtig, dass wir hören, aufmerksam hören, was passiert ist. Damit die Institution wach wird und wach bleibt. So kommt es auch dazu, dass es manchmal mehr als ein Gespräch gibt.

Um die Belastung der Betroffenen möglichst gering zu halten, besteht das Angebot von Lotsen und Lotsinnen, die von den Betroffenen frei ausgewählt werden können. Wohlgemerkt: Die Betroffenen sind völlig frei, das Angebot anzunehmen. Die Lotsen gehören unterschiedlichen Opferorganisationen an, auch eine kirchliche Lotsin ist dabei. Diese Lotsen sind dazu da, die Betroffenen zu beraten, sie als Beistand zu vertreten, sie auf Wunsch im Gespräch mit der Kommission zu begleiten oder gar in Abwesenheit der Betroffenen für sie zu reden. Das richtet sich ausschließlich nach den Wünschen der Betroffenen. Sie können auch beispielsweise ihre Therapeuten als LotsInnen einsetzen, wenn sie es denn wollen. Einige von den Lotsen sind heute hier und nehmen an den Kleingruppen nachher teil – an dieser Stelle möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken für Ihre Bereitschaft, sich auf ein solches Konzept mit so viel Freundlichkeit und Fachberatung für uns einzulassen!

Seit Dezember 2012 haben wir uns in der Unterstützungsleistungs-Kommission mit fast allen Betroffenen, die bislang an uns heran getreten sind, verständigen können – das sind ca. ein Dutzend (wobei wir uns nicht allein mit Opfern aus Ahrensburg positiv verständigen konnten).Sie glauben nicht, wie erleichternd das jeweils ist. Nicht nur für uns, ganz offenkundig und explizit auch von den Betroffenen. Die Arbeit in dieser Kommission ist mehr als intensiv; sie rüttelt auf, macht uns traurig, „Wir stehen oft unter Wasser“, wie Kai Greve sagt – und sie ist in ihrer unjuristischen, unbürokratischen, auf Vertrauen und Kommunikation basierenden Arbeitsweise immer auch ein Wagnis. Ein Wagnis, weil die Begegnungen uns ohne Netz und doppelten Boden mit den Traumata schwer verletzter Menschen konfrontieren. Mit zerstörerischer Macht und zutiefst verschämten und beschämten Menschen. Und mit unserer eigenen Scham und Vergebungsbedürftigkeit.

Und so sind alle vor jedem Gespräch so aufgeregt – die Betroffenen, weil sie Angst haben, dass diese „Kommission“ ihnen nicht glaubt und von oben herab behandelt. Und wir sind aufgeregt, weil wir Angst haben, dass sie uns womöglich genau so erleben. Und dass es uns nicht gelingt, Vertrauen aufzubauen.

In jedem Fall merken wir, wie sehr wir hier Neuland betreten. Wir machen auch Fehler, nicht alles lässt und ließ sich konzeptionell im Vorwege erfassen. Deshalb ist es unbedingt wichtig, bald diese Arbeit zu evaluieren. Auch dies ist im Beschluss der Kirchenleitung festgelegt.

Neben der Therapeutin Ursula Wolter-Cornell, die uns als erfahrene und hochkompetente Fachberaterin zur Seite steht, sind Michael Rapp und Dr. Kai Greve zwei weitere Mitglieder der Kommission. Sie machen dies ehrenamtlich und voller aufmerksamer Sensibilität. Auch ihnen möchte ich danken, inständig. Sie werden Sie, liebe Synodale, gleich in sehr persönlichen Stellungnahmen an dem teilhaben lassen, was ihnen unter die Haut ging. Und dass wir nicht aufhören dürfen, uns auseinander zu setzen. Auch nicht, wenn es versöhnliche, uns sehr anrührende Momente gegeben hat, in denen die Betroffenen uns die Hand reichten.

Sie merken, liebe Synodale,

Vieles ist passiert in uns. Die wir mit etlichen Betroffenen, Opfer von Missbrauch in unserer Kirche geredet haben. Und immer noch reden. Präziser muss man sagen: Sie reden mit uns. Für mich persönlich sind es jetzt 2 ½ Jahre, in denen ich mit ihnen im Gespräch bin, mit Einigen bis heute. Die Beziehungen sind nicht „bischöflich“ – auch wenn das hierarchisch hohe Amt per se eine lang ersehnte Würdigung bedeuten kann. Aber sie sind von mir her seelsorgerlich. Seelsorgerin zu sein ist ein unaufgebbarer Teil meiner pastoralen Identität – und das schließt ausdrücklich ein, dass ich in jeder Situation mit großer Empfindsamkeit versuche zu klären, wie man miteinander redet. Seelsorge ist – das ist ja vielen heutzutage überhaupt fachlich nicht deutlich – ein rollen- und situationsreflektiertes Geschehen auf Augenhöhe. Etwas, was wir in dieser Profession des Pastors und der Pastorin lernen.

Natürlich wollte und will nicht jeder der Betroffenen ein seelsorgerliches Gespräch, manche wollen genau das nicht. Aber sie wollten alle, dass ich mich stelle. Mich auseinandersetze. Persönlich. Und als Institutionsvertreterin. Und das war mal eine behutsame Entdeckungsreise, mal ein echtes Ringen und Aushalten. Mal mit gebotener Distanz, mal in großer Nähe. Um immer ist oberstes Gebot: Redlichkeit. Das ist das Vorzeichen: Ehrlichkeit in der Beziehung. Betrug gab es genug. Diese Ehrlichkeit fordert heraus, und das ist gut so. Es geht mir um den Respekt den Betroffenen gegenüber. Ich empfinde diesen Respekt zutiefst. Denn es ist angesichts auch der institutionellen Verfehlungen in den vergangenen Jahrzehnten nicht selbstverständlich, dass sie Vertrauen gefasst haben. Teilweise sehr zerbrechliches Vertrauen, aber immerhin. Sie schenken es, im wahrsten Sinne. Damit wir lernen.

Den Opfern zuzuhören war zum Teil schwer auszuhalten, gebe ich ehrlich zu. Und in all dem, was ich erfahren habe und sorgsam in mir bewahre, ist mir klar geworden, was es Betroffene und Opfer gekostet hat und immer wieder kostet, sich zu öffnen. Um ihretwillen und unseretwillen müssen wir hinschauen. Genau hinschauen. Und das ist gar nicht so einfach. Denn erfahrungsgemäß löst das Thema „Missbrauch“ erst einmal einen Reflex aus, sich nicht befassen zu wollen. Es geht eben um Menschen, die schwer verwundet wurden. In Räumen, in denen man mit Inbrunst gesungen hat: „O komm, du Geist der Wahrheit“. Es ist ein so intimes Thema. Scham spielt eine große Rolle. Es geht um jugendliches Liebessehnen und um den Verrat dieser Gefühle. Um die Brüche, die das für eine Biographie bedeuten kann. Und immer geht das Thema an die Grenzen. Einmal, weil furchtbar konkret wird, was sich hinter solchen Begriffen wie Grenzüberschreitung und Grenzverletzung verbirgt. Und zum anderen, weil unsere, innere Grenzen der Vorstellung durchbrochen werden.

„Unfassbar, dass so etwas in Kirche vorkommt“ – so oft habe ich den Satz gehört. In ihm schwingt die Verunsicherung mit, die in den letzten 3 ½ Jahren mit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle zu spüren ist. Mitarbeitende in der Kirche – ehren- wie hauptamtliche fragen sich: Was ist vertrauensbildende Nähe, was ein Übergriff? Man fühlt den schmalen Grat. Das Thema konfrontiert immer auch mit eigenen Ängsten. Oder gar mit eigener Gewalterfahrung, so sie denn jemand erlitten hat. Es konfrontiert uns mit den dunklen Seiten unserer kirchlichen Institution. Damit, dass man das vertrauensvolle Selbstbild enttäuscht sehen muss. Und es konfrontiert uns schließlich mit der Frage, wie wir unserem Auftrag der Versöhnung gerecht werden – zuvorderst im Blick auf die Betroffenen, aber auch im Blick auf Täter, die oftmals nicht in der Lage sind, zu ihren Taten zu stehen.

Was nun aber ist passiert? Die Berichte heute sind ein Baustein im Verstehensprozess in der Nordkirche, der ja längst schon in Nordelbien begann. Und Prozess heißt implizit: wir sind noch nicht am Ende des Verstehens. Vielleicht sogar erst ziemlich am Anfang. In jedem Fall aber gemeinsam auf der Suche – und dazu nun einige persönliche Wahrnehmungen und Erkenntnisse. Basierend auf all den Gesprächen mit den Betroffenen und gegen gelesen und überprüft anhand von Fachliteratur und Medienberichten hat sich mir folgendes exemplarisches Bild von Missbrauchsstrukturen eingestellt:

 

1.  Was geschehen ist… Keine Prävention ohne präzise Wahrnehmung

 

In einer Kirchengemeinde und dort wiederum in einem klar abgegrenzten Bezirk arbeiten Mitte der 70-er bis Ende der 90-er Jahre zwei Pastoren. Der eine von ihnen ist auf eigenen Antrag aus dem pastoralen Dienst entlassen. Er hat sowohl im innerfamiliären Bereich als auch gegenüber einer letztlich unbekannten Anzahl von Jugendlichen, die ihm in der Kirchengemeinde sowie in der Schule als Religionslehrer anvertraut waren, sexualisierte Gewalt ausgeübt – und dies in unterschiedlicher Art. Mindestens 20 Jahre lang. Es waren mehr Jungen als Mädchen betroffen. Die Übergriffe gingen von Flirts, Tätscheleien, angeblichen Gesprächs-„Therapien“ durch Liebe, über zu Tätlichkeiten, Oralverkehr, Geschlechtsverkehr. Oft bei Gelegenheit, das heißt: er fuhr den einen zum Musikunterricht und griff zu. Dem anderen gab er Schulaufgabenhilfe. Der dritten schwor er ewige Liebe, sie sei die einzige Frau, die ihn glücklich mache. Das Spiel mit der Abhängigkeit ist ein perfides. Wer sich nicht wehrte, war drin im System. Heißt: Wurde mit einem Schweigegebot schärfstens eingeschworen.

 

Es waren zumeist Jugendliche, die sich aktuell in einer kritischen Situation befanden. Die sich unverstanden fühlten, ungeliebt, schwere Probleme mit den Eltern hatten und/ oder Schwierigkeiten in der Schule, Drogen, das volle Programm. Der Täter hat sich die Dünnhäutigsten ausgesucht. „Dir glaubt man eh nicht“ – diese Drohung des Täters war für die Jugendlichen nur allzu einleuchtend und entsprechend wirksam. Und so begann das große Schweigen. Drangsal. Genau dies Wort ist gefallen.

 

Das Problem: Sie mochten ihn. Waren vielleicht sogar verliebt. Noch einmal in besonderer Weise schwierig, wenn dies ein Junge empfand. Sie fühlten sich irgendwie mitverantwortlich. Schuldig. Ahnten zwar, wussten es aber nicht, dass hier Übergriffigkeit und etwas Gewalttätiges mit ihnen passierte. Und um dies zu bewältigen, wurde viel Alkohol zu sich genommen. Überhaupt war dies ein Merkmal – wie z.B. auch in der Odenwaldschule: der hohe Alkoholkonsum in täterkontaminierten Räumen.

Einige der Opfer haben sich damals schon anvertraut. Schon lange vor 2010, als ein Opfer sich erneut an Kirchenleitende gewandt hatte und später unter Pseudonym über die Medien bekannt wurde, haben sich Betroffene in ihrer Not an Seelsorger gewandt, an Eltern, Verwandte. Verbunden war dies oft mit dem Flehen, nichts zu sagen, sonst wäre man in der Gruppe unten durch. So wie vor aller Augen die gemobbt wurden, die opponierten.

Die opponierten wohlgemerkt inmitten der reformpädagogischen Hochburg kirchlicher Arbeit. Diesen Ruf nämlich hatte die Kirchengemeinde. Hier war man nicht verklemmt. Kannte Psychospiele. Da war kein Muff mehr unter den Talaren! Da war Freiheit! Z.B. Durchkitzeln der Unbedarften auf dem Schoß des Pastors und sexuelle Anspielungen vor aller Ohren. – Viele im Ort „wussten“ „es“ – mindestens im Sinne von: ahnten instinktiv, dass hier etwas Grenzverletzendes passiert.

 

Die Aufarbeitung der Geschehnisse an der Odenwaldschule zeigt erschreckende Parallelen: Unter der Maske der Fortschrittlichkeit geschieht sexualisierte Gewalt. Machtgebaren. Alkohol immer dabei als Stimulans. Hier wie in Ahrensburg sind bei Bekanntwerden des Missbrauchsskandals sämtliche Fälle verjährt. So blieb als einzige Möglichkeit juristischer Aufarbeitung in Nordelbien nur noch das kirchliche Disziplinarrecht übrig. Ein Recht, das man schlicht als ungenügend für die Aufarbeitung solch schwerwiegender Vergehen bezeichnen muss. Das sage ich ausdrücklich mit Respekt gegenüber den Ermittlungsführenden, allen voran Frau Dr. Rieck und Herr Vogelmann. Denn bei aller – berechtigten! – Kritik an der Schwerfälligkeit unserer Institution und den Folgen, sollte auch dies wenigstens Erwähnung finden: nämlich dass nach Ansicht etlicher Betroffener sie wirklich versucht haben, einfühlsam mit der für alle belastenden Situation umzugehen. Doch man kann es nicht oft genug sagen: das Disziplinarrecht ist eben genau kein Strafrecht und kann es auch nicht ersetzen. Das emotional damit verbundene Bedürfnis nach irgendeiner Form von Satisfaktion – übrigens nicht allein seitens der Betroffenen, sondern auch der InstitutionsvertreterInnen – wird eben genau nicht zufrieden gestellt.

 

Die Betroffenen haben uns aufgerüttelt. Nicht nachgelassen. Ich stehe mit großer Bewunderung vor ihnen. Auch wenn oder besser: weil sie uns immer und immer wieder zugesetzt haben. Klar benannt haben, was wir als Institution falsch gemacht haben. Unsere definitiv fehlende Dokumentation im Kirchenamt etwa, als 1999 der Täter versetzt wurde. Vertuschung – das ist seither das Wort, das an der Kirche klebt. Vielleicht wird es auch nach einem Bericht der unabhängigen Expertenkommission so bleiben, ich rechne ehrlich gestanden damit. Auch übrigens nach den vergangenen 3 Jahren mit allen Versuchen, sich auf neue Weise der Verantwortung zu stellen und bei den Betroffenen wieder etwas „gut zu machen“, wissend, wie schwierig das zugleich ist. Vertuschung – das wird man schwer los.

Den meisten Betroffenen geht es nicht um so ein Etikett. Es geht ihnen darum, dass wir aufmerken. Dass wir als Institution erkennen, was damals passiert ist. Um zu lernen. Um Präventions- und Handlungskonzepte ernsthaft zu wollen. Und sie möchten irgendwann auch abschließen damit – zumindest teilweise. Als wir am Buß- und Bettag 2012 einen Gottesdienst begehen, vertrauen einige uns einen Text von sich an, die Epistel der Umkehr. Denn ohne Verstehen keine Prävention und ohne Verstehen keine Vergebung, sagt eine – ich zitiere:

„Umkehr ist möglich, wenn wir uns dafür entscheiden bzw. öffnen. Das Wirken, die Passion und die Auferstehung von Jesus, nachdem er gekreuzigt, gestorben und begraben war, ist dabei die Quelle und der Kompass für innere Umkehr.

Innere Umkehr geschieht als Prozess und innere Bewegung wenn ich beginne, meiner eigenen Vergebungsbedürftigkeit ehrlich ins Auge zu blicken und aufhöre, auf das Versagen und die Schuld der anderen zu zeigen. – Ja, es haben viele was gewusst....vergebt Euch selbst....das ist der erste Schritt....

Die Kirche ist kein Turnverein. Das Leitbild von Handeln ist der christliche Glaube. …Es braucht Raum für das wirkliche Menschsein im kirchlichen Umfeld. Auch für Zorn, Anklage und heftige Wut...das muss alles raus..., gesagt werden dürfen,..ohne moralischen Zeigefinger (meistens ist es ja der eigene). ... Sie haben alle Möglichkeiten durch die Heilige Schrift und Ihre Kompetenz.... Den Rest macht sowieso ein anderer. :).“

Ein anderer sagt:

Ich selbst habe "meinen" Missbrauch viele Jahre ganz erfolgreich verdrängt. Und ich habe mich ihm … erst weitergehend öffnen wollen, als mich eine von anderer Seite ausgelöste Lebenskrise "von den Beinen geholt" hat. … Ich … bin erst am Anfang – immerhin nicht mehr ganz am Anfang – zu verstehen, was "mein" Missbrauch in mir ausgelöst hat, … welche Bedeutung er … für mein Sein als Mensch gehabt hat ... Es ist dabei sehr hilfreich, zu hören, dass dies von mir inzwischen gewünscht und unterstützt wird, jedenfalls nicht nicht gewünscht wird … Aber das Misstrauen war und ist bei mir groß, am Ende nur ein Teil eines rückschauend institutionalisiert bewerteten Aufarbeitungsprozesses zu sein, in dem es nicht um die Individualität meines Falls … geht, sondern darum, dass die Kirche und die Gemeinde "die Sache sauber abgearbeitet" haben.

Was neben Vergebung und Linderung an Chance da ist, nämlich … Wege aufzuzeigen, wie … solch Missbrauchsexzess, …, möglichst nicht an einem anderen Ort wieder geschehen kann. – Das erfordert große Ehrlichkeit, Radikalität, Abkehr von lieb gewonnenen Vorstellungen, nämlich – aus meiner Sicht – eine echte Auseinandersetzung mit den Risiken und "falschen" Verlockungen seelsorgerischer Arbeit!

 

2.  Sechs Folgerungen und persönliche Erkenntnisse – Was getan werden muss

 

1.  Keiner denkt sich so etwas aus, was Sie eben gehört haben. Kein Mensch will Opfer sein! Das schlimmste ist deshalb, nicht zu glauben, was Betroffene einem sagen. Selbst wenn man Widersprüche entdeckt – sind die angesichts der Erschütterung und der zeitlichen Distanz, die zwischen dem Heute und den Ereignissen liegt, so erstaunlich?

 

2.  Ich habe gelernt: Das Setting ist höchst sensibel. Seelsorge und die unverbrüchliche Schweigepflicht – beides für mich ausschließlich positiv konnotierte Begriffe für einen einmaligen Schutzraum – sie lösen bei Betroffenen ganz andere Gefühle aus. Nichts Schlimmeres nämlich kann man jemandem, der dies erlebt hat, sagen als: „Das bleibt unter uns.“

 

3.  Vorsicht, wenn Gemeinden oder Gemeindebezirke zu geschlossenen Systemen werden. Heißt: wenn sie, wie es exemplarisch besonders in der Odenwaldschule zu erkennen war, „als etwas Besonderes“ sich abheben und abkapseln; oft dominiert von einer lichtvollen Leitfigur oder Autorität. Sie sind anfällig für Machtmissbrauch. Ob nun autoritär vorgegeben oder eher informeller Art, das System funktioniert in einer Kombination von hohem Leistungsdruck, Scham, Angst, Abhängigkeit und Liebesentzug – und – Zitat „eisigem Schweigen“.

 

4.  Täter agieren selten einzeln – sie haben ein System, das sie zu ihrem Schutz aufbauen und das ihnen zuspielt. Sicherlich nicht immer bewusst. Doch mindestens unbewusst, weil auf irgendeine Weise verstrickt. Verstrickt als Freundin, Kollege, Nachbar, verstrickt in dem Gefühl, dass ein Amtsträger nicht tut, was nicht sein darf. – Demgegenüber heißt es Courage zu zeigen: Durchbrechen. Ansprechen – auch wenn es der Kollege ist. Am besten sich sofort mit der Präventionsstelle beraten. Ob er Hilfe braucht. Dass es so nicht weitergehen kann. Und wird. Dass man den oder die Dienstvorgesetzen einschaltet. Deshalb sind Menschen so wichtig, an die man sich wenden kann. Präventionsbeauftragte wie Rainer Kluck und Dr. Arns zuallererst. Aber auch kirchliche unabhängige Ombudspersonen sind ein Weg – auch hierzu hat die Erste Kirchenleitung just im Januar ein Konzept beschlossen.

5.  Seit wir uns auseinandersetzen als Kirche, bewegt sich viel. Das geht jedoch nie ohne externe Hilfe. Dank ihrer haben wir über uns selbst gelernt, was so katastrophal für die Betroffenen war. Inzwischen versuchen wir in der Nordkirche, soweit es überhaupt möglich ist, wieder etwas gut zu machen. Materiell wie immateriell. Und individuell. Ich sagte es eingangs: Es geht um Anerkennung von Leid und um die Vergebungsbedürftigkeit, die wir als Institution haben.

6.  Das hat Signalwirkung. Aus ganz Deutschland rufen Betroffene inzwischen an. Auch wenn wir als Nordkirche gar nicht involviert sind. Um die Last vielleicht zum siebten oder achten Mal zu erzählen. Damit es endlich jemand hört von denen, die es hören müssen. Auch wenn man streng genommen, weil verjährt, gar nicht mehr viel tun kann. Außer zuhören. Glauben. Aushalten.

Und immer wieder ist zu hören, dass viele Gewaltopfer sich an Seelsorger/innen gewendet haben in ihrer Not. Aber diese haben es hilflos abgewehrt, oder nicht geglaubt oder konnten es nicht aushalten. Insbesondere nicht, wenn Kollegen involviert waren. Und insbesondere nicht, wenn man es bei diesen Kollegen längst ahnte oder gar wusste.

Sehr oft blieb es – auch wenn es von den Opfern gar nicht gewollt war, bei der den meisten gar nicht so bewussten Schweigepflicht (denn zunehmend mehr Menschen kennen sich doch mit Kirche überhaupt nicht aus und wissen nicht, dass es seelsorgerliche Schweigepflicht überhaupt gibt!!) – meint: Es blieb beim Schweigen. Die Pflicht allerdings, angesichts weiterer potentieller Opfer tätig zu werden, wurde dem nachgeordnet. Wohlgemerkt – dieser Konflikt ist so alt wie die Kirche selbst. Und ich bin schwer ins Nachdenken gekommen, in welchen Seelsorgegesprächen über die ganzen 24 Jahre meines Dienstes ich vielleicht etwas bagatellisiert habe. Heißt: Wir müssen uns auch mit den Dilemmata der seelsorgerlichen Schweigepflicht befassen. Heißt genauer: Nicht die Schweigepflicht an sich ist zu kritisieren – im Gegenteil: Keinesfalls darf man an ihr rühren. Sie ist konstitutiv für jedes seelsorgerliche Handeln. Doch den Umgang der Seelsorgerinnen mit ihr müssen wir anschauen. Denn nicht jedes Gespräch, das ich als Pastor oder Pastorin führe, ist rechtlich per se eines, das unter Schweigepflicht steht. Heißt: Bezogen etwa auf Opfer von Gewalttaten sollte – behutsam und gemeinsam mit den Betroffenen, versteht sich – geklärt werden, ob Schweigepflicht überhaupt besteht bzw. ob sie einen von der Schweigepflicht entbinden. Diesen diffizilen Fragen wird derzeit auch im Rahmen von Präventionskonzepten nachgegangen.

Ohne Verstehen keine Prävention. Und ohne Verstehen keine Vergebung – Dazu zum Schluss noch einmal die Epistel der Umkehr:

Eine dritte sagt: Die Auseinandersetzung mit dem Thema Vergebung empfinde ich für mich persönlich als eine sehr große, aber auch eine sehr bereichernde Herausforderung und ich wünsche mir, dass sich auch in Ahrensburg viele Menschen diesem Thema öffnen. Und zwar … um … aus dem Kreislauf des Verletztseins, des Grolls und der Bitterkeit … auszusteigen.

Sie wünscht es für Ahrensburg, ich darüber hinaus für alle betroffenen Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen in der Nordkirche. Denn nur so ist es möglich, zu Lernenden zu werden und nicht aufzuhören damit. Und dass Menschen überhaupt angefangen haben, mit einem Aufarbeitungsprozess, mit Prävention, mit dem Anvertrauen und der Anerkennung des Erlittenen – seit etlichen Jahren schon – dafür bin ich dankbar. Ebenso wie für Ihre Aufmerksamkeit.

Datum
01.03.2014
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