1 Neujahrspredigt zur Jahreslosung 2006

01. Januar 2006 von Hans-Jürgen Abromeit

Lesung aus dem Alten Testament im Buch Josua im 1. Kapitel: Nachdem Mose, der Knecht des Herrn, gestorben war, sprach der Herr zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: „Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe. Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer Gebiet sein. Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, da ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Liebe Gemeinde,

vor uns liegt ein neues Jahr. Die Jahreslosung für das Jahr 2006 ist aus dem für den Neujahrstag vorgeschlagenen Predigttext entnommen. Das Bibelwort, das uns durch dieses Jahr begleiten soll, heißt: „Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ (Jos. 1,5) Diese klare Zusage Gottes soll uns leiten auf den Wegen, die wir zurücklegen, in allen Lebenslagen, die wir zu bestehen haben und bei allen Aufgaben, die wir uns gestellt haben.
Es fällt nicht schwer, sich diese Jahreslosung für 2006 zu merken. Gott lässt uns nicht fallen und verlässt uns nicht. Was auch passiert, möchte man hinzufügen. Unmittelbar danach geht der Text weiter mit den Worten: „Sei getrost und unverzagt!“ Das klingt ein wenig altmodisch in unseren Ohren, aber es sind wunderbare Worte. Sie illustrieren Gottes Zusage. Er verlässt uns nicht und deshalb können wir getrost und unverzagt sein. Wir finden viele Bedeutungen, die darin eingeschlossen sind und die uns deutlich machen, wie gut wir diese Wünsche gebrauchen können:
Optimistisch, furchtlos, hoffnungsvoll und zuversichtlich, beherzt und auch ein bisschen sorglos.

Ursprünglich handelt es sich ja bei diesem Wort, das als Jahreslosung ausgewählt wurde, um einen Zuspruch Gottes an Josua, den Nachfolger des Mose. Mose hatte das Volk Israel aus Ägypten, dem Ort der Unfreiheit, an dem es sich aber leben ließ, durch die Wüste, in der zwar Freiheit herrschte, aber das Leben sehr schwer fiel, geführt. Josua übernimmt die Leitung des Volkes von Mose, um das Volk Israel in das gelobte Land zu bringen, damit es nach der Befreiung aus der Sklaverei, nach Anfechtung und Prüfung dort endlich zur Ruhe (vgl. Jos. 21, 43 – 35) kommt. Diese verheißene Ruhe bedeutet nicht ein „bisschen Ausruhen“, bedeutet nicht den Feierabend zu genießen, sondern gibt das große Liebensziel an, für das Israel geschaffen ist.

Für das Gottesvolk, das kein Zuhause hat, war das Erreichen und Einziehen in das gelobte Land schon dieses „Zur-Ruhe-Kommen“. Heute, nachdem die Propheten Israels das Zur-Ruhe-Kommen als umfassende Verwirklichung von Recht, Gerechtigkeit, Frieden und Liebe, ausgemalt haben, können wir uns damit nicht zufrieden geben. Wir denken an die wunderschönen Verheißungen der Propheten. Jesaja hat vorausgesagt, dass die Zeiten vorüber gehen werden, in denen die Völker ihre Konflikte auf kriegerische Art und Weise lösen. Ja, man wird Schwerter zu Pflugscharen umformen (Jes. 2). Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit haben wir uns an einige der schönsten Zukunftsbilder erinnert. So kündigt Gott durch den Propheten an, dass das Joch der Besatzung zerbrochen und jeder erbeutete Militärstiefel verbrannt wird, damit er nicht auf Neuem dem Krieg dienen kann. „Ein Kind ist uns geboren“, das soll „Friedefürst“ (Jes. 9, 5) genannt werden. Ja, sogar die Natur wird in den Gottesfrieden hineingezogen, „wenn die Wölfe bei den Lämmern liegen“ „und die Löwen Stroh fressen wie die Rinder“. (Jes. 11, 6 u. 7.)
Gerade nach der Geburt Jesu, nach dem, was er gelebt und gelehrt hat, können wir uns nicht mit einer Verheißung einer Ruhe zu Frieden geben, die Ergebnis einer kriegerischen Landnahme ist. Das Christkind ist doch der Friedefürst. Er ist es, der in den Seligpreisungen gesagt hat: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Land besitzen.“ (Mat. 5, 5) Nein, bei aufmerksamer Lektüre des gesamten Neuen Testaments stellen wir eine inhaltliche Präzisierung und Veränderung des Hoffnungsgutes, auf das die Glaubenden hoffen, fest. Mit den Worten Johann Sebastian Bachs aus der 4. Kantate des Weihnachtsoratoriums, die wir gerade gehört haben, gesagt: „Jesu, du mein liebstes Leben …, meine Hoffnung, Schatz und Teil, ... mein Erlösung, Schmuck und Heil, Hirt und König, Licht und Sonne“. Nicht mehr etwas, auch kein verheißenes Land, ist Inhalt der religiösen Hoffnung, sondern Jesus selbst erfüllt die Sehnsucht nach Gott. Die Beziehung zu ihm ist das Ziel des ewigen Nachhausekommens.
Inhalt christlicher Hoffnung ist nicht ein bestimmtes Land, sondern Jesus Christus selbst. Das Land ist nicht mehr Teil der Verheißung der ewigen Ruhe. Im ganzen Neuen Testament findet sich keine Aufnahme der alttestamentlichen Landverheißung. So führt das Neue Testament das Alte fort und korrigiert es.

Ich höre sofort die Gegenfrage: Sagt denn nicht gerade in diesem Predigttext Gott dem Volk Israel das Land zu? Ist das Land Israel nicht doch verheißen, hat Gott nicht den Kindern Israel das Land gegeben, deren Grenzen in diesem Bibeltext sogar genau umrissen werden? – Zweifellos haben wir es mit einer Frage zu tun, die bis in die aktuelle Tagespolitik hineinreicht. Wir werden auch dieses Jahr wieder von Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern hören. Manche Christen sprechen aufgrund der Landverheißung für Israel, die im Alten Testament eine große Rolle spielt, dem jüdischen Volk und dem heutigen Staat Israel einseitig das Recht auf die umstrittene Erde am Ostufer des Mittelmeeres zu. Ist nicht der heutige Staat Israel mit dem biblischen Volk Israel und das palästinensische Volk mit den Kanaanäern gleichzusetzen? Hier müssen wir aus christlich-theologischer Sicht deutlich unterscheiden. Nicht aufgrund eines besonderen Gottesrechtes, aber auf dem Hintergrund der allgemein gültigen Menschenrechte ist dem jüdischen Volk ein Leben in sicheren Grenzen in einem eigenen Staat zu gewährleisten. Die Vereinten Nationen, die Völker der freien Welt und auch in besonderer Weise Deutschland sind hier in der Pflicht. Dies bedeutet allerdings keine einseitige Stellungnahme für den Staat Israel und gegen die Palästinenser. Vielmehr wird die Lösung des Nahostkonfliktes nur gefunden werden, wenn auch Palästinenser zu ihrem Recht auf einen eigenen Staat kommen werden.
Das sind im Einzelnen völkerrechtliche Fragen, die in dieser Predigt nicht im Zentrum stehen sollen. Wichtig ist für uns, dass aus christlicher Sicht eine kriegerische Landnahme, wie überhaupt Besitz keine religiöse Bedeutung hat. Der religiöse Durst wird nicht durch Landbesitz gestillt, sondern durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus. Der Kirchenvater Augustin hat es auf den Punkt gebracht, wenn er sagt: „Meine Seele ist unruhig, bis sie Ruhe findet in dir.“

Doch kehren wir zu Josua zurück. Josua ist ein Mann des Übergangs, der Begleiter des Volkes in einer Krise. Als Josua viele Gefahren und schwere Aufgaben vor Augen hat, sagt Gott Josua seinen Beistand zu. In schwieriger Lage lassen Menschen ihre Führer fallen. Fußballtrainer müssen plötzlich gehen, wenn der Erfolg ausbleibt. Politiker oder Top-Manager müssen zurücktreten, um größeren Schaden abzuwehren. Aber Gott steht zu Josua, auch in schwierigen Zeiten. Er lässt seine Leute nicht fallen. Mit der Treue Gottes wird etwas vom Wesen Gottes deutlich.

Angesichts scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten sagt Gott seinem Beauftragten zu, dass er mit ihm sein wird. Auch wenn er schwach ist, braucht Josua nicht zu verzagen, weil Gott mit seiner unbegrenzten Macht an seine Seite tritt.

Dieses Mitsein Gottes ist typisch für den Gott der Bibel. Es zieht sich durch alle biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments. Besonders schön kommt es zum Ausdruck, als Gott Mose seinen Namen „Jahwe“ offenbart. Der Gottesname bedeutet nichts anderes, als: „Ich werde für euch da sein!“ (vgl. 2. Mose 3, 14)
Später kündigt der Prophet Jesaja die Geburt eines Kindes an, das „Immanuel“ heißen soll (Jes. 7, 14). Immanuel bedeutet aber ebenfalls nicht anderes als: „Gott mit uns!“. Im Neuen Testament wird der neu geborene Jesus als Immanuel, als der „Gott mit uns“ bezeichnet (Mat. 1, 23). Ganz auf dieser Linie liegt es auch, wenn der auferstandene Jesus als letztes seinen Jüngern die Zusage mitgibt: „Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt!“ (Mat. 28, 20). Der Gott der Bibel ist ein uns begleitender, zur Seite stehender, uns unterstützender Gott.

Darum dürfen wir die Jahreslosung auch als Zuspruch für uns nehmen. Wir stehen in mannigfachen Übergängen. Noch weiß niemand genau, was das neue Jahr bringen wird, weder für unser Land und die ganze Welt noch für uns und unsere Familien. In unserem Staat wird sich Vieles ändern müssen. Die neue Regierung ist noch nicht lange im Amt. Sie hat sich viele Reformen vorgenommen. Wir alle wissen, wie nötig ein sozialverträglicher Umbau unseres Staates und seiner Sozialsysteme ist, wie wichtig eine Sanierung der Staatsfinanzen. Mögen die Bundeskanzlerin und die Regierung die großen Aufgaben, die vor ihnen liegen, beherzt angehen und dabei immer im Blick haben, dass Politik um der Menschen Willen gemacht wird und dass sie ihr Maß findet an dem Gott, der „mit uns ist“.

Auch in der Kirche ist Vieles im Fluss. Die Zeit einer traditionsgeleiteten Zugehörigkeit zur Kirche ist endgültig vorüber. Die Menschen werden auf Dauer nur zu uns kommen, wenn sie es von Innen heraus auch wirklich selber wollen. Der Umbau unserer Kirche macht viele Reduzierungen und Neuanfänge nötig. Wir wissen schon, was wir verlieren, aber noch nicht, was wir gewinnen werden.

Deswegen reagieren wir häufig mit wehleidigem Klagen, über das, was nicht mehr geht und über die Notwendigkeit, hier und da auch bestimmte Aktivitäten einzustellen.

Für unsere Pommersche Evangelische Kirche wünsche ich mir, dass in unseren Gemeinden vor Ort etwas deutlich wird von dem Optimismus, den wir aus unserem Glauben an Jesus Christus gewinnen. Davon etwas weiterzugeben in unseren Dörfern und Städten ist eine große Aufgabe, die wir als Kirche furchtlos angehen müssen. Viel zu oft ist der Eindruck entstanden, dass wir nur mit uns selber und unseren Strukturen beschäftigt sind. Dabei sollten wir die geistliche Arbeit in den Mittelpunkt stellen. Das ist notwendig, wenn wir wollen, dass sich die Menschen wieder für den christlichen Glauben interessieren.

Vielleicht ist unsere Lage, die Lage der Kirche, der des Volkes Israel damals ähnlich. Die Fleischtöpfe Ägyptens, die Unfreiheit und Sicherheit zugleich bedeuteten, liegen hinter uns. Die Zeit in der DDR war für die Kirche schwer. Sie bedeutete Nichternstnahme, Marginalisierung, Diskriminierung, ja sogar teilweise Verfolgung für Christenmenschen. Die Menschen und die Kirche waren unfrei, aber man konnte ungefähr einschätzen, was zu erwarten war. Und soziale Sicherheit war gegeben. In der Nische der Gesellschaft konnte die Kirche manches bewerkstelligen. Geld war nicht wichtig. Ich habe selber lange gebraucht zu begreifen, warum auch manche in der Kirche sich heute zu den alten Fleischtöpfen zurückwünschen. Aber es ist eben diese Grundverunsicherung der Gegenwart, die Vielen zu schaffen macht. Vergleichen Sie damit die Unfreiheit der Vergangenheit, so scheint sie ihnen im Rückblick eher als das kleinere Übel.
Dann kam die Wende und mit ihr eine Zeit der scheinbar vollen Kassen in Kirche und Staat. Eine soziale Absicherung war weiter gegeben und viele neue Möglichkeiten schienen verlockend. Aber es war auch eine Zeit der Festlegungen und Bindungen. Wir waren gerade in dieser Zeit nicht radikal offen für das Neue, das Gott unter uns tun wollte. Vor uns liegt nun die Wüste und dann das gelobte Land. Wir werden noch durch schwierige Zeiten gehen, bevor die Kirche in Deutschland wieder für eine zunehmende Zahl von Menschen Ruhe für ihre aufgescheuchten Seelen bieten wird. Aber diese Zeit wird kommen. Bis dahin liegen noch schwierige Prozesse und lange Durststrecken vor uns.
In all diesen Phasen war Gott bei uns. Er ist in der Gegenwart da und er wird in der Zukunft unseren Weg geleiten. Gott spricht: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht!“

Darum wünsche ich uns auch ein bisschen mehr Sorglosigkeit. Die Kraft dazu kommt aus der Zusage Gottes, dass er uns nicht fallen lässt und auch nicht verlassen wird. Der neutestamentliche Namensvetter von Josua, Jesus von Nazareth, hat sogar in seinem Leiden und Sterben erlebt, dass Gott ihn nicht fallen ließ. Durch seine Auferweckung hat er den Horizont einer ganz anderen, ewigen Ruhe aufgerissen. Deshalb können wir auch 2006 in allem getrost und unverzagt sein. Amen.

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