11. November 2012 - Eröffnung der Dekade gegen Armut und Arbeitslosigkeit
11. November 2012
Predigt zu Mt 20, 1-15
„Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“, so beschreibt ein 50 jähriger Industriemechaniker seine Lage. Früher war er einmal Geschäftsführer einer Spedition. Die Auftraggeber drückten die Preise und so musste die Firma bankrott anmelden. „Was folgte, war der soziale Abstieg in Hartz IV.“ Doch er hatte Glück. Er hat eine Arbeit als Fahrer gefunden. Stundenlohn ca. 6 €, im Monat nicht ganz 1000 €. Nach Abzug aller Fixkosten und Steuern bleiben ihm 100 € plus 165 € Ergänzungszuweisung durch das Arbeitslosengeld II für Heizung und Unterkunft. Er sagt: „Es ist eine frustrierende Erfahrung, dass der Lohn alleine nicht zu einem vernünftigen Leben reicht und ich zusätzlich Arbeitslosengeld beantragen muss – und das bei einer Vollzeitbeschäftigung!“
Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern berichtet, wie sie immer wieder von Sozialhilfe leben mussten: „Für die Kinder bedeutete das regelmäßig unfreiwillige Verzichtsübungen: Einfach mal ein Eis zu essen, in den Zoo, in ein Museum oder ähnliche Einrichtungen zu gehen, war unmöglich. … Um die Kindergeburtstage ausrichten und mit mehreren anderen Kindern feiern zu können, musste ich lange im Voraus Geld ansparen. … Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke waren regelmäßig ebenfalls ein finanzielles Problem. Um nicht mit leeren Händen vor den Kindern zu stehen, habe ich wie viele Eltern in meiner Situation an meiner eigenen Kleidung gespart.“
35 Jahre hat sie als Krankenschwester gearbeitet. Zwei Kinder hat sie großgezogen. Sie freute sich auf ihren wohlverdienten Ruhestand. Dann bekam sie die Mitteilung ihres Rentenbescheids. Im Monat sind es weniger als 500 €. „Sie hat geheult, als sie den Bescheid in den Händen hielt.“, schreibt ihre Tochter.1
II
Liebe Schwestern und Brüder,
drei Einblicke in Lebensgeschichten, die von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Welche Geschichten würden die 28.627 Arbeitslosen in unseren beiden vorpommerschen Kreisen erzählen? Welche Erfahrungen machen die Unterbeschäftigten oder die von Armut Gefährdeten? Für Oktober 2012 liegt die Arbeitslosigkeit in Vorpommern-Rügen bei 11,6% und in Vorpommern-Greifswald bei 12,3%. Die Quote der Unterbeschäftigung liegt bei 15%, bzw. 17,1%.2 Aus Arbeitslosigkeit resultiert Armut mit ihren Folgen. Die Armutsgefährdung in unserem Bundesland liegt bei 22,2% und damit nach Bremen an zweiter Stelle im Bundesvergleich.3
In den vergangenen Jahren ist die Arbeitslosigkeit zwar gesunken und es gibt auch gute Nachrichten. Am vergangenen Dienstag meldete das statistische Bundesamt, dass immer weniger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern auf staatliche Leistungen zur Sicherung ihres Einkommens angewiesen sind. Innerhalb von 5 Jahren ist der Anteil von 17,8% auf 13,7% gesunken.4 Das ist ein Erfolg, den wir nicht übersehen dürfen. Dennoch sind die Probleme weiterhin groß.
Auf der anderen Seite der Armut steht der Reichtum. Der Entwurf des vierten Armutsberichts der Bundesregierung, der in der kommenden Woche im Kabinett behandelt und beschlossen werden soll5, weist auf die ungerechte Verteilung der Vermögenswerte hin. So verfügen die reichsten 10% über mehr als 50% des Vermögens. Die ärmere Hälfte der Bundesbürger verfügt zusammen sogar nur über 1% der Vermögen.6
III
Es ist 6 Uhr früh. Der Tag ist noch frisch. Die Sonne hat noch nicht ihre volle Kraft entfaltet. Auf dem Marktplatz des Ortes haben sich etliche Männer versammelt. Auch Manuel ist unter ihnen. Wie jeden Tag steht er hier und hofft auf Arbeit. Im Moment ist Erntezeit und da werden viele gebraucht. Einer der Grundbesitzer der Gegend erscheint auf dem Marktplatz. Er verhandelt mit den Arbeitern. Man einigt sich relativ bald auf den üblichen Tagessatz von einem Silbergroschen. Davon wird man nicht reich, aber es ist genug zum Auskommen. Manuel freut sich. Er wird heute Abend nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Heute finden sogar alle eine Anstellung. Was für ein Tag!
Es ist genug Arbeit für alle da! Sogar noch vier weitere Male geht der Hausherr auf diesen oder andere Märkte und stellt Arbeiter ein. Arbeit ist für alle da!
In einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, klingt das wie ein Evangelium. Zurzeit Jesu war das wohl auch nicht selbstverständlich. Manche Ausleger sehen hier einen Bezug auf die verbreitete hohe Arbeitslosigkeit damals in Palästina. Dass genügend Arbeit für alle da ist, ist nicht selbstverständlich. Aber das ist doch eine Pointe des Gleichnisses, die uns in einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, besonders wichtig wird. Im Reich Gottes gibt es immer etwas zu tun. Das Reich Gottes ist eben nicht wie der Münchener im Himmel von Ludwig Thoma, der sich in Ewigkeit langweilt. Das Reich Gottes ist wie unser Vater im Himmel, immer für eine neue Idee gut und voller sinnvoller Arbeitsangebote, damit die Ewigkeit die kulturelle Schönheit von Gottes Schöpfung atmet.
Denn Arbeit ist ein großes Gut. Arbeiten zu gehen, ist etwas sehr Wertvolles für uns Menschen. Zu Beginn der Bibel wird dies deutlich. Dort finden wir grundlegende Aussagen über den Menschen in sagenhafter Redeweise. Im Garten Eden gibt Gott den Menschen Arbeit. Sie sollen die Erde bebauen und bewahren. Arbeit ist Teil des Paradieses gewesen. Gott versorgt Menschen mit dem, was sie brauchen, aber er beteiligt sie auch daran, die Erde zu verwalten. Dies schließt nicht nur die Pflicht zur Arbeit ein, sondern auch ein Recht auf Arbeit. Dass die Arbeit als mühsam empfunden wird, und Menschen auch zerstören kann, ist eine andere Geschichte (Gen 3, 17-19). Menschen haben ein Recht auf Arbeit. Sie ist die Möglichkeit zum Broterwerb, und darauf hat jeder ein Anrecht.7 Nach dem biblischen Bild vom Menschen lebt der Mensch nach seiner Bestimmung, wenn er von seiner Hände Arbeit lebt. Und er verliert seine Bestimmung, wenn er außerhalb der Verantwortung des Bebauens und Bewahrens steht und zur Untätigkeit verurteilt ist.
Nebenbei bemerkt, halte ich aus diesem Grund auch ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, wie es in den letzten Jahren verschiedentlich diskutiert wurde, für falsch. Es würde das Recht auf Arbeit ersetzen durch ein Recht auf Alimentierung. Das ist eine hochgradige Entmündigung von Menschen. Wir Menschen brauchen nicht nur ein Einkommen, um unser Auskommen zu finden, sondern wir brauchen Arbeit, um das Gefühl zu entwickeln, etwas beizutragen für das Ganze, nicht unnütz zu sein. Keine Arbeit zu haben und von der Gemeinschaft per Umlage finanziert zu werden, ist darum für den Menschen entmündigend und entwürdigend. Wir sollten nicht für ein „bedingungsloses Grundeinkommen„ kämpfen, sondern dafür, dass das Recht auf Arbeit, das in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“ gefordert wird8, auch in das Grundgesetz aufgenommen wird. Erst mit dem Recht auf Arbeit macht auch ein Grundeinkommen Sinn. Diese Arbeit muss nicht in jedem Fall mit einem aus der Arbeit resultierenden Erwerbslohn einhergehen. Wenn gesellschaftlich notwendige Arbeit getan wird, kann diese auch mit staatlichen Unterstützungsleistungen ermöglicht werden. Übrigens fällt auf dem Hintergrund dieses Gedankens ein neues Licht auf das gerade beschlossene Betreuungsgeld. Es ist eine sinnvolle Möglichkeit, gesellschaftlich notwendige Erziehungsarbeit staatlich zu unterstützen. Und wir brauchen in einer komplexen Gesellschaft vielfältige Rollenbilder, um unterschiedlichen Menschen und den verschiedensten Biographien zu entsprechen. Eine kluge und christlichen Werten verpflichtete Landespolitikerin hat deswegen ganz zu Recht davor gewarnt, mit Hilfe des Betreuungsgeldes einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen. Es ist gut, wenn wir verschiedene Wahlmöglichkeiten, Kinder zu erziehen oder erziehen zu lassen haben.
IV
Auf jeden Fall gilt: Arbeit ist vorhanden und Müßigkeit ist kein Wert an sich! So könnte man mit dem Grundbesitzer des Gleichnisses von Jesus sagen. Mehrmals am Tag geht er und stellt neue Arbeiter an. Und immer wieder fragt er: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? (v. 3.6) Das griechische Wort argos an dieser Stelle umfasst dabei ein breites Bedeutungsspektrum. Es enthält nicht nur den Gedanken des Müßiggangs, wie in der Lutherübersetzung. Es steht auch für arbeitslos, ertraglos, nutzlos, unbrauchbar. So sind die Arbeiter, die noch nicht angestellt wurden, nicht alle faul oder müßig. Ihren Arbeitswillen haben sie ja zum Ausdruck gebracht, in dem sie auf den Markt gekommen sind. Sie wurden einfach nicht gebraucht und sind dementsprechend nutzlos und überflüssig.
Ein Grundproblem unserer heutigen Gesellschaft besteht darin, dass wir die Erfahrung, gebraucht zu werden, zu spät oder zu kurz oder gar nicht machen. Die Erfahrung gebraucht zu werden, ist genauso wichtig wie die Erfahrung, geliebt zu werden. Wenn wir Menschen diese Erfahrungen vorenthalten, versündigen wir uns an ihnen. Darum ist Arbeitslosigkeit, am schlimmsten Dauerarbeitslosigkeit, nicht nur ein volkswirtschaftliches Phänomen, sondern Ursache für eine tiefe Sinnkrise. Wer nicht gebraucht wird, kann nicht an sich glauben, verliert auch das Zutrauen zu Gott oder kann es gar nicht erst aufbauen und verzweifelt am Ende.
Dementsprechend schlimm sind auch die Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit. Sie zieht soziale und gesundheitliche Folgen nach sich. In den letzten Jahren hat sie vermehrt zu einer Schicksalsgläubigkeit und Perspektivlosigkeit vieler Betroffener geführt.9 Sie besteht darin, dass Menschen die Hoffnung auf Veränderung aufgeben, sich selbst aufgeben und in dem schlimmen Zustand, in dem sie sich befinden, einrichten. Besonders schlimm ist es, dass sich diese Perspektivlosigkeit vererbt. Wie sollen Kinder, deren Eltern bereits in diesem Teufelskreis aus Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gefangen sind, da rauskommen, ohne, dass ihnen jemand hilft? Und in der Tat, dann kann es auch vorkommen, dass Müßiggang ein eigener Wert wird.
„Nur eine Stunde arbeiten“, denkt Jakob, „das lohnt doch gar nicht. Auf diese eine Stunde kommt es nun auch nicht mehr an. Wäre ich doch besser sitzen geblieben. Warum habe ich mich bloß bequatschen lassen? Der Alte scheint es ja sehr dringend zu haben, seine Ernte einzubringen. Morgen ist doch auch noch ein Tag. Aber nun gut. Vielleicht bekomme ich so wenigstens noch einen Schluck Wasser und ein paar Münzen. Besser als gar nichts. Meine Frau wird trotzdem schimpfen. Denn davon kann sie wieder kein Mehl kaufen und Brot backen. Und die Kinder, ach die sind ja schon dran gewöhnt immer Hunger zu haben. Vielleicht haben sie mehr Glück gehabt, bei den Fischern. Die brauchen immer ein paar flinke Hände zum Flicken ihrer Netze. Wenn wenigstens jeden Tag genug Arbeit wäre, das der Lohn für einen Tag reichen würde. Damit wäre doch schon etwas gewonnen.“
V
Eine Stunde später.
Simon holt einen Tisch aus dem Haus. Gleich ist Feierabend und die Arbeiter bekommen ihren Lohn. Den Lohn auszahlen, das ist seine Aufgabe als Geschäftsführer des Weinbergs. Die Ernte ist eingebracht. Der Chef hat extra noch einmal kurz vor Feierabend Arbeiter herbeigeholt. Es hat sich gelohnt. Sie konnten noch ein bisschen beim Aufräumen helfen. Dadurch konnten die anderen länger auf dem Feld bleiben. Der Chef ist zufrieden und gut gelaunt. „Alle Arbeiter sollen den gleichen Lohn bekommen.“ „Nun gut!“, denkt sich Simon. „Weil die Ernte so gut war, können wir es uns heute einmal leisten großzügig zu sein. So kann auch jeder Arbeiter morgen seine Familie versorgen. Das ist auch gut“, denkt Simon und stellt das Säckchen mit Geld auf den Tisch, schlägt das Buch auf und ruft die Arbeiter herbei. „Wie wird es wohl sein, in die verdutzten Gesichter zu schauen?“, fragt er sich.
Der Lohn soll den Lebensunterhalt ermöglichen. Die Pointe in der Erzählung des Gleichnisses deutet sich langsam an. Und doch ist es am Ende überraschend, dass alle den gleichen Lohn bekommen. Nicht einmal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hält dies für angebracht. In ihrem Artikel über das Recht auf Arbeit heißt es: „Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.“10 Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Es ist verständlich, dass die Arbeiter, die bereits morgens früh in den Weinberg gekommen sind, murren. Doch tut ihnen ihr Chef kein Unrecht. Vielmehr wird an dieser Stelle etwas von der überschwänglichen Güte Gottes deutlich. Und das ist auch die Grenze des Gleichnisses in Bezug auf unser Thema. Kein Arbeitgeber ist Gott und hat unendliches Kapital zur Verfügung. Gerade daran wird ja erst deutlich, dass es in Gottes Reich anders sein wird, als in der Welt, in der wir leben. Deswegen taugt dies Gleichnis auch nicht für die Ausformulierung einer christlichen Unternehmensethik. Aber der Grundsatz ist klar: Der Lohn soll dem Arbeiter das Leben ermöglichen. Genau das ist der Sinn, wenn der Grundbesitzer auch denen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, den Lohn gibt, den ein Arbeiter braucht, um seine Familie für einen Tag zu versorgen.
Die Debatte über Mindestlöhne halte ich darum für hilfreich. Sie kann Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und –nehmer bringen. Dabei handelt es sich jedoch um ein schwieriges Spannungsfeld von ökonomischer Vernunft und der Bewahrung der Menschenwürde. Darauf hat die Kammer für soziale Ordnung der EKD in einem im September 2009 veröffentlichen Text hingewiesen.11 Wenn die Leistung des oder der Einzelnen marktgerecht entlohnt werden muss, kann es notwendig werden, seinen oder ihren Lebensstandard zu alimentieren, damit ein menschenwürdiges Leben möglich wird. Einen einfachen Ausgleich zwischen Markt und Menschenwürde gibt es nicht. Trotzdem ist es unerträglich, wenn Frauen und Männer, die vollzeitlich arbeiten, so wenig verdienen, dass sie und ihre Familien davon nicht leben können. Hier müssen wir weiter nach Lösungen suchen, die einen fairen Lohn ermöglichen.
VI
Was können wir nun tun? Wie können wir dem 50 jährigen LKW-Fahrer helfen, dessen Vollzeitjob nicht reicht, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren? Wie können wir der alleinerziehenden Mutter helfen, die ihren Kindern mehr geben möchte, als sie kann? Wie können wir der Rentnerin begegnen, die am Ende ihres Lebens die Früchte ihrer Arbeit nicht sieht?
Als Kirche können wir nicht die Rente aufstocken, oder Mindestlöhne festlegen. Grundsätzlich gilt zu unterscheiden, was in unserer Macht steht und was nicht. Armut und Arbeitslosigkeit sind von vielen Faktoren bestimmt, auf die wir als Kirche nur begrenzten Zugriff haben. Die Aufgabe des Staates ist es, Rahmenbedingungen zu setzen und zu verbessern, dass Menschen Arbeit finden und angemessen entlohnt werden. Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, innerhalb dieser Rahmenbedingungen zu wirtschaften und alle am Wirtschaftsprozess Beteiligten angemessen am Erfolg teilhaben zu lassen. Ich bin kein Politiker und kein Wirtschaftsexperte und enthalte mich deswegen hier konkreter Vorschläge. Ich mahne jedoch Wirtschaft und Politik an, Lösungen zu suchen, die zur Verbesserung der Lage beitragen. Die gegenwärtige Lage ist unerträglich!
Aber auch als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu können wir etwas tun.
Arbeit ist für alle da. Es ist wichtig, dass wir Arbeit nicht nur im Sinne der Erwerbsarbeit verstehen. Erwerbsarbeit ist gut und selbstverständlich unverzichtbar. Doch sie ist auch nicht alles. Gerade der sinnstiftende Aspekt der Arbeit geht nicht in der Erwerbsarbeit auf. Als Christen arbeiten wir am Bau des Reiches Gottes mit. Das gibt dem Leben eine andere Perspektive. Da steckt unheimlich viel Sinn drin. Da können wir auch Menschen dran beteiligen, deren Bedürfnis nach Sinn nicht durch ihre Erwerbsarbeit gedeckt wird. Auch in anderen Bereich gibt es Arbeit, die nicht vergütet wird, aber erfüllend und sinnstiftend sein kann. Ich denke an den Einsatz vieler Mütter und Väter für ihre Familien, oder an die Arbeit Ehrenamtlicher in Vereinen und im nachbarschaftlichen Bereich. Hier ist wirklich Arbeit für alle da! Unsere Gemeinden könnten hier Plattformen sein, dass die Rentnerin die alleinerziehende Mutter kennenlernt. Einander könnten sie sich helfen, gegen die Einsamkeit und gegen die Überforderung.
Müßiggang ist kein Wert. Als Kirche haben wir einen Auftrag, den Armen zur Seite zu stehen. Wir können Ihnen nicht zur Erwerbsarbeit helfen. Wir haben jedoch Angebote, Menschen zu begleiten und sie darin zu unterstützen, wieder Arbeit zu finden. Unsere Stärke als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sollte es dabei sein, den Einzelnen zu sehen. Und wir sollten ihn nicht nur in seinen Begrenzungen wahrnehmen, sondern als jemanden, den Gott geschaffen hat und der etwas beitragen kann zur Gesellschaft und zur Gemeinschaft der Kinder Gottes. Wir haben Perspektiven, die aus der Lethargie der Nutzlosigkeit herausführen können. Und wir haben begrenzt auch die Möglichkeiten, durch Beratung und Begleitung Menschen zu helfen, dass sie wieder Arbeit und Sinn in ihrem Leben finden, also den Müßiggang überwinden. Das ist nicht leicht, aber auch nicht hoffnungslos. Ich denke im Laufe des Nachmittags werden wir noch konkrete Einblicke bekommen, wie dies bereits geschieht und noch verstärkt werden kann.
Schließlich: Der Lohn soll den Lebensunterhalt ermöglichen. Wir sollten für Mindestlöhne eintreten, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dies nimmt uns auch als Kirche in die Pflicht, wo Menschen bei der Kirche angestellt sind. Wenn das Motto der diesjährigen ökumenischen Friedensdekade lautet: „Mutig für Menschenwürde“ lautet, dann schließt es unser Eintreten für ein christliches Menschenbild ein, wie es in unserem heutigen Predigttext sichtbar wird. Lasst uns „Mutig für Menschenwürde“ eintreten, wo überall sie mit Füßen getreten wird.
Am heutigen Tag müssen wir in die Weite unserer Gesellschaft hineinsagen: Lasst euch nichts vormachen! Die, die sich als Kümmerer für die Nöte der Langzeitarbeitslosen anbieten und gleichzeitig Fackelzüge am Gedenktag der Reichsprogomnacht organisieren und die Stolpersteine aus den Straßen entfernen, um den Raub der Menschenwürde und die Vernichtung unserer jüdischen Mitbürger vergessen machen wollen, die haben keine Lösungen für heute. Menschenwürde ist unteilbar. Die, die die Juden ermordet haben, haben auch Millionen andere arme Menschen in den Tod geschickt, Deutsche und aus anderen Völkern. „Mutig für Menschenwürde“ – das lässt uns für ein christliches Menschenbild eintreten – überall dort, wo es nötig ist. Das Recht auf Leben, das Recht auf unversehrte körperliche Existenz und das Recht auf Arbeit gehören in diesem Menschenbild zusammen.
Natürlich können wir nicht alles auf einmal ändern. Aber anfangen und Akzente setzen, das können wir. Widerstand leisten und protestieren, wo dieses Menschenbild verachtet wird, das müssen wir. Und schließlich Neues wagen, wo sich die Gelegenheit bietet, das sollten wir. Wir leben eben nicht nur im Horizont der gefallenen Welt, sondern auch im Horizont der Güte des Reiches Gottes. Das beflügelt uns.
Amen
Anmerkungen
1 Alle drei Beispiele aus: Die im Schatten sieht man nicht. Armut in Deutschland. Schattenbericht der nationalen Armutskonferenz. Sonderausgabe Oktober 2012 – Strassenfeger (www.strassenfeger.org), S. 5.6.18.
2 statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-Regionen/Politische-Gebietsstruktur/Mecklenburg-Vorpommern-bis-08-2011-Nav.html. (aufgesucht am 7.11.2012)
3 www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/09/PD12_315_221.html;jsessionid=A7AC7F7B34080912FE3B508ACC49D298.cae1. (aufgesucht am 7.11.2012)
4 www.ostsee-zeitung.de/ozdigital/archiv.phtml & www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/11/PD12_383_221.html (beide aufgesucht am 9.11.12)
5 shop.bundesanzeiger-verlag.de/suche/. (aufgesucht am 7.11.12)
6 www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Einkommen-Armut/Dokumente/Entwurf%204.%20Armutsbericht%20der%20Bundesregierung%2017.9.2012.pdf (aufgesucht am 7.11.12, Seite XVIII-IX)
7 Auch im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist dies festgehalten. www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx (aufgesucht am 8.11.12)
8 Art. 23.
9 Vgl. den Entwurf des Berichtes des Synodalausschusses „Kirche und Gesellschaft“ der PEK vom 27.09.2011 von Dr. Winter, Seite 2.
10 www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx (aufgesucht am 8.11.2012)
11 Pro und Contra Mindestlöhne. Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor. Eine Argumentationshilfe der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, EKD Text 102, September 2009.