15. August 2013 - Vortrag "Ora et labora – Christsein im Zeitalter der Globalisierung"
15. August 2013
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Othmarscher und Dithmarscherinnen,
ich danke für die Einladung und die Gelegenheit, Sie hier in der Kirchengemeinde Othmarschen kennen zu lernen. Ich habe mich darauf gefreut – und darüber, einmal neu über ein altes Thema nachzudenken. Wie sich herausstellt, ist es von ungeahnter Aktualität. Ihnen dies aus meiner Sicht näher zu bringen und ins Gespräch mit Ihnen zu kommen, soll uns nun die nächsten 1 1/2 Stunden befassen.
Sommerzeit – Reisezeit. Immer mehr Menschen führt die Reise in die Klöster Deutschlands. Offenkundig weil sie merken, dass sich etwas ändern muss in ihrem Leben. Dass es Zeit ist für eine Reise nach innen. Heraus aus der ständigen Entäußerung, davon, sich zu verausgaben, zu zeigen, zu profilieren, zu profitieren, zu funktionieren. Ein Kloster, das sich zunehmender Beliebtheit erfreut, ist Nütschau, knapp 50 km von hier. Faszinierend nah liegt eine letztlich ferne und fremde Welt. Fast 20 Benediktiner-Mönche leben hier in einem festgelegten Tagesablauf zwischen Matutin (6.30 h) und Komplet (21 Uhr) und gewähren denen Gastfreundschaft, die sich auf Entdeckungsreise begeben wollen. Nach innen, wie gesagt, nach verlorener Ruhe, nach dem fremdgewordenen Ich – und in all dem mehr oder weniger bewusst nach Gott.
Die Mönche tun dies einerseits durch Kurse zur christlichen Lebenskunst und Meditation. Und sie tun es, in dem sie unspektakulär alle einbinden in ihre feste Ordnung, die etwa eineinhalb Jahrtausende alt ist: die Regel des Heiligen Benedikt. Zusammengefasst in dem prägnanten: „Bete und Arbeite: ora et labora“. Von allem Anfang an war diese Ordensregel der Benediktiner gegen eine mönchische Weltflucht und Isolation gerichtet, gegen Säulenheilige und Wüsten-Eremiten, die glaubten, Gott nur in äußerster Weltflucht und Entsagung nahe sein zu können. Vielmehr, so die Benediktiner, kann man gerade dann Gott besonders nahe sein, wenn man sich mit größter Kraft der Arbeit, also der Welt und den Menschen widmet.
Ora et labora, Gottes- und Nächstenliebe oder: „Beten und Tun des Gerechten“ – so Bonhoeffer – beides gehört untrennbar zusammen. Kontemplation und Konzentration erst geben Kraft zum Handeln. Innere Einkehr und äußere Wirksamkeit bedingen einander. Es ist dies die Kunst, die der Christenmensch lernen soll – und es sei es in Kursen: diese zwei Elemente zusammen zu bringen. Denn isoliert man jeweils eines, führt das entweder zur Frömmelei und reinen Innerlichkeit, die Gefahr läuft, schnell gesetzlich zu werden mit deutlich fundamentalistischen Tendenzen. Aktuell ist dies häufig in den USA zu beobachten. Nur „Labora“ aber führt zu verflachtem Aktionismus, Werkgerechtigkeit, einem Glauben, der sich nur noch in (vermeintlich?) guten Werken äußert, aber seine geistliche Dimension zu verlieren droht. (Klammerbemerkung: Eine gelungene Form nun innerer Versenkung, in der die Kraft entsteht, in dieser Welt zu sein und zu handeln, kann die Mystik sein. Faszinierend, wie dort durch Kontemplation die Zuwendung zum Herz unseres Glaubens gelingt, so dass der Mensch gar nicht anders kann, als Gott und deshalb den Nächsten zu lieben. Doch Mystik ist ein so feinsinniges und eigenes Thema, dass es einen eigenen Vortrag verdient hätte; deshalb belasse ich es hier bei der Andeutung.)
Auf andere, gelingende Weise bringt dieses „ora et labora“ auch die Weltgebetstags-Arbeit zusammen. Bezeichnenderweise war sie die erste ökumenische Bewegung, die Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg als Geste der Versöhnung wieder in ihre Reihen aufgenommen hat. Nach dem Motto „Informiert beten – betend handeln“ treten jedes Jahr unzählige Christenmenschen eine Gedankenreise in ein jeweils anderes Land an. Indem man eine bestimmte Liturgie feiert, betet, versteht, einander zuruft, wird man der Ungerechtigkeit und Leiden an diesem Ort gewahr. Ora et labora – das ist nicht nur hier eine Liturgie der Empfindsamkeit. Eine humane Gesellschaft braucht dies. Sie braucht Empfindsamkeit für die Verletzung und Verlorenheit, auch die eigene. Und deshalb ist es gut, heute Abend weitere Gedankenorte aufzusuchen, in denen dies stattfindet. Begleiten Sie mich!
1. Wer Visionen hat, ist gesund
Zum Stichwort Verlorenheit: Religionswissenschaftler bestätigen das Phänomen, dass der moderne Mensch vermehrt nach Sinn, nach einer zielgewissen Lebensorientierung sucht, die das Ganze der Wirklichkeit in sich aufnimmt. Dies aber stößt sich an der gesellschaftlichen Realität der Moderne, die aus zig unverbundenen Teilsystemen besteht. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur folgen jeweils ihrer eigenen Logik und funktionieren für und in sich. Ein umfassendes Sinnsystem jedoch oder gar eine ganzheitliche religiöse Sinndeutung wird immer weniger erkennbar und damit immer weniger plausibel. Zumal – es gilt immer noch, was einst Jürgen Habermas 1973 schrieb – es eben keine „administrative Erzeugung von Sinn“ gibt. (Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 99). Was bleibt, ist die Frage. Die Sprachlosigkeit. Das Gefühl, ins Leere zu leben. Erschöpfung, weil dies so ist.
Ich beobachte, dass dies viele inzwischen sehr wohl erkennen. Sie ahnen, was sie krank macht. Jedoch können sie nicht mehr in Sprache fassen, was sie gesund hält – theologisch: was sie heil sein lässt. Sie haben buchstäblich keine Worte – und damit auch keine Vorstellung – für das, was ihnen Lebenslust ist und Qualität von Leben. Etwas, das sie verheißungsvoll erwarten wie ein Kind, das geboren wird. Vielen fehlt, so meine These, der Kontakt zu einer Vision, die einem Kraft gibt und Inspiration. Etwas, das über einen selbst hinaus weist und einem Halt gibt, weil es gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Unsere Gesellschaft leidet zunehmend unter dem Verlust dieser Dimension. Es fehlen Momente und Orte der Be-Sinnung und des Erkennens, an denen man nach Sinn fragt und Liebe, danach, wie man mit Scheitern umgeht und der inneren Grenze, mit Schuld und Verletzung – all dies kommt kaum irgendwo unter. Und so sind wir, ich habe den Begriff inzwischen öfter genannt, metaphysisch obdachlos geworden.
Unsere jüdisch christliche Tradition hat über Jahrtausende hinweg dem heimatlos gewordenen Gottesvolk mit einer weisen Methode aufgeholfen. Sie hat unbeirrbar das Gegenprogramm in Sprache gefasst, das man so pointieren kann: Wer Visionen hat, ist gesund. Noch und noch erinnert unsere Religion an sie. Sie erinnert an die alten Verheißungen und die Sprache Gottes und gibt der Gegenwart eine Deutung auf. Das Problem heute: So viele sind in diesen alten Worten nicht mehr zu Hause! Das Haus der Tradition beheimatet nicht mehr oder ist allenfalls eine zugige Baustelle. Und so wird geredet von Glück, das man selbst schmiedet, nicht von Gnade. Davon, dass ich an dich denke, anstatt dass ich für dich bete. So ist mancherorts Gott selbst verloren gegangen. Tatsächlich nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Ohne Glauben, ohne Gott, Gebote, vertraute Gebete, ohne religiöses Kulturwissen ist der moderne Mensch fast alles losgeworden, nur nicht seine Verlorenheit.
Deshalb ist Bildung so elementar, meine sehr geehrten Damen und Herren. Den Menschen von klein auf religiös wieder Obdach zu geben, ist deshalb so dringlich, weil sonst Grundüberzeugungen wie Nächstenliebe und Toleranz in unserer Gesellschaft verloren gehen.
Bildung ist nicht nur eines der zentralen Anliegen evangelischer Kirche. Es sollte die Sache aller Religionen und aller Konfessionen in einem multireligiösen Staat sein, der faktisch längst besteht, gemeinsam gegen diese Gottvergessenheit oder anders formuliert: Areligiosität anzugehen. Durch Kenntnisreichtum. Die Musik alter Verheißungen. Durch „Inter-esse“ im wahrsten Sinne des Wortes: ergründen, welcher Geist zwischen uns ist.
So verstanden ist Bildung nicht allein Wissensvermittlung. Sie ist auch Reifung und deshalb zu einem guten Teil auch zweckfrei. Bildung ist Weitung und Bindung zugleich – und bezogen auf die biblische Tradition ermöglicht sie Rückbindung, re-ligio an das, was trägt. Zu der humanen Identität einer gebildeten Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir wieder mehr verstehen von uns selbst, von unseren Visionen und Verheißungen des Schalom. Wir müssen wieder mehr verstehen von der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.
Deshalb stehe ich als evangelische Bischöfin in der Stadt Hamburg, die jüngst Verträge mit den muslimischen und alevitischen Gemeinschaften geschlossen hat, eindeutig für den interreligiösen Dialog. Und in der Folge auch für einen gemeinsamen Religionsunterricht – besonders nach dem Hamburger Modell. Den gibt es längst, bewährt sich meist und ist meines Erachtens der einzige Weg, um den Religionsunterricht an unseren Schulen zu erhalten. So sehen das derzeit auch die muslimischen Verbände. Theoretisch könnten sie nämlich nun einen eigenen Religionsunterricht fordern. Das tun sie aber nicht. Sie lassen sich einbinden in ein gemeinsames Curriculum. Dieses gemeinsame Signal der Religionsführenden ist wichtig für die Stadt, sagt der Senat. Der ist im Übrigen nicht nur dankbar, er ist angewiesen auf die Dialogfähigkeit der Religionen und insbesondere auf die Initiativkraft der evangelischen Kirche. Denn es braucht in einer Stadt, in deren Kitas in einer Gruppe von 20 Kindern manchmal 11 (auch religiöse) Sprachen gesprochen werden, eine alltagstaugliche Interkulturalität. Und eine Interreligiosität, die über wohlgesetzte Grußworte hinausgeht. Eine, die das ora und labora verinnerlicht.
Etwa so: Kürzlich sah ich, wie eine dritte Schulklasse eine evangelische Kirche besuchte. In der Klasse waren etwa die Hälfte muslimische Kinder – und was taten sie? Sie zogen wie selbstverständlich ihre Schuhe aus. Vor der Tür zum Kirchenschiff 20 Paar kleine Schuhe. Ausgezogen aus Respekt vor dem heiligen Raum. Was für ein Bild! Herzenssprache mit Verstand.
2. „Beten und Tun des Gerechten“ hier und heute
Vor einigen Wochen war ich früh morgens in der Kirchengemeinde in St. Pauli. Die ersten, die mir begegnen, sind ein älteres Ehepaar. Ob ich wüsste, wo hier die Küche wäre. Sie würden gern beim Frühstückmachen für die Flüchtlinge aus Afrika helfen. Geld hätten sie ja nicht, aber Zeit. Hier zu helfen sei Christenpflicht. Ora et labora. Gleich werden sie begrüßt von einem der achtzig Flüchtlinge, die unter dem Kirchendach endlich Schlaf finden und Ruhe – übrigens Christen und Muslime in friedlichem Miteinander. Er ist höflich, redegewandt und sehr dankbar.
Wir wissen alle nicht, woher die Flüchtlinge genau kommen und was sie erlebt oder durchlitten haben. Aber aus dem, was ich von einigen verstanden habe, war es dies, was ich auch von meiner Mutter über 1945 gehört habe: Bombenhagel. Weinende Kinder. Trennung der Familien. Gewalt und immer die Angst, ob sie auch morgen noch leben. Und das seit Jahren.
Was liegt näher, als humanitäre Hilfe zu leisten? Gerade in diesem Land? Im Rahmen des – in diesem Falle schmalen – Rechtsweges Menschenrecht zu ermöglichen. Gute Beratung für die Einzelnen. Medizin. Kleidung. Freundschaft. Wissend, dass wir natürlich hier kein Weltproblem lösen können – aber allemal Herz und Verstand zusammen nehmen und Courage zeigen? Du sollst den Fremden lieben, heißt es im 3. Buch Mose. Nicht tolerieren, irgendwie, sondern lieben. Herz und Erbarmen ergeben Barmherzigkeit. Wo kämen wir in dieser Gesellschaft hin, gäbe es dafür die Courage nicht?
Stattdessen höre ich nicht nur in den letzten Wochen oft das Wort „Gutmensch“. Jene abschätzige Rede also, die meint: Einer, der`s gut meint und schlecht macht, sich aber trotzdem grandios fühlt. Weil er so naiv ist. Fromm, aber weltfremd. Dem Bösen, der Realität nicht gewachsen. Barmherzig, aber doof. Ehrlich, aber dumm. Wir müssen uns ernsthaft damit auseinander setzen, dass in unserer Gesellschaft der Gedanke von einem Weltethos Gegner hat. Und mehr noch: Dass religiöse Inhalte immer skeptischer angesehen, ja aggressiv attackiert werden. Dies gilt mancherorts besonders für den Islam, weltweit noch mehr für die Christenheit. Es gibt Internetforen, die vor Intoleranz nur so beben. Und die nehmen zu statt ab. Auch in unserem Land. Mit samt einer hohen – zumindest verbalen – Gewaltbereitschaft, die jegliche Grundlagen unserer Demokratie entwertet.
Interessanterweise hat die jahrelange „Werte-Debatte“ nicht gegenhalten können; sie ist letztlich eigentümlich kraftlos geblieben. Das ändert sich meinem Eindruck nach erst dann, wenn Menschen sich trauen darüber zu reden, was ihnen wert und teuer ist. Persönlich. Wenn sie sich ein Herz und in Sprache fassen, was sie hält und ihnen Trost gibt, woran sie glauben und was sie hoffen lässt, dass die Familie ihnen heilig ist und das Enkelkind ihnen Engel war und Lebensmut. In diesen Momenten entsteht Frieden. Dann, wenn man, wie die Bibel sagt, Tacheles redet. Rede und Antwort steht. Sich gerade macht und Gutes denkt! Füreinander betet. Und handelt. In seinem Stadtteil und in ihrer Kirchengemeinde. Wie z. B. derzeit in Hamburger Gemeinden, christlichen wie muslimischen, in Barmbek, in St. Georg Borgfelde, vor allem aber in St. Pauli, dort wo Kiez ist und Armut und schräge Typen und vieles mehr. Mit Herz eben. Die Menschen dort teilen, was sie haben – Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld, Geld. Weil ihnen die Menschen und nicht das Problem nahe gekommen sind. Berührt durch die Nähe der Flüchtlinge mitsamt ihrer Not entdecken die Menschen vor Ort ihre Lust und Fähigkeit zur Hingabe. Die Pastoren vor Ort können davon noch und noch erzählen: Von Ehrenamtlichen, die jetzt bereits 10 Wochen Dienst tun – Essen, Fürsorge, Mitgehen. 1000 Zahnbürsten werden abgegeben, Klempnerdienste angeboten, Hoffnungsbotschaften geschrieben – und dies von Menschen, die teilweise vorher nie in der Gemeinde gesehen wurden. Es ist, als hätten viele derer, die dort leben, diesen Satz verinnerlicht (ohne dass sie ihn vielleicht je gehört haben) „Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.“
Hinz und Kunzt hat hinreißende Portraits von diesen, unseren Geschwistern gemacht: So Hamidu (31): „Wie es wäre, wenn ich wieder ein Zuhause hätte? Ein eigenes Zimmer? Gut! Denn das bedeutet: Ich habe Arbeit. Und ich bin verheiratet. Denn ein Zimmer hat man nicht alleine“. Oder der Sprecher der Flüchtlinge in Pauli, Andreas: „Auf der Straße hat mich niemand beachtet. Nicht einmal die Polizei. Jetzt helfen uns die Menschen. Das ist Liebe und Solidarität. Ich bin stolz auf die Hamburger.“ Auch die kommen zu Wort. Sie, die sich geschwisterlich einmischen. Beispielsweise der Türsteher vom Kiez, Hotte Kriegel: „ Hier bin ich getauft, hier bin ich in den Kindergarten gegangen. Als ich gehört habe, dass Leute den Jungs Angst machen (scil: gemeint war eine Gruppe von Rechtsradikalen) war Feierabend bei mir. Ich bin zum Pastor und hab gesagt: hier bin ich.“
Übertitelt ist das Ganze: Liebe deinen Nächsten.
Mich beeindrucken solche Momente gelebter Nächstenliebe. Denn nichts weniger als das begegnet einem hier. In ihnen lebt Solidarität mit denen, die es schwer erwischt hat. Lebt Geschwisterlichkeit, Mitgefühl, ja auch die Demut, dass Glück immer ein geschenktes ist. Dies alles, meine Damen und Herren, ist ora und labora. Und es sind zugleich die Werte einer Demokratie!
Und will man dazu klare Worte finden, muss man natürlich hinschauen. Auf alles, was ist. Und zwar genau. Nicht per Flachbildschirm, sondern fein beobachtet. Das ist auch eine Form der Kontemplation: Zeit nehmen für Präzision. Und weil wir Christen IN dieser Welt sind, sehen wir halt nicht allein das Gute. Wir sind ja nicht dumm. Wir sehen genau, dass das Böse ist. Mit vielen Gesichtern. Ob Kriegstreiberei, Fundamentalismus, Entwürdigung und Gewalt, das Böse ist immer lebensgefährlich. Und hier – ausgerechnet! – sprechen unsere religiösen Friedensverheißungen davon, dass es nur anders wird, wenn wir die Sehnsucht wach halten nach dem Anderen, Besseren. Denn wer sich sehnt, bleibt nicht stehen. Der geht. Bewegt sich. Verändert sich. Und sucht die Sprache des anderen. Damit es ein Verstehen gibt auf unserem Globus, oder -
3. Die „andere Globalisierung“
Unsere Gegenwart ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass wir in immer größere Zusammenhänge und Komplexitäten geraten: Die „Welt“ wird kleiner, weil wir uns zwar über alles informieren und überall (zumindest virtuellen) Zugang finden können. Doch dies führt oft gerade nicht zur Konzentration. Sondern viel öfter zu Verunsicherung. Denn es werden nahezu zentrifugale Kräfte freigesetzt, so dass der eigene, selbst- und weltgewisse Standpunkt verloren zu gehen droht. Deshalb sind innerhalb der Globalisierung Grenzen wieder wichtig: Globalisierung ist nur dann gesund, wenn sie auch Grenzen kennt und würdigt. Die Grenzen des eigenen Ich, der eigenen Glaubensüberzeugungen, der eigenen Zeit und der eigenen Kraft.
An der Grenze entsteht Erkenntnis – und ergo Weite. Und damit sind wir - jenseits von allen globalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen – bei der so genannten „anderen Globalisierung“ (Johan Galtung). Ihr geht es um das Bewusstsein. Um die Erkenntnis, dass wir in weltweiten Zusammenhängen existieren und damit Verantwortung tragen, die über die eigenen Grenzen hinausgeht. Auf die Religion bezogen heißt das „Ökumene“, oikumene – der eine bewohnte Weltkreis is my castle. Wie sollte das anders gehen als sich in die Sprache der anderen Religionen hinein zu lernen? Dieser interreligiöse Dialog hat hier in Hamburg eine gute und bewährte Tradition. Kontakte zwischen Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit hat es in der Handels- und Hafenstadt Hamburg seit vielen Jahrhunderten gegeben. Ein Interreligiöser Dialog aber, wie er seit nunmehr fast dreizehn Jahren auf institutioneller Ebene zwischen der Evangelischen Kirche und den anderen in der Stadt vertretenen Religionsgemeinschaften geführt wird, darf durchaus als etwas Neues angesehen werden. Das Miteinander dort ist so selbstverständlich geworden, dass die Unterschiede tatsächlich eher interessant statt trennend wirken. Acht Glaubenstraditionen sind es: neben den evangelischen katholische, muslimische, jüdische, buddhistische, hinduistische, alevitische und Mitglieder der Bahá’i-Gemeinden in Hamburg. Und alle verändern sich. Im Forum reden wir darüber. Wir gewähren uns gleichermaßen Gastfreundschaft in unseren Traditionsgebäuden und inneren Entwicklungen. Und wir haben miteinander erkannt: Ein fest gefügtes unveränderbares Bild der jeweilig anderen Religion wird notwendigerweise früher oder später zum Zerr- und Trugbild. Deshalb braucht das Gespräch Kontinuität. Vertrauen entsteht auf Zeit. Gerade weil interreligiöse Begegnungen nicht frei sind von Berührungsängsten, Unsicherheit und Konkurrenzgedanken. Inzwischen treten wir gemeinsam auch öffentlich auf; das öffentliche Neben- und Miteinander ist ein nicht zu unterschätzendes Signal. Wir zeigen damit, dass wir uns auch gesellschaftlich gemeinsam verantwortlich fühlen für das friedliche Miteinander in dieser Stadt. Offenkundig ist das in Deutschland nicht selbstverständlich. Zeigte jedenfalls eine schöne Begebenheit auf dem Kirchentag: In der übervollen St. Georg Kirche haben wir ein Podiumsgespräch zur Losung geführt – sehr pointiert, durchaus auch heiter und ein wenig selbstironisch. Wir haben feierliche Momente erlebt bei einer jüdischen Psalmen-Rezitation, einer muslimischen Koranrezitation, einer buddhistischen Körpermeditation und wunderschöner christlicher Chormusik. Und auf einmal standen wir Religionsführenden da vorn, und der Alevit legte ganz unverabredet und völlig spontan die Hand auf meine Schulter und ich auf die meines Nachbarn und so fort. Und als wir uns verneigten, applaudierten die Menschen. In diesem Moment wurde klar: Es braucht nicht allein das Gespräch der Religionsführenden. Es braucht die Resonanz der Gesellschaft. Eine die sich anstecken lässt von den Möglichkeiten des Dialogs. Und ich bin sicher: Wenn wir als evangelische Kirche dies weiter und in unseren Gemeinden unterstützen oder gar initiieren, dann gestalten wir aktiv unser Christsein in einer globalisierten Welt!
4. Die besondere Aufgabe der Kirche dabei: Charisma und Institution
„Ora et labora“: diese beiden Grundelemente haben institutionell gesehen auch eine Spannung. So hat sie bereits Max Weber formuliert: die Spannung zwischen Charisma und Institution. Gerade in der sich jetzt bildenden jungen Nordkirche begleitet mich diese Grundfrage der religiösen Institution als ein Dilemma, das sich naturgemäß leichten Lösungen entzieht: wie lässt sich das Unmittelbare organisieren? Wie kann das, was seinem Wesen nach nur Augenblick ist, verklingender Moment, flüchtige Liebesbegegnung, zwanzig paar Kinderschuhe, wie kann das auf Dauer gestellt und in Inszenierungen wiederholbar werden? Wie kann ora zu labora werden, die sich nicht in Geistlosigkeit verliert?
Dazu erhellend wieder einmal Fulbert Steffensky: „Der Geist kommt nicht mit sich selber aus, und er lässt sich nicht in die Innerlichkeit verbannen. Was nicht nach außen dringt; was nicht Form, Aufführung, Geste, Inszenierung, Haus und Figur wird, bleibt blass und ist vom Untergang bedroht. Der Geist, der seinen Ort nicht findet, ist wie eine Musik, die Partitur bleibt und nicht aufgeführt wird.“ (Schwarzbrotspiritualität, Stuttgart 2006, S. 28) Heißt also: Religion muss den Schritt von der inneren zur äußeren Religiosität tun. Das bedeutet also auch für jede Art von Leitung in der Kirche: sie muss die Herzenssprache in der Grammatik des Verstandes aussprechen. Deshalb definiert der praktische Theologe Hans-Martin Gutmann die Aufgabe der Kirchenleitung – die der Landeskirche wie der Kirchengemeinde – so: „Kirchenleitung in evangelischer Perspektive ist die Aufgabe, die Faszination des Anfangs unserer Kirche mit der Alltäglichkeit in der Zeit zu vermitteln“ („sich einsetzen, sich hingeben, sich nicht hergeben. Protestantische Entwürfe zu umstrittenen Lebenshaltungen“, Berlin 2011, S. 162).
Wenn es weiter nichts ist, denke ich und finde, dass dieses Schwarzbrot manchen Knust zum Herumkauen enthält. Ich erlebe es jedenfalls so, dass die öffentliche Repräsentanz der Kirche beispielsweise durch mich als Bischöfin immer eine Gratwanderung ist zwischen Verflüchtigung und Verflachung auf der einen und Erstarrung auf der anderen Seite. Lebendig im Glauben, lebendig also in religiöser Bewegung zu bleiben und zugleich für beständige Verlässlichkeit und Transparenz in unserer Organisation zu stehen, ist eine echte Spannung im Leitungsamt. Und dennoch: Es ist schon auch eine faszinierende Herausforderung, im leitenden geistlichen Amt die Verantwortung dafür zu haben, dass die Freiheit frei bleiben kann, und zugleich dafür, dass auch die äußere und sichtbare Kirche Repräsentanz braucht und Form.
Dazu nun möchte ich als letztes auf drei kleinere, durchaus persönliche Spezifika eingehen, die zugleich einen reformatorischen Blick auf unser Thema werfen sollen:
a) Simul iustus, aber eben auch peccator. Oder: Demut schadet nicht... Als ich meinen Dienst als Bischöfin antrat, bekam ich von einer guten Freundin einen Cartoon von den Peanuts geschenkt. Getitelt: Für die Chefin. Da sieht man Linus mit seiner Schmusedecke, neben ihm sitzt in bekannt strenger Chefinnen-Manier Lucy. Sagt Linus: „Es gibt da etwas, was du wissen solltest!“ „Was denn?“ fragt Lucy zurück. „Die Welt dreht sich nicht um dich.“ Pause. Ein Bild nur Lucy, die Lippen sind ein schmaler Strich. Dreht sie sich zu Linus und sagt: „Du machst Witze.“
Ich weiß ehrlich gar nicht, warum man mir so einen Cartoon schenkt J, aber was ich weiß, ist: Lucy hätte sich eine Beratung gönnen sollen. Eine Beratung – gern auch durch KollegInnen – die einen in der manchmal schwierigen Einsamkeit des Amtes wieder orientiert. Einen zurecht bringt und in eine gesunde Selbstdistanz. Damit man wieder sortiert, worum sich die Welt wirklich drehen sollte. Ich persönlich tue das oft im Gebet. Keine Nabelschau (hoffe ich), sondern Selbstreflexion im Blick auf einen, der mich liebt. Ich finde das absolut befreiend. Und empfinde dies gerade nicht als Begrenzung, indem einem etwa stetig vor Augen geführt würde, wie fehlerhaft, ja eingeschränkt man sei – eben dauernd, simul peccator. Ich erlebe es in der Durchdringung viel mehr auch als simul iusta – heißt: klärend und verändernd und darin ermutigend und hoffnungsdurchdrungen. Und das wiederum fördert positiven Gestaltungswillen. Durchaus als eine positiv verstandene Beschreibung von Macht, zu der das Ora elementar dazu gehört. Weil einem klar wird, dass und wie Menschenwerk durch Gottes Werk ermöglicht wird.
b) Und das schließt ein: die eigene Endlichkeit und Geschichtlichkeit als Geschöpf anzuerkennen. Und für das Leitungsamt heißt das: Konzentration. Nicht gleich 137 Mails checken und dann mal eben die Welt retten. Diese Einsicht tatsächlich umzusetzen fällt mir am schwersten. Weil sich mit dem Leitungsamt auch die Verantwortung so eminent erweitert: Der Fokus ist eben nicht allein Ortsgemeinde oder Diakonieeinrichtung oder Seelsorgebereich oder weltweite Ökumene. Ekklesia ist alles. Die Konkretion und die gedachte Weite. Die Nähe und die Welt. In sichtbarer und unsichtbarer Gestalt. Gebe Gott, dass es genügend Orte des Gebetes gibt!
c) Schließlich, so in der Nordkirche live und in Farbe zu beobachten, führt im Blick auf kirchliche Strukturen das reformatorische Erbe auf vielerlei Weise zu Wiederentdeckungen: „Dass es immer um Funktionen, nicht um Ämter geht, dass alle Christen durch ihre Taufe zu Königen, Priestern und Propheten gesalbt sind, dass Leitung immer Dienstleistung bedeutet, dass die Leitung der Gemeinde letztlich von dieser selbst wahrgenommen wird, dass die Gestaltung von Kirche nicht von außen vorgegeben wird, sondern selbst Ausdruck des Glaubenszeugnisses ist“ (Thorsten Latzel: »Geistlich Leiten« – Versuch einer Begriffsschärfung, in: Geistlich Leiten – Ein Impuls, epd-Dokumentation 6/2012, hrsg. vom Kirchenamt der EKG, S. 6-11, hier S. 10).
Soweit die Theorie.
Die Praxis zeigt, wie sehr es hier „menschelt“. Von allen Seiten. Weil es um mehr geht als um ein Produkt. Eine Fusion. Oder um alte Bekenntnisse. Es geht um Herzensdinge. Kulturen. Um einen selbst. Um Gott. Um die richtige Sprache für all das. Damit sich hier im guten Sinne „ecclesia semper verändert“, bedarf es ehrlicher Verständigung, die ein gutes Maß an echter Beteiligung in der Gemeinde Jesu Christi ermöglicht. Hier und jetzt. Und so kann – und darf – unser kirchliches Arbeiten auch Charme haben. Witz. Spielraum. Erbarmen. „Die Aufgabe, die Faszination des Anfangs im Alltag der andauernden Zeit zu bewahren, wird nur unter einer Bedingung nicht zur heillosen Überforderung: Wenn die Menschen, die in der Kirche mitarbeiten, sich von dieser Faszination auf den Arm nehmen und tragen lassen.“ (Gutmann, ebd)
Wenn also Sie, liebe OthmarschenerInnen, das, was Sie in Gottesdiensten und Andachten hören, beten und singen, nicht als notwendige Pflichtübungen oder als Ausflüge in eine uneigentliche Sprache ansehen, die mit den alltäglichen Geschäften nichts zu tun hat, sondern als das, was das Leben eigentlich trägt – dann lebt eine Kirche, die in dieser Welt etwas zu sagen hat. Gerade dann erwächst etwas aus der Arbeit, wenn wir unser Leben von der grundlosen Güte Gottes tragen und bestimmen lassen. So Gott will.
Ich danke Ihnen.