15. Juli 2012 - Predigt zu Apg 8, 26-39
15. Juli 2012
Liebe Gemeinde!
Zeitgleich vor genau einer Woche durfte ich auf der Kanzel im Berliner Dom stehen. Der ist ja auch sehr imposant, aber natürlich, liebe Lübecker, gar nicht zu vergleichen … Schlicht, weil Dome so unvergleichlich unterschiedlich sind. In ihrer Historie, ihrer Atmosphäre, mit ihren Gemeinden samt all der Fragen, die die Menschen dort hintragen. Doch so unterschiedlich es hier und dort lebt und webt – es gibt Momente, da sind Berliner wie Lübecker gleichermaßen angerührt. Wenn ein kleines Kind getauft wird wie letzten Sonntag zum Beispiel. In solchen Momenten des Segnens legt sich eine feierliche, ja fast zärtliche Stille über all die Verschiedenen und eint sie. Es sind dies Momente, die einen in der Tiefe der Seele erreichen, man weiß gar nicht warum. Die in einem Tränen aufsteigen lassen können und Dankbarkeit darüber, dass man selbst so behütet ist. Und gerade bei der Segnung eines kleinen Kindes scheint jedes Mal die Welt kurz den Atem anzuhalten. Voller ehrfürchtiger Freude über das neue Leben, das da beginnen will. Meine alte, kluge Patentante sagte über diese besonders innigen Momente immer: Dat is, as wenn een Engel dörch de Stuuv geiht.
„Der Engel des Herrn redete zu Philippus: Steh auf und geh!“ Unsere Predigtgeschichte vom Kämmerer aus Äthiopien beginnt auch mit einem Engelsmoment. Wie so oft in einer Biographie – und wohlweislich nicht nur damals in biblischer Zeit – wie so oft mischt sich der Gottesbote an einer entscheidenden Station des Lebensweges ein. Bettelt, bittet, ordnet, träumt sich ins Geschehen, und tatsächlich: Philippus hört ihn und geht. Ahnend, dass etwas neu beginnen will. Und so wird vom ersten Wort an klar, dass die Geschichte von der Begegnung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können, eine von Gott gefügte ist. Es gibt einen Faden in dem Erzählten, den Gott selbst hinein zu weben scheint, ohne dass der lautstark wäre oder sichtbar. So wie eben ein Engel unsichtbar „dörch de Stuuv geiht“ und einen mit seinen Flunken ein wenig stupst, so liebt Gott einen mit dieser Geschichte für einen Moment heraus aus dem Toben der Welt – hinein in eine leise Leichtigkeit, die einen irgendwie froh werden lässt.
Froh. Genau so endet unsere Weggeschichte: „…er aber zog seine Straße fröhlich!“ Was für ein Schlusssatz! Wie können sechs Worte dermaßen Zuversicht in einem auslösen und Gelassenheit, so eine zufriedene Lebensfreude, liebe Gemeinde! Sechs Worte entfalten eine Kraft, die Welt zu umarmen, man weiß gar nicht warum. Und ich schaue dem gebildeten, hoch gewachsenen wie hochdotierten Wirtschaftsexperten aus Äthiopien hinterher, wie er fröhlich seine Straße zieht und denke: Das ist doch wahrlich eine wunderbare Geschichte, die Lukas uns heute auf den Weg gibt. Oder sollte ich besser sagen: wunderlich? Denn wo gibt es das schon? Ein frommer Finanzminister, der in der Bibel liest statt im Haushaltsplan. Ein hoher Staatsbeamter, der für eine Pilgerreise Zeit hat und sein Ministerium für Wochen verlassen kann. Schließich eine Taufe, die nicht ordentlich im Gemeindebüro angemeldet worden ist, sondern spontan am Rande einer Hauptverkehrsstraße stattfindet.
Nun - abgesehen vom Gemeindebüro natürlich - mir kommt in den Sinn, dass es das alles heutzutage sehr wohl gibt. Ich denke an manch hochrangigen Politiker, der die Bibel nicht nur liest, sondern auch über sie redet. Im Kirchentagspräsidium etwa Frank-Walter Steinmeier. Helmut Schmidt gar setzt sich zuletzt kritisch mit der „Religion in der Verantwortung“ auseinander. Und zu den Pilgern der heutigen Zeit gehören zunehmend die wirtschaftlich erfolgreichen Mittfünfziger, deren Herz aus dem Takt eines rasanten ökonomischen Wettlaufs geraten ist. Sie alle denken, reden, pilgern, schreiben Biographien, lesen – weil sie mehr verstehen wollen. Von ihrem Leben. Von dem der anderen. Von Gott.
Verstehst du, was du da liest?, fragt Philippus denn auch just den Kämmerer dort in seinem Wagen. Nein, gibt der kluge Kämmerer zu, woher auch? Er ist neugierig auf die Religion, aber er kennt sie nicht. Er sucht, aber weiß nicht wohin mit seinen vielen Fragen über die wirklich existentiellen Dinge. Es geht ihm wie heutzutage vielen. Sie haben einen teuren, schnellen Wagen, aber keine Religion, die sie hält. Sie haben politische Interessen, aber keine Idee, wo der Sinn liegt und der Horizont, wie man Leiden aushält und die Angst vorm Sterben. Und deshalb versteht der Kämmerer nicht, was er liest. Weil er letztlich noch nicht versteht, was er sucht.
Viele Menschen heutzutage sind deshalb wie der Kämmerer unterwegs. Sie suchen in Büchern, Ratgebern, eben auf Pilgertouren aller Couleur nach Leben, neuem Leben. Religiös. Kulturell. Politisch. Sie machen sich auf, ich bin überzeugt, weil sie sich sehnen. Nach Klarheit. Wahrhaftigkeit. Liebestraum und Himmelszelt. Sie wollen zum Eigentlichen kommen. Weg von dem Wortschwall der Zutexter hin zur Konzentration. Hin zu dem, was einem wirklich etwas sagt. Eine zentrale Botschaft. Doch, verrückt!, da finden viele gar nichts mehr in sich. Kein Sommerlied, das man gelernt. Kein Liebeswort, das man geglaubt. Keine Kraft, die inspiriert, weil sie gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Nein, da ist ein Sehnen nach dem ganz anderen, das über, unter, hinter, in uns ist – aber, verrückt!, die richtigen Worte dafür fehlen. All die alten Bilder der Tradition, etwa solch Prophetenworte vom Gottessohn, der das Leiden auf sich nimmt, oder die biblischen Verheißungen vom Anbruch des Schalom – sie sind unbekannt. So vielen fehlt deshalb die Vision von Gerechtigkeit, die Vision von einem Friedensgebet, das alle Nationen und Religionen eint. So vielen fehlt deshalb das Dach des Segens, die Dimension der Vergebung und des aufrechten Umganges mit Schuld und Scheitern. Und so ist schließlich Gott selbst in unserer Gesellschaft nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Der moderne Mensch ist metaphysisch obdachlos geworden. Und er fühlt das. Er fühlt, dass die Flachbildschirme um ihn herum die Tiefe des Lebens nicht fassen. Fühlt das Gehetzt-sein eines Werkelebens, das keine Sonntagsorte mehr kennt. Und so sucht er Orte, wo Trost ist und Licht. Sucht Heimat für die existentiellen Fragen. Er sucht - und geht. Oder fährt mit einem Wagen. Denn wer sich sehnt, bleibt nicht wo er, wo sie ist. Wer sich sehnt, will, dass sich etwas ändert.
Dem Kämmerer kommt Philippus also gerade recht. Und mag sein, der Engel hat Philippus reich gemacht an richtigen, an Herzensworten; in jedem Fall legt der Kämmerer irgendwann das Buch beiseite. Nicht bis ins Letzte muss er verstehen, sondern ins Allererste christlicher Existenz eintauchen – er will doch nur dorthin, wo er Gott erfahren kann. Wo es leicht ist, klar. Geistreich. Froh. „Was hindert`s also, dass ich mich taufen lasse?“ mit diesen Worten springt der Kämmerer vom Wagen und vertraut sich an.
Dieser Sprung ins Anvertrauen, liebe Gemeinde, hat erst einmal gar nicht viel mit Vernunft zu tun. Vernunft macht einen klug, aber froh? Wirklich froh macht, mit Erich Fried gesprochen, wenn man sagen kann: es ist, was es ist: Liebe. Es ist nicht Berechnung, Einsicht, Lebenserfahrung; es ist, was es ist, sagt die Liebe. Um sie geht es letztlich in unserer Geschichte. Was sage ich: im ganzen Evangelium. Es geht um die wahrhaftige Zuneigung Gottes, die jedes Menschenkind frei macht. Liebe, die unberechenbar, verschwenderisch, hoffnungslaut den Hass in der Welt überwinden will. Und das heißt nicht: Dass man jedes Jota in der Geschichte eines Lebens versteht, sondern dass in einem, dass die Seele etwas verstanden hat von der Liebe, die höher ist als alle Vernunft.
Das braucht es, wenn wir die Straße fröhlich ziehen wollen: Dass wir etwas von der Liebe verstanden haben. Wer z.B. entgegen all der Entwertungen, die unsere Gesellschaft prägen, wer gegen dieses ständige Aburteilen und für dumm erklären jemals das Psalmwort von vorhin für sich angenommen hat: Du bist so wunderbar gemacht!, der oder die hat doch das Evangelium verstanden! Und geht aufrechter durch die Welt! Oder: wenn sich eine Kirchengemeinde in Hamburg gegen eine Bürgerinitiative wehrt, die ob sinkender Grundstückspreise eine Wohngruppe benachteiligter Jugendlicher verhindern will – die hat doch etwas verstanden von der Gerechtigkeit Gottes. Wer entgegen aller Fremden feindlicher Ignoranz erfahren hat, dass er geliebter Gast auf dieser Erde ist, der hat doch etwas verstanden von dem Wert des Dialogs. Schließlich: Wer sich zärtlich geliebt sieht, so runzlig die Hand auch ist, die einen streichelt – der weiß doch, wie wehrlos einen die Liebe machen soll. Wir sind so wunderbar gemacht – wie sollte der kleine wie der große Mensch also nicht das Leben zum Wundern schön finden? Und die Straße fröhlich ziehen? Ohne dass man bis ins letzte versteht, was da mit einem geschieht.
Kein Wunder also, dass es uns bewegt - in Lübeck, Berlin und andernorts - wenn wir mit dem Kreuz auf Stirn oder Hand daran erinnert werden, dass wir wunderbar gemacht! Wenn wir erinnert werden an unseren Ursprung, an unsere Taufe, daran, dass wir geliebt sind und geachtet und gewollt. Gerufen bei unserem Namen, der uns unverwechselbar macht. Fürchte dich nicht, sagt Gott mit seinen Engeln nicht nur dem Kämmerer, sondern jeder und jedem von uns. Fürchte dich nicht. Steh auf und geh! Es liegt so viel vor dir. Sommer, Wonne, Regen, Bücher, Liebeswort, Gemeinschaftsmahl. Und – natürlich - manch Dom und Kirche auf dem Wege. Dort, mag sein, begegnet Ihnen das, was das vergnügte Sommergedicht von Detlev von Liliencron als meinen Schlusssatz formuliert:
Kirche im Sommer
Schläfrig singt der Küster vor,
schläfrig singt auch die Gemeinde.
Auf der Kanzel der Pastor
betet still für seine Feinde.
Dann die Predigt, wunderbar,
eine Predigt ohnegleichen.
Die Baronin weint sogar
im Gestühl, dem wappenreichen.
Amen, Segen, Türen weit
Orgelton und letzter Psalter
Durch die Sommerherrlichkeit
schwirren Schwalben, flattern Falter.
Ziehen Sie Ihre Straße fröhlich, liebe Gemeinde. Einen gesegneten Sommer wünsche ich Ihnen, bewahrt doch der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen