15. November 2012 - Eröffnung der 1. Tagung der 1. Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
15. November 2012
Markus 6, 30 – 44
Liebe Schwestern und Brüder!
Wann war wohl das erste Magenknurren zu hören? Dieses Geräusch, das so unüberhörbar davon spricht, dass der Mensch vielleicht nicht vom Brot allein lebt, aber ohne Brot auf jeden Fall gar nicht?
Oder war es ein erster kühler Luftzug, der eine Gänsehaut verursacht hat bei dem einen oder der anderen. Ein kurzes Schaudern, das den Blick, der bisher wie gebannt an den Lippen des Rabbi Jesus gehangen hatte, weglenkt und auf das schwindende Tageslicht richtet und auf die ziemlich banale Frage: Gibt’s hier eigentlich auch mal ne Abendbrotpause? Immerhin: Die Predigt war lang…
Vielleicht war es auch ein Kind, das anfing zu quengeln und sich nicht mehr beruhigen ließ. Oder die Beine, die vom langen Stehen schmerzen. Der trockene Mund, der einen Schluck Wasser braucht oder auch mehr. Und die Nase, die sich je länger desto weniger der Erkenntnis verschließen kann, dass der Schweiß der Nachbarn zur Rechten und zur Linken allmählich die anfängliche Begeisterung für den mitreißenden Prediger verdrängt.
Wie auch immer, ich bin mir sicher, dass es nicht nur die Jünger waren, die gemerkt hatten, dass es öde ist und der Tag fast vorüber – damals, am See Genezareth, als Fünftausend sich um Jesus und die Seinen versammelt hatten.
Ihn, den Rabbi und Wundertäter aus Nazareth, wollten sie aus der Nähe sehen. Wollten davon hören, dass Gott seine Welt zurecht bringt und seine Menschen nicht alleine lässt. Wollten davon hören, dass nicht das Recht des Stärkeren den Lauf der Welt bestimmt, sondern die Gerechtigkeit, die in den Schwachen mächtig ist.
Es ist eine lange Predigt, die die Versammelten von Jesus zu hören kriegen. Und dafür sind sie gekommen. Dafür haben sie sich auf den Weg gemacht. Und davon – so stelle ich es mir vor – sind sie ergriffen und begeistert. Jedenfalls eine lange Zeit.
Aber am Ende schlägt eben doch die Realität zu – Magenknurren und trockene Kehle und Schweiß. Und die Jünger stellen mit Schrecken fest, dass sie darauf nicht vorbereitet sind. Dass sie nichts zur Hand haben, um mit der Banalität der Bedürfnisse fertig zu werden. Was haben wir jetzt eigentlich zu geben?, fragen sie sich. Oder vielleicht auch: Was hat Jesus eigentlich wirklich zu geben, außer schönen Worten?
Nichts! – denken die Jünger im ersten Moment. Deshalb auch der dezente Hinweis an den Meister: Lass die Leute gehen, damit sie sich mit dem, was sie zum Leben brauchen, anderswo versorgen. Jesus aber fragt nach: Was habt ihr denn zu bieten? Und die Jünger müssen zugeben: Etwas haben wir schon, fünf Brote und zwei Fische. Aber was ist das schon angesichts der großen Herausforderungen?
II
Liebe Schwestern und Brüder!
Wenn ich an die zurückliegenden Monate seit dem 27. Mai 2012 denke, dann gab es schon den einen oder anderen Moment, in dem ich ein bisschen so gefühlt habe wie die Jünger aus der biblischen Erzählung.
Da war der großartige Aufbruch beim Gründungsfest in Ratzeburg. Ein gelungenes Fest unter strahlend blauem Himmel und mit so vielen und vielfältigen Aktivitäten aus allen Regionen Schleswig-Holsteins, Hamburgs und Mecklenburg-Vorpommers, dass das Bild der neuen Kirche wirklich zum Greifen nahe war. Nicht nur das Bild – da war Gemeinschaft der Heiligen, neugierige und glückliche Menschen habe ich getroffen. Gesättigte und mit Freude erfüllte Leute.
Der Gottesdienst im Dom und auf dem Marktplatz, das Ratzeburger Mahl mit tausenden Menschen; die Musik von Gerhard Schöne und Inga Rumpf, die begehbare Landkarte der Nordkirche, die Pavillons der Kirchenkreise und vieles mehr.
Und ich denke an jene völlig übermüdeten, aber glücklichen Menschen, die früh morgens losgezogen waren, um rechtzeitig beim Gottesdienst in Ratzeburg zu sein, um das Fest mitzuerleben: Wie gestärkt sie sich fühlten, als es wieder zurück ging den langen Weg nach Pasewalk.
So sind wir gestartet. Und dann kam der Alltag. Die Banalität der Bedürfnisse. Wer ist jetzt wofür zuständig? Welche Regelungen gelten jetzt? Wie geht das noch mit dem Wahlrecht? Wo findet sich ein Treffpunkt zum Gespräch, der für alle Teilnehmenden einigermaßen zu erreichen ist? Weiß jemand die neue Emailadresse von Bischof Ulrich? Und wenn ja: funktioniert sie?
Und wahrscheinlich gab es oft genug auch die schlichte Frage: Hat sich eigentlich überhaupt was geändert? Von der neuen Kirche ist ja in den Kirchengemeinderäten und den Beiräten der Kindertagesstätten, in Jugendgruppen und Seniorentreffs, am Krankenbett und in den Beratungsstellen nicht viel zu merken, oder? Die alten Probleme sind noch immer da. Die alten Fragen werden noch immer gestellt: Was haben wir als Kirche zu bieten? Was können wir geben? Bei den geringen Mitgliederzahlen in manchen Stadtteilen der Metropole Hamburg und in einigen ländlichen Bereichen Vorpommerns? Bei den kritischen Anfragen, die sich mehren: Warum soll es noch kirchliche Sonderrechte im Arbeitsrecht geben bei einem europaweit sich angleichenden Arbeitsmarkt? Warum soll man am Sonntag nicht der schönsten Nebensache der Welt – dem Shoppen – nachgehen dürfen, wo doch sowieso nur noch die allerwenigsten in die Kirche gehen? Ist die Kirche nicht eine Spaßbremse? Und macht eigentlich ein evangelischer Religionsunterricht noch Sinn, wenn 90 % der Kinder einer Klasse entweder gar keiner Religion angehören oder wenn doch, dann keiner christlichen, geschweige denn der evangelischen Konfession. Was haben wir zu bieten, wenn soziale Netzwerke Begegnung und Verbindung zwischen Menschen schaffen, die über alle Grenzen möglich sind, und wir dann mit dem kleinen Häuflein der Kerngemeinde in Gruppen mit acht bis zwölf Teilnehmern da sitzen? Womöglich auch noch in Gemeindehäusern, die den diskreten Charme der 70iger Jahre verbreiten und dringend renovierungsbedürftig wären. Aber haben wir die Mittel?
III
„Gebt ihr den Menschen das, was sie brauchen!“ – es könnte schon sein, dass diese Aufforderung auch bei uns spontane Verunsicherung hervorruft und fieberhaftes Kopfrechnen – ebenso wie bei den Jüngern in der Erzählung.
Aber Jesus will ja nicht verunsichern. Sondern will den Blick auf das lenken, was da ist. Was habt ihr, das ihr nicht erst besorgen, erwerben, bereitstellen müsst? Weg vom Defizitdenken – das reicht nie; das ist nicht genug. Die alte kirchliche Bremsweisheit: Das haben wir schon alles versucht; das war noch nie so; da könnte ja jeder kommen. Weg von dem eingeübten Defizit-Genörgel. Hin zu einer nüchternen Bestandsaufnahme mit einer Prise Zuversicht. Ihr habt nur wenig? Nur einen Tropfen auf den heißen Stein? Gut – aber doch mehr als nichts. Es ist ein Anfang. Es ist etwas, mit dem man anfangen kann, immerhin. Es ist ein Grund, um aufzublicken, nach oben zu sehen, die Weite des Himmels in den Blich zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass Gott da ist. Und Gott zu danken, dass dieser Anfang da ist, dieses scheinbar unscheinbare Brot – das sich im Blick auf Gott und im Dank an Gott verändert. Denn es wird zu einem „Ihr habt etwas zu geben!“ Es wird zu einer duftenden und schmackhaft gewordenen Zuversicht. Soviel du brauchst…
Da ist nicht mehr die schier unübersehbare Masse und Menge der Anforderungen, die hilflos macht und ratlos und ängstlich und resigniert. Sondern da ist etwas, um es in die Hand zunehmen, zu brechen, weiterzugeben – und merkwürdig, von da an geht es weiter. Das Weitergeben geht weiter. Die Menschen, die kurz zuvor mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt waren, rücken zusammen, geben einander Brot und Fisch weiter, sprechen miteinander, hören zu (hoffentlich jedenfalls), lachen (hoffentlich jedenfalls) und lecken sich die Finger. Sie werden satt. Und es bleibt sogar noch etwas übrig.
Das ist ein Bild von unserer Kirche, das Bild von Gemeinschaft derer, die miteinander unterwegs sind: Sie teilen, was sie mit sich tragen – Glauben, Erfahrungen aus unterschiedlichen Teilen der Geschichte; Lasten, Erkenntnisse. Geschichten. Mut und Sorge. Und so vermehrt sich das Brot: Die Gemeinschaft im Geist wird sichtbar. In dem, was immer schon so war bei dir und bei mir und bei euch und bei uns. Indem es zusammenkommt und doch je eigen bleiben darf, nährt es: Wir tun uns gut, wenn wir davon uns stärken, einander stärken. Jede und jeder hat etwas zu bieten – Eigenes, Ungeahntes, Nie Gesehenes, nie Geglaubtes. Und, klar: immer wieder werden wir denken: Das reicht nicht, was du hast, was ich habe – nie im Leben! Und immer werden wir leben mit der Enttäuschung: Das hätte ich jetzt aber mindestens erwartet…
Jesus hält sich nicht auf bei den Phantasien oder Bildern, die wir übereinander haben. Er fragt nach den Realitäten. Und darin entdeckt er das Göttliche.
IV
Wie das zugegangen ist, damals, auf dem Gras am See Genezareth? Ich weiß es nicht. Ein Wunder? Naja. Eine erfundene Geschichte? Sicherlich auch. Für mich aber vor allem eine Geschichte, die hoffnungsvoll ist und hoffnungsvoll macht. Es ist eine Glaubensgeschichte, weil darin der Glaube Geschichte macht. Weil das Wort Brot wird, und der Dank an Gott zur Fülle; die vielen einzelnen zu einer Gemeinschaft, in der geteilt wird. Weil im Mittelpunkt der Geschichte nicht die Menge, das Übermaß steht, sondern – das Teilen. Das Weitergeben, das aus dem Wenigen viel macht, genug. So, dass niemand sich fürchten muss, zu kurz zu kommen. Oder hungrig zu bleiben.
Eine Geschichte, die den Blick auch darauf lenkt, was wir in der Nordkirche haben und zu bieten haben – angefangen bei jedem Gottesdienst, der in einer Kirche oder Kapelle zwischen Amrum und Anklam gefeiert wird, bis zu den Krankenhäusern und Pflegestationen der Diakonie in unseren drei Bundesländern. Hilfen für Menschen mit Suchtproblemen und Hilfe für Flüchtlinge, die auch in unserem Land noch auf der Flucht sind. Beeindruckende Kirchräume und beeindruckende Chöre, die diese Räume mit Klang und Gotteslob füllen. Ich denke mit Freude an das Chorfest der Nordkirche in Greifswald! Vor allem aber sind es die vielen Menschen, die sich für unsere Kirche und in unserer Kirche engagieren. So viele sind dabei und bringen sich ein.
So viele engagieren sich und stellen Zeit und Kraft zur Verfügung – nicht zuletzt Sie, liebe Synodale, wofür ich an dieser Stelle herzlich Dank sagen möchte. Synode werden Sie mit der heutigen konstituierenden Tagung – wörtlich: syn hodos – ein gemeinsamer Weg – gemeinsam unterwegs unter Gottes Wort, wie damals die Menschen, die gestärkt waren durch Wort und Brot und Gemeinschaft. Und sich dann auf den Weg gemacht haben, um etwas davon in die Welt zu tragen. Um Verantwortung zu übernehmen dafür, dass das Teilen nicht vergessen wird. Dass die Erinnerung an die erlebte Gemeinschaft nicht verblasst, sondern zum Hoffnungszeichen für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt wird.
Ihr habt etwas zu geben. Und wenn ihr gebt, was ihr habt, dann wird es für viele reichen. Unter diesen Zuspruch Jesu will ich unsere beginnende Nordkirche stellen. Im Blick auf diesen Zuspruch will ich uns Christinnen und Christen in dieser Kirche verstehen – als die, die von Gottes Wort angezogen werden, die durch Gottes Wort einander nahegebracht werden und die dann zur Gemeinschaft, zur Gemeinde werden. Zusammen hörend – auf Gott und auf einander. Zusammen essend – wahrscheinlich sogar mehr und anders als nur Brot und Fisch. Zusammen verantwortlich sein für das, was nach dem Essen zu tun ist – nämlich aufstehen und nach Gerechtigkeit suchen und die Welt zu einem Ort zu machen, der Gottes Liebe zu seinen Menschen wiederspiegelt. Und Gott vertrauen. Denn an seinem Segen liegt es.
Martin Luther schreibt zu unserem Bibeltext: „So Gott [seinen Segen] zu dem geringen Vorrat schüttet, den du hast, so wird es dir nicht allein nicht zerrinnen, sondern es muss solchs Segens halben auch überschießen und mehr da bleiben, denn im Anfang da ist gewesen „ (WA 52, 417, 5-7).
Machen wir uns also auf! Auch wenn es scheint, dass wir manchmal nur geringen Vorrat haben. Wenn Gott seinen Segen dazu schüttet, dann kann sich und wird sich Erstaunliches tun und Bemerkenswertes ereignen. Dann nämlich sind wir Kirche – das hörende, hungrige, sitzende, essende, sattwerdende, aufstehende und mit neuer Kraft sich auf den Weg machende Volk Gottes.
Amen.