18. August 2013 - Hauptkirche St. Michaelis

18. August 2013 - 12. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Markus 8, 22-26

18. August 2013 von Kirsten Fehrs

Markus 8, 22-26 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wie-der zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen.

 

Liebe Gemeinde!

Gestern auf der internationalen Gartenschau (igs) beobachte ich eine scheinbar alltägliche Szene. Ein kleiner Junge, vielleicht zwei Jahre alt, verursacht einen kleinen Stau im Menschenstrom. Mit offenem Mund, seinen gelben Ball im Arm, steht er da und guckt. Und guckt. Nichts kann ihn ablenken. Auch nicht, dass die Erwachsenen weiterwollen. Er will aber nicht gehen, er will gucken. Und dann ganz vorsichtig anfassen. Denn da ist (woher auch immer!) ein winziges, zitterndes Kätzchen unter der Hecke. Und der Kleine dreht sich um und sagt nur: Da! Prompt bleiben die Erwachsenen stehen, gucken auch, rätseln, was mit ihr ist. Die Nebensache am Wegesrand, das Zittern der kleinen Kreatur, das Unscheinbare wird für einen Moment zum Mittelpunkt nicht nur der kindlichen Welt.

 

Verrückt hat der Kleine den Blick der Großen. Wie Kinder es doch glücklicherweise oft tun. Denn sie können etwas, was die meisten von uns fast verlernt haben: Sie können staunen. Hingebungsvoll. Mit unerhörter Ausdauer. Völlig zweckfrei. Ohne gleich das Gesehene verstehen, fotografieren, vermessen, kommentieren, einordnen oder ihm abhelfen zu müssen. Staunen ist der unvoreingenommene Blick auf die Welt der Schöpfung. Mit ihren Wundern oder auch Wunderlichkeiten. Es ist der Blick mit Gottes Augen, der diese Welt einst schuf. Mit einer Aufmerksamkeit auch für die Kreatur am Rande. Gestern auf der igs habe ich mich wieder erinnert, wie das geht. Und so konnte ich beispielsweise darüber staunen, wie viel Wasser es auf diesem Globus gibt. Und wie kostbar dennoch diese Ressource ist – angesichts unseres verschwenderischen Umgangs damit. Oder wussten Sie, dass letztlich über 900 Liter Wasser gebraucht werden für 1 Liter Apfelsaft?! Oder, ganz anders, dass die pusselige Hummel mit ihren dermaßen kleinen Flügeln eigentlich nach dem Gesetz der Aerodynamik überhaupt nicht fliegen kann? Zum Glück, liebe Gemeinde, weiß die Hummel das nicht.

 

Das Leben ist zum Wundern schön, denke ich wieder einmal. Und das bedeutet eben auch: Das Alltägliche kann zum Wunder werden. Katzen und Sterne, Straßen und Bäume, gebrechliche Damen und gelbe Bälle. Das zärtliche Gefühl, das einen plötzlich überkommt, das Kind an der Hand – bei all dem ist Staunen erlaubt! Ich muss nicht sofort „klar sehen“, es nicht sofort verstehen, wenn ein Wimpernschlag mich heiß rührt.

 

„Ich sehe Menschen, als wären es Bäume“ – staunt der Blinde. Auf einmal kann er wieder sehen, jedenfalls zunächst etwas. Da ist plötzlich Licht und Farbe und Dinge, die er nicht kennt, obwohl er täglich davon umgeben war. Die leicht verhangene Undeutlichkeit, als Jesus ihm die Augen öffnet, kommt mir gnädig vor. Denn was tut der Blinde mit all den inneren Bildern, die er sich doch sicher im Laufe seines Lebens von seiner Umwelt gemacht hat? Wohin mit seinen Vorstellungen, was einen Menschen für ihn hat schön sein lassen und einen Baum grün? Was passiert, wenn er sieht, wie sie wirklich sind?

 

In der Bibel steht dazu nichts. Aber ich habe leise Zweifel, dass er sich so gefreut hat wie sie hier (Hinweis auf ein Foto). Mit diesen strahlenden Augen hinter der grandiosen Brille. Ihr Lachen ist doch zauberhaft, liebe Gemeinde, fast wie ein Lachen über die Welt der Unbebrillten. Sie kommt aus einem kleinen Dorf in Sri Lanka. Dorthin ist mein Onkel (fast jeder hat ja in der Familie irgendeinen ungewöhnlichen Onkel…) regelmäßig mit seinem karitativen Brillenprojekt*) unterwegs. Die Projektidee ist denkbar einfach: Brillen, die in Deutschland nicht mehr verwendet werden, werden von etlichen Ehrenamtlichen gesammelt, ausgemessen und dann vor Ort gezielt schwer sehbehinderten Menschen angepasst. Doch dieses Anpassen hört sich einfacher an als es ist. Denn die Menschen halten oft die allererste Brille, die man ihnen probehalber aufsetzt, so krampfhaft fest, dass man sie ihnen kaum mehr entreißen kann, um eine bessere zu finden. Ist diese erste Brille noch so unscharf – allein dieses Wunder, die Welt neu entdecken zu können, ist so beglückend, dass es mit sehnsüchtiger Kraft festgehalten wird. Da das Projektteam inzwischen mit viel Erfahrung diese Brillen anzupassen versteht, gibt es weniger Tränen und dafür etliche Fotos, auf denen Menschen lachen wie sie hier – und sei es mit kosmetisch noch so außergewöhnlichen Exemplaren. Das Leben ist zum Wundern schön.

 

Und was nun siehst du? Jesus fragt fast wie ein Arzt und Therapeut. Er nimmt den Blinden beiseite, berührt ihn mit intensiver Körperlichkeit. Ein konzentriertes Geschehen ist das, ungeteilte Zuwendung für einen, der sonst am Rand lebt. „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen“, staunt der. Jesus legt erneut die Hände auf die Augen und – so heißt es mit diesem interessanten Wort:  „Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte“.

Nach und nach erst wird das Bild klarer. Die Menschen und Bäume werden ins rechte Licht gesetzt. Unschärfen verlieren sich, weichen den Realitäten. Heilung, so legt uns der Predigttext nahe, ist kein punktuelles Geschehen. Sie ist ein Prozess, ein Weg. Mag sein, unter uns sind etliche, die das kennen. Die mit Krankheit kämpfen. Mit Brüchen, Schmerzen. Mit Verletzung, die einen kränkt. Immer wieder. Heilung erleben viele als einen sehr, sehr langen Weg. Auf und Ab. Ein Weg, der einem enorm viel abverlangt an Geduld. Disziplin. Kraft, um aufrecht zu bleiben. Auch an Vertrauen – weil man so unglaublich angewiesen ist auf andere. Auf den Arzt. Die Therapeutin. Den Blindenhund. Oder auf Engel. Auf Gott. Man fühlt, wie existentiell das alles ist. Und deshalb liegt manchmal ein Gebet auf den Lippen, auch wenn man´s schon lange nicht mehr kannte. Und: Es kann einem wirklich helfen, zu wissen, dass andere für einen beten. Nachher zum Beispiel. Auch dazu sind wir hier.

 

Heilung ist ein Weg, der einen verändert. Weil es doch meist um mehr als „Gesundheit“ im Sinne eines idealen Zustandes geht. Es geht um die mitunter harte Arbeit, zurecht zu kommen mit sich selbst. Mit den Brüchen an Leib und Seele. Mit dem, was einem so viel Schmerzen bereitet. Was einen blind hält und unklar.

Und Jesus legte erneut die Hände auf die Augen. Der Weg führt einen früher oder später auch nach innen. Deshalb geht Jesus mit dem Blinden heraus aus dem Dorf. Denn nicht alles, was ich neu und schärfer sehe, kann ich erkennen. Oder gar anerkennen. Oder gar schön finden. Wenn ich etwa gewahr werde, wie sehr mich ein Mensch getäuscht hat. Oder wie viel in meinem Leben unerfüllt blieb, das nie betrauert werden durfte. Oder wenn ich sehe, dass so viel kostbare Lebenszeit verschwendet war durch Wut und Neid und Unversöhnlichkeit. Wie viel im Dunklen geblieben ist an Talent und Liebenswürdigkeit.

 

Jesus bleibt bei dem Blinden. Und er bleibt bei dem Sehenden. So lange, bis er zurechtkommt. Irgendwann sagt er: Nun geh! Jedoch nicht zurück in dein Dorf. Sondern in dein neues Leben. Getrost. Denn der Vater im Himmel hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Sie werden dich tragen, dass du deinen Fuß nicht an einem Stein stoßest.

Nun nicht mehr.

 

Manchmal, liebe Gemeinde, braucht es im Leben mehr als eine große, runde Brille fürs gute Sehen. Manchmal braucht es ein helles und rundes Wort, das uns hilft zu leben mit dem, was wir sehen. Dieses Engelwort aus dem Elias von Mendelssohn, dessen Melodie wir eben von den Posaunen wunderbar gehört haben, ist für mich so ein helles rundes Wort. Ist doch dieser Elia, der liebenswerte, treue Prophet, zugleich auch ein Blinder auf seine Art. Blindwütig, um genauer zu sein. Er tötet Tausende. Fundamentalistisch verirrt wie ein Taliban. Oder Muslimbruder. Oder Saulus. Fanatisch geworden für einen Gott, den er missbraucht für seinen Hass und blinden Zorn. Unseren Gott, der doch nicht dieses absurde Töten, sondern Schalom will! Und der will, dass wir Menschen sind, die sich in Liebe anschauen und staunen, dass sie einander zur Sonne des Lebens werden können!

 

Doch in Elia ist es dunkel. Wie bei so vielen Verblendeten. Und in dieser tiefen Malaise, in seiner größten Selbstverzweiflung erinnert sich Gott in sein Leben hinein. Durch das heilsame Wort des Engels. Die zarte Berührung. Die grenzenlose Zuneigung zu dem, der an seinem Unvermögen verzweifelt. Ganz am Rand, die Kreatur. – Doch da wird er nicht bleiben. Dein Weg ist noch weit, sagt er Engel. Also iss und trink. Bring dich zurecht und dann geh. Geh in dein neues Leben. Getrost.

Mit dem Talent, zu sehen, was ist. Auch dich selbst.

 

Aber natürlich nicht nur dich selbst.

Sondern auch das Zittern, die Katze, die alte Dame, den Flüchtling, das Kind. Es geht doch nie allein um das neue Sehen des Einen, sagt unsere Geschichte. Mit Christus zu sein heißt, auch die Welt mit neuen Augen zu sehen. Aufzustehen gegen die Realitäten des Unheils, die so „wüten, rasen, krachen“. Zu vertrauen, wo Misstrauen geschürt. Den Fremden zu lieben, der so ausgiebig von Rechtsradikalen gehasst wird. Mit Christus sein heißt innezuhalten, wenn Schnelligkeit krank macht. Und: Das Herz zu öffnen, wenn einer Obdach sucht.

Gleich heute zum Beispiel, beim Sommerfest von Herz-As. Hier vor der Kirchentür.

 

Und mag sein, wir werden staunen bei diesem Fest, weil es ein Fest des Lebens wird. Mit Christus in der Mitte, der uns anschaut, und in uns erkennt, was Gott schon vor aller Zeit in uns hinein gelegt hat. Mit Christus in unserer Mitte, den wir anschauen und in dem wir Gottes Friede für die Welt erkennen. Und dies im Blick können wir gehen. Getrost. In diese Welt. Sehenden Auges.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

 

 

 

 

 

*) Brillen für Sri Lanka (inzwischen auch Paraguay) ist ein ehrenamtliches Projekt. – Weitere Informationen über die Arbeit des Vereins „Optician Team e.V.“ erteilen Günter Schulz unter 04103/16737 und Wolfram Siegel unter 04101/66161

Datum
18.08.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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