19. Oktober 2013 - St. Nicolaus-Kirche

19. Oktober 2013 - Jubiläumsveranstaltung 150 Jahre Stiftung Alsterdorf „Voilà Kirche!“ zur Neugestaltung der St. Nicolaus-Kirche

19. Oktober 2013 von Kirsten Fehrs

Lieber Hanns-Stephan Haas,

liebe „Kirchenprozessler“ und „Kirchenprozesslerinnen“,

liebe St. Nicolaus-Gemeinde,

nun bin ich das zweite Mal hier als Schirmherrin dieses Kirchenprozesses und das bin ich gern. Zum einen, weil ich mich gerade der Evangelischen Stiftung Alsterdorf verbunden fühle und es wichtig ist, dass verfasste Kirche und Diakonie zusammen stehen in den Herausforderungen dieser Stadt. Zum anderen bin ich sehr neugierig, was sich getan hat seit dem letzten Workshop im Mai. Gerade weil ja schon dort der Plan, die Kirche leer zu räumen, emotionale Bewegung ausgelöst hat. Verständlich, wie ich finde, und so hoffe ich, dass mit meinem Impuls diese Emotionen einen Ort finden und sich aus theologischer Sicht manches Verständigende dazu sagen lässt.

 

Voilà Kirche – das ist jetzt und hier ein (nahezu) leerer, ein nackter, unvertrauter, befremdender, reiner Raum. Oder – das gehört dazu: es ist ein freier Raum. Ein Raum „mit Ohne“:

Ohne Ablenkung, ohne etwas, an dem ich mich stoße, aber auch ohne etwas, woran ich mich halten, mein Blick sich festhalten kann. Es ist ein Raum ohne Kreuz, das mein Kreuz bergen kann. Kein Kreuz, wohinter ich als Person zurücktreten kann. Und so ist die Leere einer Kirche durchaus ambivalent – sie atmet die Freiheit der neuen Sichtweise und sie hat zugleich etwas erschreckend Schutzloses. Es gibt kein „Interieur“, kein Inneres, zu man sich in ein Verhältnis setzen könnte. Es gibt nur noch das ganz Innere: mich selbst. Ich selbst, ganz sichtbar wie ich bin, bin in einem leeren Raum. Und ich frage gleich: leer? Sollte man nicht vielmehr sagen: unsichtbar gefüllt? Mit Geist. Gemeinschaft. Musik. Gottesnähe. Mit Gott, der Einzug halten will – in uns?

 

Mir fällt zum Thema „leere Kirche“ sofort die Mystik ein. Die Mystiker sagen: Du musst innerlich leer werden, damit Gott in dir Raum nehmen kann. Leer von unruhigen Gedanken, dauernder Berauschung, Ichstolz. Nichts kann so sehr den Keim zu einer neuen Fülle enthalten wie die Leere. Indem wir leer werden von all dem, was Gott nicht ist, werden wir voll von der Überfülle Gottes. Die leere Kirche nun ist wie ein Symbol für diese Fülle, dafür, dass wir auf Gottes Fülle angewiesen sind, ja, dass wir diese Fülle schon besitzen und in uns tragen. Die leere Kirche ist sozusagen selbst eine Sprache. Sie sagt, dass Gott direkt und unmittelbar bei uns ist, hautnah, ohne Umwege über andere Dinge und Zeichen.

 

Insofern ist eine leere Kirche vielleicht die radikalste Form, zum Eigentlichen zu kommen. Sie erinnert an die besondere Gottesbegegnung, die Mose hatte, dem Gott in einem brennenden Dornbusch erschienen ist (2. Mose 3). Auf dieses Erlebnis bezogen ließe sich das so sagen: wenn das Feuer der Liebe brennen will, braucht es Luft zum Atmen. Und es braucht die Ehrfurcht des Abstandes – denn: auch das kennen wir aus biblischen Geschichten – die Begegnung mit dem Heiligen, mit dem Geheimnis göttlichen Seins macht auch furchtsam, erschrocken, ist so fremd wie ersehnt. Und deshalb löst eine leere Kirche, weil es in ihr so „zur Sache“ geht, natürlich auch Ängste aus, Befremden und Irritationen. Kein Wunder, dass sie gar ein Rauschen im Blätterwald unserer Medien hervorgerufen hat. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie diese Emotionen und Ambivalenzen in Ihrem Prozess aufnehmen und ihnen Raum geben. Das ist mitunter mühevoll und anstrengend. Aber das ist auch gut: in gewisser Hinsicht muss er mühevoll sein, will er heilsam zu einem neuen Anfang führen.

 

Zumal Sie sich um der Zukunft willen – und das ist eine weitere unterstützenswerte Idee – den dunklen Seiten der Vergangenheit stellen. 150 Jahre ESA ist eben nicht ein schattenfreies Jubeljubiläum: Das Altarbild mit der Aussage von 1938, bestimmte Menschen seien bei Gott „unwürdiger“ als andere, ist und bleibt ein Skandal. Und deshalb darf es nicht unwidersprochen in einer Kirche Raum nehmen. Ich weiß, es hat in der Stiftung heftige Auseinandersetzungen um den richtigen Umgang mit dem Bild gegeben. Manch Vergangenheit schmerzt eben bis in die Gegenwart.

 

Die Lösung bis vor kurzem: man hat versucht, das Anstößige zu verhängen. Und manche fragten (ich auch): ist das nicht ein fatales Verhängnis? Andere fragten umgekehrt: Darf der Vorhang, der den Blick verhüllt und vor dieser verirrten Theologie ja auch schützt, einfach abgenommen werden? Darf „man“ ein Tabu, das ja immer auch Schutz bedeutet, berühren? Hier mussten und müssen Sie mit widerstreitenden Gefühlen umgehen, mit einem inneren Einerseits und Andererseits: ein Prozess, der seine Zeit braucht. Und ob da ein Jahr ausreicht? Sie haben sich entschieden, Ihre „Wunde offen zu legen“, den Vorhang abzuhängen und mit dem Vakuum, das entstanden ist, umzugehen. Und es hat sich gezeigt, dass in Schmerz, Trauer und Irritation auch die Kraft nach Veränderung und Neuanfang steckt. Ganz eindrücklich wurde dies im Mai deutlich an dem wunderbaren Engagement der SchülerInnen, die unter dem Stichwort „Farbe bekennen“ mit Uwe Appold zusammen den alten Vorhang zerstückelt und daraus Neues haben erwachsen lassen: So hängt nun die Friedensbotschaft neu der alten Feindseligkeit vor.

 

In der Leere des Vakuums liegt Kraft. Kraft zur Veränderung. Denn natürlich soll die Kirche nicht leer bleiben. Mit dem Beginn der Adventszeit, in etwas mehr als fünf Wochen, so haben Sie es von Anfang an verabredet, soll die Leere wieder ausgefüllt werden. Wie das dann aussieht, das wissen wir im Moment nicht. Doch was wir jetzt wissen ist, dass die leere Kirche wie von selbst eine Kirchenlehre nach sich zieht. Sie führt nämlich zu der Frage: was benötigen wir eigentlich für unserer Gottesdienste? Welche Funktion und welchen Zweck hat z. B. ein Altar? Und daran anschließend gleich die Frage: wie sieht „mein“ Altar aus, der Altar, der mich innerlich ausrichtet und zugleich frei sein lässt? Denn eine Kirche redet nicht allein von heiligen Dingen – mit ihrer Kunst zum Beispiel. Sie ist selbst ein Raum des Heiligen. Von jeher empfindet dies der Mensch, wenn er eine Kirche betritt, die Nähe zum Numinosen. Er fühlt, dass ihn etwas umfängt, was in still werden lässt. Kirchen reden vom Heiligen und seiner Erhabenheit ohne Worte. Kirchen sind in ihrer ganzen architektonischen Komposition etwas wie eine Sprache. Z. B. der Turm als Fingerzeig, dass göttliche Macht in mein Leben einwirkt und dass ich eingebunden bin in ein größeres Ganzes. Der Taufstein am Eingang als Erinnerung an meinen Eintritt ins Christentum und als Zeichen, dass jedes Leben von Anfang an von Gott geliebt ist. Die Stufen als ganz bewusste Schwellengrenzen auf dem Weg zum Altar. Der Altar als Grenzstein, an dem Immanenz und Transzendenz Gottes zusammenkommen. Oder die Glocken: Dass Gott uns dient – dazu rufen sie jeden Sonntag. Dass er uns in der Not beisteht, dazu erklingen sie bei Gefahr und Bedrängnis – wie beispielsweise damals bei den Sturmfluten.

 

Wegen dieser Vielfalt an Bedeutung ist vielen Menschen „ihre“ Kirche heilig. Sie ist ihnen Lebensbegleiterin an existentiellen Umbrüchen geworden und damit Herzstück heilsamer Erinnerung. Deshalb sind Veränderungsprozesse wie dieser hochemotional und konfliktreich – und gehen leider nie ohne Verletzungen vonstatten. Eben diese Verletzungen und Ängste mit zu berücksichtigen, zu betrauern, ihnen Raum zu geben: auch das ist eine wichtige Aufgabe Ihres Kirchenprozesses. Die Irritation etwa darüber, dass Jugendliche das Kirchengestühl aus der Kirche tragen. Und dass darunter auch Moslems sind. Ja, natürlich, sie sind dazu offiziell beauftragt, sie vollziehen Hausmeisterdienste; dafür werden sie bezahlt und sie haben auch ganz schön zu schleppen am soliden Gestühl – 19tes Jahrhundert eben. Aber wenn man es als Bild der beiden Religionen sieht, wie die eine das Gotteshaus der anderen leerräumt: das kann auch irritieren. Und das verstehe ich. Auch diese Sorge und Verunsicherung hat Raum in Ihrem Kirchenprozess. Und das ist auch deshalb wichtig, weil vom interreligiösen Dialog und Friedlichkeit schnell geredet wird, selten aber gesehen wird, was das im Alltag wirklich bedeutet. Meine Erfahrung im interreligiösen Gespräch aber ist ausnahmslos diese: die Empfindlichkeiten, wenn man sie klar anspricht, werden von der jeweils anderen Religion mit großem Respekt anerkannt. Doch man muss darum und überhaupt voneinander wissen, um zu dieser Anerkennung zu kommen, muss auch – voilà – leer werden von Klischees und Ärger und irrigen Unterstellungen, was Menschen anderer Religionen angeblich glauben und meinen. Ihr Kirchenprozess besitzt also auch eine interreligiöse Chance – und ich hoffe, dass sie zur Bereicherung führt. Mein Bild dafür: vor einiger Zeit sah ich, wie eine dritte Schulklasse eine evangelische Kirche besuchte. In der Klasse waren etwa die Hälfte muslimische Kinder – und was taten sie? Sie zogen wie selbstverständlich ihre Schuhe aus. Vor der Tür zum Kirchenschiff 20 Paar kleine Schuhe. Ausgezogen aus Respekt vor dem heiligen Raum. Was für ein Bild! Und welche Kraft liegt darin!

 

Liebe Gemeinde der St. Nicolaus-Kirche, zu Ihrem Kirchenprozess kann man nur sagen: Voilà und Chapeau. Sie vollziehen einen Veränderungsprozess, der gleichermaßen radikal wie umsichtig ist, grundsätzlich und bedächtig, der an die Wurzel geht und das Herz erreicht. Dieser Prozess ist damit nicht nur der Umbau eines Innenraums einer Kirche. Er kann letztlich auch als Antwort auf die Frage verstanden werden, wie wir in unserer Stadt Kirche sein wollen. Es geht um eine Positionierung dieser Kirche in der Stiftung, im Quartier und gerade mit Blick auf die inklusive Gemeinde, die hier beheimatet ist, in der Stadtgesellschaft. Es geht um eine neue Idee des Miteinander, die als Kirche Raum nehmen – und geben! – will. Und das ist ein Wagnis mit Lust. Mit dem Wissen um Ihre Vergangenheit im Gepäck machen Sie sich auf in eine noch unbekannte Zukunft. Aber Sie wissen schon mehr als am Anfang des Prozesses. Es ist gut, dabei Zeugin zu sein. Und so danke ich Ihnen dafür und wünsche für den Weg Gottes Segen. Segen der hier schon längst mit seiner ganzen Fülle wirkt.

Datum
19.10.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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