Hauptkirche St. Michaelis

21. Oktober 2012 - Gottesdienst anlässlich des 250. Jubiläums

22. Oktober 2012 von Kirsten Fehrs

Gedenktag der Kirchweihe Predigt zu Lukas 19, 1-9 und Psalm 84,12

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen

 

Liebe Festgemeinde!

Komm wieder, Herr, zu der Menge der Tausenden! Davon singt der Chor in diesem eigens für die Einweihung 1762 komponierten Telemann Oratorium, barock durch und durch. So wie es „Schöner“ kaum sein kann. Komm, Herr, in unser Lebenshaus, davon spricht in fast zärtlichem Grundton auch das Evangelium. Komm in diese Welt mit ihren Verlorenheiten. Kein Zufall ist´s, dass diese Geschichte von Zachäus bei jedem Kirchweihjubiläum gelesen wird. Denn im Licht dieser Worte und im Licht dieser Mauern sind wir von Gott in Freuden aufgenommen – 250 Jahre nun schon in unserem Michel, dem Wahrzeichen dieser Stadt, das wie Hamburg offen ist für alle Welt. Und so steht der Engel Michael, den zornigen Bränden immer wieder trotzend, gerade und aufrecht dafür, ausnahmslos jeden Gast auf dieser Erde unter seine Fittiche zu nehmen: Jung und Alt, am Neu- und Rathausmarkt, Hafenarbeiter, Seemannsfrau und Touristengast, Bäckerinnung und Bankier, Verschiedene und Gleichgesinnte, Orgelfreundin und Kriegsgegner, Traurige und Suchende, so viele Menschen jeden Tag. Und so steht der Michel auch als ein wahres Zeichen für die wahre Gemeinde Jesu Christi.  Gemeinde, die geholfen hat, wo Not sich zeigt, die mit trägt, wo die Kraft gefehlt, die von Liebe sprach, als der Hass regierte. Gemeinde, deren Türmer nicht aufhört, den Friedenschoral über die Dächer zu blasen, weil die Welt doch immer noch brennt.

„Tempel, den die Lieb´ erbauet“, heißt es als Kontrapunkt in dem Oratorium, „steh im Segen. Sei geliebt.“ Denn die Liebe ist´s, die aufbaut. Immer wieder. Deshalb bedenken wir heute eine der schönsten Liebesgeschichten der Bibel. Es ist die Geschichte eines grimmigen Karrieristen, der so positiv erschüttert wird, dass er sich wandelt. Doch zunächst ist er einer, der die anderen permanent übervorteilt. Entsprechend wird er allseits angefeindet und gilt als ungläubig und korrupt -  ein kleiner Mensch eben. Er hat viel Geld und Macht, doch er wird und wird nicht größer. Oder bedeutsamer. Im Gegenteil. Man sagt über ihn das Grausamste, was man über einen Menschen sagen kann: dass er klein sei. Erbärmlich. Ohne Größe. Einer, der sein Anrecht auf Zuwendung verspielt hat. Allemal die Zuwendung dieses Jesus, von dem man sich ersehnt, er bringe Heilung und Erbarmen.

Doch Zachäus ist unbeirrbar. Getrieben – ja wovon eigentlich? Von einer Sehnsucht nach etwas Heilsamen, wie sie heutzutage so viele in sich tragen? Will er deshalb diesen Christus sehen und berühren? Oder will vielmehr er gesehen werden und berührt? Endlich ein wenig Hochachtung – für den kleinen Menschen. Und so geht, ja läuft er zielstrebig auf einen Baum zu, der ihn hoch über alle erhebt. So clever, dieser Zachäus. Und doch so verloren. Denn er erkennt, oben auf diesem Baum, wie weit er sich entfernt hat von dem, was wirklich etwas wert ist, nämlich: Achtung auf Augenhöhe. Bodenhaftung. Ein gegenseitiges Anerkennen.

Da sitzt er nun – und ist uns vielleicht gar nicht so fern? Wer wüsste nichts von diesem Sehnen nach einem anerkennenden Wort? Oder, auch das steckt in dem Bild: wer kennte nicht das Gefühl, dass manchmal Abstand not tut, um zu erkennen, was man genau braucht?  Wie wichtig ist doch ab und zu ein Ort innerer Einkehr, sozusagen ein Baum der Selbsterkenntnis! Oder gern auch eine Kirchenbank aus gutem Holz. Um wieder zu Recht zu kommen. Um etwas zu verarbeiten, was uns verstört hat oder bitter gemacht. Um zu trauern, zu danken, ein Licht anzuzünden – einfach Ruhe zu haben, um den roten Lebensfaden wieder aufzunehmen, den man (- man weiß gar nicht wie?! - ) verloren hat.

Wie viele Menschen haben das hier in dieser Kirche in den letzten 250Jahren getan! Haben sich mit ihren Gebeten, mit ihrem Kyrie und ihrem Halleluja aufgenommen, zu Hause gefühlt. Haben hier ihre Tränen über Krieg, Feuer und Zerstörung, ihre Ängste vor Krankheit und Schwäche, ihren Schmerz über den Tod des Geliebten hingetragen. Wie viele haben ihrer Seligkeit über die gesunde Geburt ihres Kindes oder über die Liebe ihres Lebens heiter Luft gemacht. Wie viele Momente des Anvertrauens binden diese Mauern ein – hat doch jeder Mensch wie Zachäus an besonderen Wendungen seines Lebens das Bedürfnis nach Bilanz, Klärung, danach, ins Reine zu kommen.

Und dann und wann mag Gott sich neben einen gesetzt haben, direkt neben einen in die Kirchenbank. Still. Hell. Unerkannt. Als Friede höher denn alle Vernunft. Und er hat einen erkennen lassen, worauf es wirklich ankommt: Auf die Nächsten. Die Liebe. Freundschaft. Die Ehrlichkeit. Die wahren Zeichen einer humanen Stadt. Und dann, aufgenommen in dieses Licht, mag einem auch eingeleuchtet haben, was nicht mehr stimmt mit einem. Dass man an Geradheit verloren oder Menschen verletzt hat. Oder dass man sich selbst Gewalt antut, so wie man lebt und arbeitet. Dass man sich entfernt hat von sich selbst, entfremdet ist von sich und allemal entfremdet von Gott. Das Evangelium nennt das mit dem altertümlichen Begriff der Sünde. Wir sind Sünder allzumal. Nicht um uns zu klein zu machen, steht das da, sondern uns zu befreien. Indem wir nämlich zugestehen, was stimmt und was nicht, verändert sich die Realität unweigerlich, und wir klettern anders von dem Baum herunter als wir ihn hinaufgestiegen sind.

Darum geht es, liebe Festgemeinde. Wir sollen anders aus diesem Gotteshaus heraus gehen, als wir hinein gegangen sind. Friedvoll. Gesegnet. Denn „Gott, der Herr, ist Sonne und Schild“. Nicht umsonst begrüßt uns schon am großen Portal des Michel dies Psalmwort, das seit der Einweihungspredigt vor 250 Jahren zum Motto der Michelgemeinde geworden ist. Und tatsächlich – Sonne! -  treten wir mit diesem Wort im Rücken prompt ein in einen sagenhaften, von Licht durchfluteten Raum. Und wir sehen die Taufe und das Kreuz und sollen in diese Erleichterung eintauchen, die heißt: von Beginn unseres Lebens an, vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer sind wir gnädig angeschaut. Von Christus, der Gnadensonne. Auch wenn uns klein fühlen und beschämt, wenn wir Schuld auf uns geladen haben und Ängste in uns zittern.  Friede sei mit euch, sagt dieser Raum Christi – und hält uns. Er hält uns damit auch aufrecht in unserem Friedenswillen für die Welt. Auch wenn es in ihr tobt und zittert – es gibt eine andere Wirklichkeit, die von Licht spricht und Befreiung und gnädigem Schuldenerlass. In diesem Raum Gottes rücken die Dinge der Welt in ein anderes Licht. Warum also sollten sie hier nicht einkehren, liebe Festgemeinde? All die, die das weltlich Ding bewegt? Die sich Gedanken machen um Politik, Wirtschaft und Finanzmarkt, die klarer sehen wollen und auf Foren um Lösungen ringen. Die etwas neu erkennen wollen wie Zachäus dort auf seinem Baum?

 

Und Jesus kam zu diesem Baum und „sprach: Zachäus, steig eilend herunter. Denn ich muss heute in deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.“

Jesus sieht genau hin. Und sieht den, der gesehen werden will. Er holt ihn von seiner Verstiegenheit auf Augenhöhe herunter und macht Zachäus zu einem Angesehenen. Folge: Zachäus ist so froh. Gar liebeswillig. Und so will er gleich allen, die er betrogen hat, das Vierfache zurückgeben. Zachäus will ins Reine kommen.

Doch so einfach ist das für die anderen nicht. „Als sie das sahen, murrten sie: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“

Das ist doch erstaunlich, liebe Gemeinde! Nicht Zachäus, Jesus empört die Seelen! Denn er überbringt die Liebeserklärung Gottes zuallererst nicht den Frommen, sondern dem Verlorenen. Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und glücklich zu machen, was verloren ist. Das ist die Revolution des wirklich Heilsamen: Gottes Liebe ist im Sinne des Wortes insofern „radikal“, als sie „an die Wurzel geht“. Sie setzt gerade beim Unvollkommenen in uns an, beim Unbarmherzigen, beim Schuldhaften, beim Neid. Und so ist sie deshalb heilsam: sie sucht die Gewalt zu überwinden anstatt sie zu rächen. Heilsam ist die unbeirrbare Hoffnung, dass es Versöhnung gibt, sagt Christus uns damit. Heilsam ist die geduldige Übung sich zu einigen, auch wenn es manchmal sagenhaft anstrengend ist. Heilsam ist der Widerstand gegen Zertrennung und Ausgrenzung  – aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion. Heilsam ist die freundschaftliche Annäherung, auch für den fremdesten Gast. Wir Christen haben in dieser sich verändernden und religiös sehnsüchtigen Welt also eine Aufgabe: Dass wir der Botschaft von dieser Liebe Gottes Gehör verschaffen. Dass wir angesichts von Zerbrochenheiten davon reden, was aufbaut. Dass wir Räume öffnen, Kirchräume wie diesen hier, damit Menschen wieder hoffen. Damit sie sich mit all den Warumfragen ihrer Existenz aufgehoben fühlen wie in Abrahams Schoß. Und in all dem sollen und können wir christlichen Kirchen in dieser Welt zeigen, dass unser Glaube die private Überschaubarkeit sprengt: Denn der Himmel Gottes ist universal und unfassbar weit.

Ich bin froh, dass in dieser Gemeinde so viele auf dem Weg waren und sind, mit Christus zu suchen, was verloren ist. Die ein weites Herz haben und sagen: Wir nehmen dich in Freuden auf. Arm, reich, schwarz, weiß, groß, klein, Sie – und so liebevolle immer auch mich. Danke sage ich dafür. Danke liebe Haupt- und andere Pastoren, Oberalte und Choristen, Haupt- und Ehrenamtliche, Michelfreunde, Orgelkünstler und Stifterinnen. So viele haben an diesem Haus Gottes mit gebaut, damit es ein Ort der Liebe ist, die das Schwere überwinden hilft. Ich bin Gott dankbar für sie, die sie in der Vergangenheit bis zum heutigen Tag gezeigt haben, dass Gott selbst uns in Freuden aufnimmt. Hier an diesem Ort, schön durch die Hand der Liebe, singt der Chor gleich. Danke, mein Michel. Danke und sei gesegnet, mein Michel, Herberge Gottes, die uns schon jetzt etwas ahnen lässt von dem Ort, wo einst kein Leid mehr sein wird und keine Tränen. Und wo er ist: der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Datum
22.10.2012
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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