22. März 2012 - "Du bist nicht allein" - Predigt im Gedenkgottesdienst für Gewaltopfer in Zusammenarbeit mit dem Weissen Ring e.V. Schleswig-Holstein
27. April 2012
Der Gott des Friedens und der Barmherzigkeit sei mit uns allen. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, zwei Zeitungsnotizen der letzten Zeit: Die 1.: Überfall auf eine Spielhalle: Mit Perücke und Brille maskiert, überrascht der Täter die Aufsicht. Er klingelt, hält ihr eine Pistole vor die Brust und ruft „Überfall“. Sie fällt in Ohnmacht und prallt mit dem Rücken auf den Boden. Der Räuber hilft ihr auf, weil er die Kasse nicht öffnen kann. Er füllt die Beute, etwa 500 Euro, in eine Tüte und warnt die Frau, die Polizei zu rufen.
Dann stürmt er hinaus, wo zwei Komplizen im Auto warten. Die Aufsicht erleidet eine Gehirnerschütterung, hat wochenlang Schmerzen. Nachdem er gefasst wurde, entschuldigte sich der jungeTäter bei der Frau. „Du wirst verstehen, dass ich das nicht einfach so wegstecken kann“, sagt sie.
(Und die zweite Meldung:)
Einbruch im Seniorenwohnheim: Dreiste Einbrecher drangen in der Nacht in den Verwaltungstrakt des Senioren- und Pflegeheims ein, stahlen Geld und Schmuck der Bewohner und hinterließen eine Schneise der Verwüstung.
Der Schaden ist immens - und auch die Traurigkeit bei den Betroffenen.
Liebe Gemeinde,
zwei ganz unterschiedliche Situationen. In der einen sind die körperlichen und psychischen Folgen der Tat weit höher als der materielle Schaden. In der anderen gibt es glücklicherweise keine körperlichen Schäden, aber die Angst vor einem erneuten Einbruch. Der materielle und ideelle Schaden der Tat wird langwierige Folgen für die Betroffenen haben. Viele von Ihnen, die Sie heute gekommen sind, wissen genau, wie man sich in einer solchen Situation fühlt. Sie kennen die Angst, die Ohnmacht, die Wut, den Schmerz.
„Wenn alle den Täter jagen, wer kümmert sich dann um die Opfer?“ So fragt der WEISSE RING“ seit mehr als drei Jahrzehnten. Wer ist da, um dieses Angst, den Schmerz mitzuertragen? Wer hilft, die inneren und äußeren Wunden zu versorgen, das innere und äußere Chaos zu ordnen?
Wer ist da, wer schaut hin, wenn ein Mensch Opfer einer Straftat wird?
Eine der bekanntesten Jesus-Erzählungen im Neuen Testament berichtet von genau so einem Fall. Jesus erzählt: Einer fällt unter die Räuber. Sie prügeln ihn halbtot und rauben ihn aus. Halbnackt und blutend bleibt er liegen. Drei Passanten kommen ganz zufällig des Weges. Der erste, ein Priester, schaut weg und schnell geht weiter. Der zweite, ein Tempelsänger, schaut weg und geht schnell weiter.
Schließlich kommt der dritte des Weges. Es ist ein Mann aus Samaria. Also ein Andersgläubiger, ein Ausländer, in den Begriffen der damaligen Zeit.
Der schaut nicht weg. Er sieht hin. Er geht nicht weiter. Er kümmert sich um den Verletzten. Hilft ihm auf, versorgt seine Wunden. Spricht mit ihm, hört ihm zu. Bringt ihn in die nächste Herberge, zahlt die Übernachtung und lässt ihm noch Zehrgeld da. Und bittet den Wirt, sich weiterhin um den Zusammengeschlagenen und Ausgeraubten zu kümmern, bis er wieder bei Kräften ist.
War dieser „barmherzige Samariter“, nicht der Ur-Ur-Ur-Ahn der Helferinnen und Helfer des WEISSEN RINGES und all der anderen Menschen, die Opfern von Kriminalität und Gewalt beistehen?
Sie kennen den Satz, mit dem Jesus diese Beispielgeschichte zum Thema „Nächstenliebe“ beendet? Er sagt zu denen, die ihm zuhören: „Geh hin und tue desgleichen.“
Also: Mach das auch so. Schau nicht weg, wenn einer unter die Räuber gefallen ist. Du weißt doch: Die patzige Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ kommt aus dem Mund des Brudermörders Kain, des ersten Gewalttäters, von dem die Bibel spricht.
Also: Lass Deinen Menschenbruder und deine Menschenschwester nicht allein. Schau nicht weg. Geh hin und hilf. Geh hin und kümmere Dich. Fass Dir ein Herz, aber denke auch an die Regeln der Zivilcourage: Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen. Ich schweige nicht, sondern fordere andere direkt zur Mithilfe auf. Ich schaue genau hin und präge mir Tätermerkmale ein. Und weiter dann: Ich hole Hilfe über 110. Ich kümmere mich um Opfer. Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung.
Liebe Gemeinde,
„Courage“, Mut, auch Zivilcourage, kommt vom französischen „Coeur“, von dem Begriff „Herz“ her.
Es geht um den Mut des Herzens. Um den Mut und die Augen der Liebe. Man sieht nur mit dem Herzen gut, so heißt es, und genauso ist es. Hin-sehen, hin-gehen und nicht alleine lassen: das braucht nicht nur offene Augen, es braucht genauso ein offenes, mutiges Herz. Den Mut der Liebe und den Mut zur Liebe. Und auch den Mut, diese Zuwendung anderer, mir vielleicht fremder Menschen, anzunehmen.
Wir alle kennen das:
Wenn Du einsam und verdüstert bist, Dich von Gott und der Welt verlassen fühlst - dann sinkt dein ganzer Mut, auch dein Lebensmut geht auf Null.
Aber wenn Du spürst: ich bin nicht allein, da sind andere an meiner Seite. Die gehen nicht weg. Auf die kann ich mich verlassen. Die halten mich aus. Wenn Du das spürst, dann kann es tief innen wieder hell werden. Dann wächst dein Vertrauen, dein Herz wird fest und dein Schritt wieder sicher.
Deine Angst schwindet mit der Zeit, und Du kannst aufrecht, offen und getrost deinen Weg gehen. Getragen von Vertrauen, Hoffnung und Liebe: Was auch immer geschehen ist, es lohnt, sich in das Leben zurückzukämpfen, denn das Leben bleibt Dein Leben, kein anderer hat das Recht, Dir Deine Lebensfreude, Deinen Lebensmut zu nehmen.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Du bist nicht allein!“ heißt das Leitwort unseres Gottesdienstes. Das ist ein Signal. Es bündelt die Botschaft, die heute, am 22. März, dem Tag der Kriminalitätsopfer, von diesem Gottesdienst ausgehen soll.
Hab keine Angst: Du bist nicht allein!
Andere stehen Dir zur Seite. Sie meinen es ernst. Sie gehen nicht weg. Sie lassen Dich nicht fallen, sie helfen und beraten und stützen dich, und nehmen Dich in den Arm - darauf kannst Du Dich verlassen.
Du bist nicht allein! - das versprechen Dir die Menschen, die heute hierher gekommen sind zum Singen, Beten und Hören. Sie haben nicht nur offene Ohren und Augen, sie haben ein offenes Herz und ein bundesweites Telefon, das Du getrost anrufen darfst: 116 006.
Hab keine Angst: Du bist nicht allein! - das verspricht Dir auch ein anderer.
Kein vergänglicher Mensch. Der Ewige, unser Gott selbst, verspricht es Dir. Er sagt: Du, ja Du bist gemeint. Du selbst. Du bist nicht verlassen. Auch wenn es dir so vorkommen mag – nach dem Schrecklichen, was Du erlebt hast und das Dir andere Menschen angetan haben.
Ich meine Dich und ich meine es ernst. Du bist und bleibst mein Kind. Mein Augapfel. Vertraue darauf: Du bist nicht allein! Ich habe Dich nicht verlassen.
Es gibt Lese-Worte, und es gibt Lebens-Worte, hat Martin Luther einmal gesagt. Lebensspendende, Leben schaffende Worte, die meine Seele berühren, dort Wurzeln schlagen, die mich Welt, Leben, Dasein in einem neuen Licht, in einer neuen Wärme und mit neuem Mut sehen lassen.
Für Generationen von Menschen ist ein Satz der Bibel zu so einem Lebenswort geworden. Unzählige Male gebetet, gesungen, mit Tränen erstickter Stimme geflüstert. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln? ER weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immer dar.
Amen.