22. September 2012 - Gottesdienst der Evangelischen Schulstiftung Mecklenburg-Nordelbien
22. September 2012
Predigt zu Markus 10, 13 – 16
Liebe Schwestern und Brüder!
I
Vor nun sieben Monaten bin ich Großvater geworden. Paula ist da! Ein kleines Wesen und großes Wunder. Und ich sehe mit Staunen, wie sie die Welt um sich herum entdeckt; wie sie sich selber entdeckt. Wie sie lernt. Wie sie fordert. Wie sie wächst.
Und ich sehe neu, noch einmal ganz anders als früher als Vater: dieses Leben ist stark – und es ist ungeheuer zart und zerbrechlich zugleich. Dieses Wesen hat seinen eigenen Willen. Und es ist doch ganz angewiesen auf die Menschen in seiner Nähe: dass es bekommt, was es braucht. Dass es erfährt, wie wertvoll es ist. Dass die Gesichter freundlich über Paula leuchten.
Das Lernen hat begonnen für Paula, seit sie den ersten Schrei tat. Und damit hat auch für uns erneut das Lernen begonnen: wir lernen neu, die Welt zu entdecken und uns selbst auch. Und unser Sohn und unsere Schwiegertochter lernen nun, eine Familie zu sein, ganz andere Verantwortung zu tragen für das Leben – das von Paula und das eigene. Das Leben, unser Leben, hat eine neue Mitte bekommen: Paula. Gott stellt sie in die Mitte. Und er sagt: das ist Leben. Und es ist sehr gut.
Was das zu tun hat mit der Schulstiftung?
Jeder und jede, der oder die über Bildung nachdenkt, muss am Anfang anfangen. Muss fragen: was ist der Mensch? Wie ist er gedacht? Was braucht der Mensch, um sein Leben zu entfalten ohne Angst und in Würde, die ihm geschenkt ist? Da, am Anfang, ist der Grund gelegt für ein Curriculum des lebenslangen Lernens, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern umfassend nach dem Bild des Menschen bildet, das uns gegeben und vor Augen gestellt ist. Für uns Christen ist das das Bild vom Menschen, das Jesus selbst meint, wenn er die Kinder in die Mitte stellt, wenn er sie uns als Vorbilder im vollen Sinn des Wortes vor Augen und in den Sinn malt.
Familien sind auf dem Weg zu Jesus. Wollen den sehen, von dem man redet, der Wunder tut und heilsame Dinge erzählt. Sie wissen, die Menschen da auf dem Weg: Kinder brauchen mehr als menschliche Zuwendung. Sie brauchen Kraft, die höher ist als unsere Vernunft. Und wir, die Familien, die Verantwortung tragen, brauchen Entlastung, Vergewisserung: es liegt nicht an uns allein, dass die Kinder groß und stark und frei und mutig bleiben! Die Kinder brauchen noch andere Quellen der Kraft: Sie brauchen Segen. Brauchen es, dass einer sie ermutigt, auf die eigenen Füße zu kommen, zu gehen ihren Weg, zu finden den eigenen Pfad. Brauchen einen, der sendet. Müssen nicht nur mit der Familie, sondern auch mit Gott groß werden können. Das jedenfalls treibt die Menschen damals zu Jesus, dass er sie segnet. Und der Segen fängt damit an, dass Jesus sich durchsetzt gegen jene, die sie wegschicken wollen: zu unwichtig, zu klein, können noch nichts verstehen. Nein, nichts Wichtigeres gibt es, als sie, die da kommen und mitbringen die Fülle des Lebens.
Es ist dies eine Geschichte, die von inniger, unerschrockener Beziehung handelt: Jesus wendet sich den Kindern und denen, die sie bringen zu, ganz und gar. Ohne Bedingungen. Ohne Zaudern. Ohne Erwartungen.
Bildungsgeschichten, Geschichten vom Lernen, sind Beziehungsgeschichten. Bildung, Lernen: das ist immer zuerst und vor allem Beziehungsarbeit, Lust, dem anderen zu begegnen, zu nehmen von dem anderen, egal wie groß, schlau, alt oder jung er ist. Und Lust, sich dem anderen zu zeigen. Es gibt kein Lernen ohne Zuwendung, ehrliche Zuwendung. Geht nicht ohne Anrührung: „er rührte sie an“, sagt die Geschichte von Jesus. Wer lernen will oder lehren, der muss sich anrühren lassen. Der muss anrühren wollen.
Darum genau schicken wir, die wir Jesus nachfolgen, Familien und Kinder nicht weg. Die kommen und fragen nach Segen oder segensreichem Lernen. Darum ist es gut und richtig, dass wir als Kirche unseren Beitrag leisten für das Lernen der Menschen – mit Kindertagesstätten, mit dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, mit den Schulen in eigener Trägerschaft. Weil wir geleitet sind von dem Menschenbild der Bibel, das uns lehrt, dass die Würde des Menschen, jenes unantastbare Gut, nicht aus dem wächst, was einer kann und leistet, sondern dass diese Würde geschenkt ist von dem Schöpfer allen Lebens selbst. Nicht erworben werden muss Würde, sondern sie ist da.
Der Theologe Fulbert Steffensky hat es einmal so ausgedrückt: „Ein zentraler Gedanke unserer Tradition ist die Lehre von der Gnade. Dieser Gedanke heißt nicht, dass Gott groß ist, der Mensch aber klein und dass dieser Höhenunterschied durch die Gnade ausgeglichen wird. Diese Tradition heißt vielmehr: das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht selber herstellen – nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung. Wir sind davon befreit, unsere eigenen Autoren zu sein. Wir sind davon befreit, uns in der eigenen Hand zu bergen.“
Die Wiederentdeckung der Reformation war die Wiederentdeckung dieses Menschenbildes in der biblischen Tradition: Ein Mensch ist mehr als er kann und soll!
Genau darum ist es gut und richtig, dass Sie hier schon vor vielen Jahren um den besonderen Bereich kirchlicher Bildungsarbeit mit eigenen Schulen gekümmert haben und kümmern mussten. Ich sehe mit Dank auf den Dienst der Stiftung, die viele Gruppen und Gemeinden ermutigt, sich zu engagieren. Die Evangelische Schulstiftung hier bei Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern ist mit Gründung der Nordkirche Pfingsten 2012 zu einer nun uns alle zentral angehenden Sache geworden.
Die Evangelischen Schulen sind ein Erfolgsmodell. Insgesamt 18 evangelische Schulen mit rund 2.400 Schülern sowie 10 angegliederte Horte mit rund 800 Kindern sind derzeit in Trägerschaft der Evangelischen Schulstiftung. Gut 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen gehören keiner christlichen Kirche an.
Mit der im August eröffneten neuen evangelischen Grundschule in Gülzow (Kreis Herzogtum Lauenburg) ist die Stiftung jetzt auch in Schleswig-Holstein aktiv und trägt dazu bei, die Nordkirche auszugestalten. Mein Dank gilt Ihnen allen, die Sie in und mit dieser Stiftung und ihren Schulen und Horten Ihr berufliches Leben gestalten und sicher oft auch darüber hinaus in der Freizeit! Mein Dank gilt Ihnen, Prof. Hanisch, als Vorsitzendem des Vorstands der Stiftung für all Ihren Einsatz, Ihre Liebe und Ihre große Sachkompetenz. Wir werden Sie gleich aus dem Amt verabschieden.
Zu danken ist vor allem dem Einsatz der Schulleiter, der Pädagogen und Horterzieherinnen und -erzieher, die sich weit über das zu erwartende Maß hinaus engagieren. Zu danken ist auch der Geschäftsstelle in Schwerin, wo die Fäden zusammen laufen, wo Initiativen zu Schulgründungen begleitet und beraten, die Finanzen verwaltet, Investitionspläne geschmiedet werden. Dazu kommt der Personalbereich mit 300 Mitarbeitenden, darunter Pädagogen, Erzieherinnen und Erziehern, Sekretärinnen, Hausmeister und Reinigungskräften. Und wir sind dankbar für die gute Zusammenarbeit mit den Bildungsministerien hier in M-VP und auch in Schleswig-Holstein und Hamburg. Evangelische Kirche war schon immer und soll weiter bleiben eine bildende Kirche, eine Menschen mit und zu Gott hin bildende Kirche. Kinder haben nicht nur ein Recht auf Bildung in umfassenden Sinn. Sie haben auch ein Recht auf Religion!
Dem allen liegt ein Bildungsbegriff zugrunde, der nicht begrenzt ist auf Wissensaufnahme, auf das Speichern von Fakten und Erkenntnissen. Bildung ist ein ganzheitlicher Vorgang, der Erfahrungen, Emotionen, verantwortliches Handeln einschließt. Dass Bildung und Menschsein zusammengehören, hat etwa die Denkschrift der EKD „Maße des Menschlichen“ betont. Zur Bildung in menschlichen Maßen wird dort u. a. unterstrichen: „Bildung betrifft den einzelnen Menschen als Person, seine Förderung und Entfaltung als ‚ganzer Mensch’ und seiner Erziehung zu sozialer Verantwortung für das Gemeinwesen…Bildung meint den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein und Handeln im Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen…Die Frage nach Gott ist für zeitgemäße Bildung unabdingbar, da sie vor absolutierendem Denken und Handeln schützt“
II
„Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes!“
Da wo Kinder sind, ist das Leben. Da wo Kinder sind, ist das Leben bunt und fröhlich, zuweilen laut. Jedenfalls mögen das die Großen so empfinden. Jesus stört das ganz und gar nicht! Er stellt die Kinder in die Mitte. Er nimmt sich ihrer an, er segnet sie. Dieses Urbild bleibt für kirchliche Arbeit und kirchliches Leben unverzichtbar! Denn Jesus sagt: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen!“
Ich verstehe das so: Kinder sind eine Gabe Gottes und auch der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Da ist nichts zu „verdienen“, sondern da gilt es im besten Sinne naiv – wie ein Kind nämlich – die offene Hand auszustrecken, damit Gott da sein Geschenk mit dem Namen „Glaube“ hinein legen kann.
Das Bild von dem Kind, das die Hand öffnet, ist auch ein wunderbares Gegenbild zum Leistungsprinzip allgemein – und auch in der Schule! Es steht quer zu einem Hochleistungsprinzip der guten Werke! Sicher, so ein Prinzip von Leistung und Perfektion schützt und stützt. Aber dieses Prinzip kann auch demütigen und klein machen, so dass viele die Schule auch erleiden – als Gescheiterte „unterm Rad“ – Da bleibt Hermann Hesses berühmter Schülerroman leider unverändert aktuell.
Ich selber habe eine schreckliche Schulzeit erlebt. Demütigend empfand ich, der ich nur ein mäßig fleißiger und mäßig erfolgreicher Schüler war, das Umfeld. „Ulrich, Sie sind ja noch zu blöd für die Bundeswehr“ – dieser Satz meines Mathematiklehrers hallt mir immer noch nach. Und immer wieder sehe ich mich hilflos und ausgeliefert vor den Augen meiner Klassenkameraden an der Tafel stehen.
Wie sehr hätte ich damals gebraucht eine „Entstörungsstelle“, Menschen im Bereich Schule, die mich annehmen hätten können, Lehrende, die mich nicht zu einem Ergebnis trieben, sondern mich zum Subjekt des Lernens hätten machen wollen.
Wie sehr hätte ich brauchen können Lehrende, die sich beim PTI z. B. fortgebildet hätten, und etwas gewusst hätten vom christlichen Menschenbild, so dass es ihnen nicht länger verboten gewesen wäre, den Knaben auch lieb zu haben, wert zu schätzen, der so unbeholfen vor den Aufgaben stand.
Wie sehr hätte ich mir gewünscht einen Religionsunterricht, der die befreiende Botschaft von der rechtfertigenden Liebe Gottes mir nahe gebracht hätte.
Wie sehr hätte ich mir gewünscht Leute, die über die „gute Schule“ nachdenken, in der die Schüler nicht Objekte sind und Projektionsflächen machtvoller Wissensvermittler!
Eine gute Schule lässt Schülerinnen und Schüler die eigene Würde entdecken, eine Würde, die sich nicht gründet in Schulnoten, Gesundheit, Geschlecht, Herkommen, Vermögen, sondern einzig und allein auf einen leidenschaftlich menschenfreundlichen Gott, der sagt: „es ist sehr gut!“
Gerade in der vergangenen Woche fand ich einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der sich mit Privatschulen auseinandersetzt. Er räumt zum einen auf mit der Vorstellung, bei den Schulen in freier Trägerschaft handele es sich um Biotope für Superreiche. Und er zitiert einen anderen Autor, Christian Füller, dessen Buch „Ausweg Privatschulen?“ ein Plädoyer für Privatschulen sei, „für ihren pädagogischen Reichtum genauso wie für ihren Mut und das Engagement, mit dem sie größtenteils betrieben werden…“ es seien landauf landab Forschungslabors entstanden, die versuchen, das pädagogisch überkommene fächerzentrierte Lernen aufzubrechen. Und, so hält der Artikel fest: die allermeisten dieser Schulen, befinden sich in Trägerschaft der Kirchen.
Ich setze sehr auf eine Zusammenarbeit mit den öffentlichen Schulen. Es macht wenig Sinn, Konkurrenzen aufzubauen, die niemandem nützen. Wir ergänzen das Bildungsangebot. Aber, dass Kirche sich im Bildungsbereich engagiert, gehört zu ihrem ureigenen Selbstverständnis. Denn Bildung fängt mit der Erkenntnis an, dass wir uns nicht einfach uns selbst verdanken. Dass wir nicht unsere eigenen Schöpfer sind. Und dass wir auch nicht unsere eigenen Heilsbringer sein müssen.
Zur Freiheit, ohne die alles Leben nicht sich entfalten kann, haben wir als Kirchen eine Menge zu sagen. Und weil wir etwas zur Freiheit zu sagen haben, wissen wir auch etwas von der Verantwortung zu sagen, ohne die alles freie Denken sich ins Gegenteil verkehrt.
Ich wünsche mir von einer Evangelischen Schulstiftung besonders auch dieses eine: Stellt die Kinder in die Mitte, lasst sie mit Gott groß werden und lasst dem Geist Christi Raum, der nämlich bringt Freiheit vom Prinzip der Leistung. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit“, sagt der Apostel Paulus in einem seiner theologischen Spitzensätze. Und Freiheit, die Paulus meint, ist immer befreite Freiheit, geschenkte. Niemand befreit sich selbst durch gute Werke. Martin Luther sagt: „Nicht die guten Früchte machen den guten Baum, sondern der gute Baum trägt gute Früchte!“
Dazu segne Gott die Schulstiftung und ihre Einrichtung und alle, die dort Dienst tun, die dort lehren und lernen: dass wir miteinander uns vergewissern, auf welchem Grund unser Leben steht, worin wir fest wurzeln können – damit Leben sich entfalten kann hin zur verheißenen und geschenkten Fülle, blühen und dann: Früchte tragen!
Amen.