Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel

23. November 2012 - Vortrag im Rahmen der Studienwoche „Diakonie“

23. November 2012 von Gerhard Ulrich

Zeugnis und Dienst. Zum Verhältnis von Kirche und Diakonie

I
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Es ist mir eine Freude, bei Ihnen hier an der KiHo Wuppertal/Bethel zu Gast zu sein und Ihnen einige mir wichtige Aspekte des Themenfeldes Kirche und Diakonie vortragen zu können.
Ich beginne aus Respekt vor diesem theologiegeschichtlich bedeutenden Ort und aus innerer Überzeugung zugleich mit dem Hinweis auf die für unser Thema grundlegende Bestimmung von Kirche nach der 6. These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen aus dem Mai 1934. Es heißt dort:
„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“
Zeugnis und Dienst in Wort und Tat werden hier als Auftrag der Kirche in aller Klarheit benannt und der Kirche als fundamentale Handlungsmaxime ganz oben in die „to-do-Liste“ geschrieben. Genau dafür ist die christliche Kirche da – und von diesem Auftrag darf sie sich nicht dispensieren lassen oder gar selbst dispensieren. Und darum gehören Kirche und Diakonie zusammen. Die eine ist Kenn- und Lebenszeichen der anderen.
Das haben wir neu gelernt in der Kirche – auch durch das mutige Bekenntnis der Synodalen auf der Ersten Bekenntnissynode in Wuppertal-Barmen zu einer Zeit, als eine ganz andere menschenverachtende Unwahrheit vom NS-Regime verordnet worden war.
Folglich bin ich auch sehr glücklich damit, dass wir in Norddeutschland in dieser Spur gedacht haben, als es darum ging, eine Verfassung für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland zu entwickeln. Und in dieser Verfassung unserer Pfingsten 2012 gegründeten Nordkirche ist als Artikel 1 zum Wesen und Auftrag der Kirche zu lesen:
„(1) Wo sich Menschen um Gottes Wort und Sakrament versammeln, ist Kirche Jesu Christi. Dies geschieht in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland in den Kirchengemeinden, den Kirchenkreisen, der Landeskirche sowie in den Diensten und Werken einschließlich der diakonischen Einrichtungen.“
Die Verhältnisbestimmung beantwortet sich vom Auftrag der Kirche her, vom Wort, das uns sendet zu denen, die am Rande sind.
Diese beiden zitierten Bestimmungen zu Wesen und Auftrag der Kirche schreien geradezu danach, dass wir Christenmenschen groß von Kirche reden: Pointiert bezeugen in Wort und Tat die gute Botschaft von Jesus Christus! Nah bei den Menschen – konkret!  Allein an den Herrn der Kirche gebunden, sind wir frei, uns allen Menschen, all´ ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Problemen zuzuwenden – mit allen gemeinsam das anzupacken, was es anzupacken gilt, um ein gutes und friedliches Miteinander im Dorf, im Stadtteil, im Quartier der Metropole oder in den ländlichen Räumen zu gestalten.
Verkündigung, so werden wir nicht müde, zu bekennen,  ist nicht nur ein Dienst des Redens, des Palaverns; auch nicht nur ein Akt des Bekennens mit den Lippen. Und das Hören, so wollen wir es verstehen, ist auch nicht nur ein Vorgang des Gehörs, sondern ein Prozess, der Leib und Seele erfasst, der das Herz bewegt und dann die Hände öffnet. Der den Verstand regiert mit dem Geist der Liebe und des Friedens. Das war ja auch eine der zentralen Entdeckungen der Reformatoren: Vernunft und Glaube gehören zusammen, gute Werke und sich Gründen im Wort gehören zusammen; Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Gerade weil wir als getaufte Glaubende frei sind von der Herrschaft der Mächte der Welt, können wir in der Welt als von Gott und seinem Wort Regierte frei zur Liebe sein. Weil wir nicht der Ungerechtigkeit der Welt ausgeliefert sind, kann und muss sie uns etwas angehen – im Angesicht der Gerechtigkeit Gottes.
Gebt euch nicht zufrieden mit dem, was ihr hört, werdet unruhig, rührt euch, bewegt euch. Das Wort wird Fleisch in Jesus. Und in ihm beispielhaft zur Tat. An den Geringsten. An denen, denen der Mund leer ist und das Herz schwach und das Gehör von den vielen Wörtern taub. Es wird sichtbar. Rettend. Wer das Wort im Munde hat, der dreht es nicht um, sondern weiß, wovon die Rede zu sein hat – in Wort und Tat; der weiß, wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.
II
Ich habe in den letzten Monaten Partnerkirchen besucht, z. B. die Lutherische Kirche in Tansania und die Lutherische Jeyporekirche in Orissa in Indien. Zwei ganz verschiedene Länder, ganz verschiedene Kirchen. Beide aber gehen sie zurück auf Missionare aus Deutschland. In Tansania erinnert man sich an Missionare aus Bayern, von der Leipziger Mission vor allem und auch aus Schleswig-Holstein. In Indien waren es Missionare aus Breklum, die das Wort brachten. In beiden Ländern erinnert man sich mit großer Dankbarkeit an jene Glaubensbrüder und -schwestern – obwohl nicht alles, was die Mission machte und brachte, ruhmreich und segensreich war.
Bis heute aber sind ihre Spuren sichtbar: Sie waren gekommen mit dem Wort – ganz nah bei ihnen, in ihrem Mund und in ihrem Herzen – um es zu tun!
Sie haben, in Indien vor allem, zuerst sich um Leprakranke gekümmert, haben Krankenstationen aufgebaut. Und sie haben gelehrt, Schulen gegründet, Bibelkreise gestaltet. Sie waren nahe bei den Menschen, gute Botschafter des Wortes. Sie haben Gemeinden gegründet, in denen bis heute Wort und Tat, Hören und Tun, Beten und Dienst zueinander gehören – sichtbar bis in die Gebäude!
Und bis heute ist das unsere Mission dort: Krankenhäuser sind entstanden im Laufe der Jahrzehnte, Pflegestationen, Sozialstationen; Ambulante Zentren, sozial-politische Organisationen, die sich um Dorfentwicklung, Energiemanagement, Wasserversorgung usw. kümmern. Ganz praktisch das alles. Und doch voll des guten Geistes, mit dem Wort im Mund und im Herzen – sonst würden die das gar nicht aushalten.
Ich habe in beiden Ländern Menschen getroffen, die Hörerinnen und Hörer des Wortes sind, indem sie tun, was sie glauben! Mit denen das Wort Fleisch wird immer neu für die Menschen.
Und so geht es doch hier bei uns auch: Die vielen Tausend Mitarbeitenden in der Diakonie sind doch genau das: Hörerinnen und Hörer nicht nur, sondern Täterinnen und Täter; Menschen, denen das Wort ganz nahe ist; die das Wort verkünden, indem sie pflegen, betreuen, beraten, medizinisch helfen – ambulant und stationär; die Finanzen beieinander halten und sich einsetzen in schwierigsten Verhandlungen mit Land und Kommunen. Deren täglicher Gottesdienst die Arbeit mit und an den Schwächsten ist. Und die aus dem Hören auf Gottes Wort heraus sich selbst verstehen als Dienerinnen und Diener, Diakoninnen und Diakone.
Vor zwölf Tagen habe ich Jerusalem besucht. Ich war auf dem Ölberg, wo der Lutherische Weltbund (LWB) das Hospital der Auguste-Victoria-Stiftung trägt und betreibt und wo eine Pilgerstätte sich findet. Mitten in Ostjerusalem, mitten im Gebiet der Palästinenser, mitten im besetzten Land. Und wenn man von dort oben über das Land schaut, sieht man auf der einen Seite bis zum Jordan. Und man sieht wachsende Siedlungen, man sieht die Mauer, die Wachtürme, die Checkpoints. Und mit Händen zu greifen ist die Angst und die Schmach, die die Menschen besetzt. Auf beiden Seiten besetzt.
Und auf der anderen Seite liegt Jerusalem mit dem Tempelberg. Die Altstadt und dahinter Westjerusalem. Nicht weit von der Stelle, wo das Hospital ist, findet sich der Ort, von dem aus Jesus auf die Stadt geschaut und geweint hat über die Stadt und ihre Gottlosigkeit. Tränen, die immer noch fließen und immer wieder.
Auf dem Ölberg selber aber sehen wir, was Gott meint: einen Ort der Heilung. Mitten im Gewirr der Religionen und Kulturen ein Ort, an dem Versöhnung sich vollzieht – zwischen Religionen und Kulturen. Da sind Patientinnen und Patienten aus Palästina. Ihnen wird hier geholfen mit hohem medizinischen Standard. Die einzige medizinische Einrichtung, die den Palästinensern aus der Westbank zur Verfügung steht. Der kranke Muslim mit der Diabetiswunde sieht nicht die jüdische oder christliche Schwester, sondern den Menschen, der ihm hilft, die Wunde zu versorgen. Und umgekehrt: der christliche Arzt sieht nicht den Muslim, sondern den Krebspatienten, der Hilfe braucht.
Das Wunderbare an diesem Ort: Kirche und Hospital sind eine Einheit. Da ist die Kirche, wunderbar restauriert. Ort, an dem die Herrlichkeit Gottes angebetet wird. Ort der Heilung, die nicht nur den Leib, sondern auch die Seele betrifft und meint. So verstehe ich die Beziehung zwischen Kirche und Diakonie: Hin Haus der Versöhnung, der Heilung – unterschieden, aber nicht getrennt. Wenn man die Fenster der Kirche zur einen Seite hin öffnet, sieht man direkt auf den Flur der Inneren Abteilung.
Es sind nicht zuletzt die muslimischen Patienten, die dafür eintreten, diese Fenster nicht zu schließen, den Einblick in den spirituellen Ort zu gewähren! Das Gebet und den Lobgesang zu hören. Eingebunden zu sein, wenn der Gott Jesu und Abrahams angerufen wird.
Ein Ort ist dies, der unterbricht die terroristischen und kriegerischen Handlungen; ein Ort, an dem die Angst weichen darf der Hoffnung. Solange es solche Orte gibt, stirbt die Hoffnung nicht, dass die unerfüllte Verheißung Gottes sich erfüllen werde, das diese Welt entgegen lebt der Verheißung; dass die vorübergehende Gnade und Güte Gottes die Herzen wenden kann.
III
Wir sind dabei als Kirche und Diakonie zum Glück mit anderen unterwegs: Auch andere Kirchen und Religionsgemeinschaften sind dabei – auf je eigene Weise. Das auch diakonisch vielfältige Engagement der Religionsgemeinschaften in unserem Land  bestärkt mich in der Überzeugung: Wir tragen für das Miteinander der Verschiedenen eine herausragende Verantwortung, gerade als Christenmenschen, die als „Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit“ unterwegs sind, tun wir das! Mit diesem Begriff hat schon die Lutherische Weltversammlung 1977 in Dar-es-Salaam die Kirche weltweit bezeichnet.
Die Kirche, die Diakonie, hier vor Ort lebende und arbeitende Christenmenschen, können und sollen auch hier sein eine mutige, offene und gesprächsfähige Schar von Menschen, die wissen, dass sie Bewohner sind einer unverwechselbaren „Provinz der Weltchristenheit“ – wie der Theologe Ernst Lange die Kirche schon in den 70iger Jahren genannte hat. „Die Kirche der Zukunft wird eine ökumenische Kirche sein, oder sie wird gar nicht Kirche sein“, hatte Ernst Lange uns schon damals ins Stammbuch geschrieben. Recht hat er – und Ökumene bedeutet hier natürlich weit mehr als die Überwindung von Grenzen zwischen christlichen Konfessionen; sondern „Ökumene“ bedeutet: selbstbewusst und der eigenen Herkunft und Geschichte gewiss, sich zuwenden dem Anderen, dem Fremden, der - zum Glück (!) - anders ist als ich selbst. Eine Hamburger Stadtentwicklerin hat einmal gesagt: Ihr Kirchen mit eurer Diakonie seid die einzige Institution, die es in ihrem Auftrag hat, zu integrieren, zu inkludieren, Milieus miteinander ins Gespräch zu bringen, Räume zu öffnen für die Begegnung der Verschiedenen, Milieugrenzen zu überschreiten.
Und in einer Seminararbeit eines Theologiestudenten zum Thema „Inklusion“ finde ich folgende Aussage:
„Es gibt einige Gründe, warum die Kirche bei der Gestaltung und Umsetzung von Inklusion eine aktive und prägende Rolle übernehmen kann: Ihr ist der Begriff der Ewigkeit nicht fremd. Sie weiß, dass es sich lohnen wird, beharrlich und geduldig auf ein großes Ziel zu warten und hinzuarbeiten und dass man dieses Ziel bereits auf dem Weg gestalten
kann. Ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das den Anteilseignern regelmäßig eine möglichst hohe Dividende erwirtschaften muss, wird sich nur solange für die Umsetzung einer Idee einsetzen, wie es sich daraus wirtschaftliche Erfolge errechnet. Die Kirche hingegen hat eine ganz andere Perspektive. Für sie spielen Zeiträume bei der Umsetzung eines Zieles eine untergeordnete Rolle und sie hat eigene Ziele, die so groß sind, dass die Zeit bis zum Erreichen dieses Ziels unerheblich ist. Denn Kirche ist auf die Ewigkeit ausgerichtet, ohne deshalb in der Gegenwart in Erwartung dieser Ewigkeit untätig sein zu wollen.
Alle Menschen sind gleich vor Gott und die Gemeinschaft der Christen kennt keinen Ausschluss wegen anderen Aussehens, anderer Fähigkeiten oder sonstiger äußerer Merkmale…  Und schließlich weiß die Kirche aus Erfahrung und aus Überzeugung:
Heterogenität ist nicht nur Normalität, sondern Qualität.“
Und, in der Tat: Jesus selbst tut nichts anderes als dies. Das Neue Testament ist voller Integrations- und Inklusionsgeschichten; voller Geschichten, in denen Milieugrenzen aberwitzig überschritten und durchbrochen werden; Geschichten von Grenzüberschreitungen und Zaunüberstiegen: die Geschichte vom Zöllner Zachäus ist so eine Geschichte, die von der Ehebrecherin, die von der Begegnung Jesu mit der Blutflüssigen am Brunnen; die Begegnung des Samariters mit dem unter die Räuber Gefallenen; da sind Geschichten erzählt, wie Jesus zu Tische sitzt mit denen, die niemand in der Nähe haben will: mit Sündern und Zöllnern, Verrätern und Zwielichtigen.
Aber: Sinusstudien und Mitgliedererhebungen der EKD schreiben uns Kirchen noch etwas anderes ins Stammbuch: dass es uns nämlich nicht gelingt, unsere Milieus zu durchbrechen; dass es nicht ausreichend gelingt, zu integrieren; dass wir, mit anderen Worten, unseren Auftrag nicht oder nicht gut genug erfüllen. Da ist viel zu tun, bei uns selbst, da ist viel zu profilieren, zu vergewissern.
Die neue Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland immerhin hat eine Arbeitsstelle gegründet, die genau dies zum Ziel hat: Menschen zu erreichen und zu verstehen, sprachfähig selber zu werden für die, die ohne Konfession sind, ohne Glauben und Kirche aufgewachsen sind, in ganz anderen Milieus leben. Immerhin: ein Anfang, immerhin eine Erkenntnis der Bedürftigkeit bei uns!
Immer wieder merken wir, dass die Vielfalt der Kulturen ein Reichtum ist und eben keine zu überwindende Schwäche. Das dialogische Ringen um ein gutes Zusammenleben vor Ort wird nicht gehen, wenn wir die Religion der Menschen ausklammern und als angebliche Privatsache in die jeweils eigenen vier Wände einsperren. Im Gegenteil, jede mir bekannte Religion von Rang, jede Weltreligion, ist eine öffentliche Angelegenheit, weil Religion immer auch auf Erkennbarkeit und öffentlichen Ritus drängt.
Kurz: Religion kann man nicht nur irgendwie fühlen in seinem Inneren, sondern Religion ist immer auch zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Religion ist höchst emotional – sie ist gar explosiv! Gewiss, Religion trägt in sich Gewaltpotential – aber ebenso stark trägt sie in sich Friedenspotential! Davon gilt es zu reden. Religion als Kraft zum Schalom – als power für Frieden und Gerechtigkeit! Religion ist nicht nur Sinn – sondern Religion ist auch voll von Sinnlichkeit. Ein religiöser Mensch ist ganz bei Trost – und er ist fromm und frei mit allen Sinnen! Er oder sie betet – und tut das, was Not tut, um Not zu wenden!
IV
Damit, meine Damen und Herren, sind wir bei der notwendigen Spannung von Kirche und Welt, die nicht aufgelöst werden darf: Kirche ist Gemeinschaft der Heiligen mitten in der Welt – aber nicht von dieser Welt. Sie hat Zeugnis abzulegen von der  - wie soll ich sagen „überweltlichen“, ja „himmlischen“ Realität Gottes in dieser Welt. Und diese Realität Gottes geht in der Welt nicht auf! Das klingt fast wie ein Widerspruch, wie ein überlebtes Überbleibsel ferner Kultur, wie ein Fremdkörper. Und das sind wir als Gemeinschaft der Heiligen ja auch, sollen es auch sein! Zumal in einer teils gottvergessenen Welt und Gesellschaft: störendes, aufstörendes Element sind wir, wenn wir wirklich bei unserer Sache sind! Nicht inkludiert, störend anders, erkennbar quer. Das tut dieser Gesellschaft gut und das hat sie nötig! Das ist fast unser Auftrag: aus der Zeit zu fallen!
Genau so könnte sich ja auch eine jede diakonische Einrichtung verstehen als eine „Provinz der Weltchristenheit“. Sie ist dann tatsächlich ein unverzichtbarer Teil einer erkennbaren Kirche in der Welt. Sie ist dann Kirche als Diakonie, also mit Kronenkreuz und allem Drum und Dran – an Schönem und an Beschwerlichem. Sie ist diakonische Kirche – also: lebensdienliche Kirche – in der Spannung von Kunst und Kommerz, will ich ruhig sagen. Sie ist dann ein kirchliches, diakonisches Unternehmen, das weiß um die Spannung zwischen unserem diakonischen Auftrag und allen ökonomischen Notwendigkeiten, die eben auch zur Realität der Welt gehören. Und da gilt es dann, diese „wirtschaftlichen Zwänge“ nicht als unabänderlich gegeben hinzunehmen, sondern sie vielmehr sinnvoll zu gestalten. Und es gilt ebenso, diese Zwänge nicht zu übertünchen durch im schlechten Sinne „frömmlerisches Gerede“, als sei ein Unternehmen unter dem Dach der Diakonie als solches schon ein gutes oder gar besseres Unternehmen als andere auf dem Markt.
Natürlich haben große diakonische Einrichtungen ihre hohe Bedeutung für die Gesellschaft – nicht nur und zuerst wegen des hohen Standards im Engagement für die Daseinsfürsorge der Menschen. Vor allem zeugen diese Einrichtungen davon, dass es eine Geisteshaltung gibt, die das Engagement für die Gesellschaft fordert und zur Grundlage hat – aus dem Glauben heraus an den, der uns sendet zu den Schwachen und Armseligen, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist, wie der Apostel Paulus sagt. Für mich ist eine diakonische Einrichtung zunächst einmal eine Gemeinschaft von Menschen, eine Gemeinde, kann man auch sagen. Von Menschen, die mit ihrem Engagement auch Zeugnis ablegen ihrer Überzeugung und ihres Glaubens, der eben nicht für sich bleibt, sondern in die Verantwortung treibt. Zeugnis des Glaubens an den, der sich den Elenden zuwendet, der herunter gekommen ist zu den Armseligsten und der sich nicht zufrieden gibt mit dem, was schon immer so war.
Entscheidend ist natürlich hohe Professionalität. Da muss sich kaum eine diakonische Einrichtung in Stadt und Land verstecken. Aber ebenso entscheidend ist die Haltung, aus der heraus die Professionalität sich entwickelt: die Diakonie war und bleibt ein Dienst, der „aus der Taufe gekrochen kommt“, wie ich in Abwandlung eines Lutherwortes sagen möchte. Weil ich getauft bin, stehe ich an der Seite der Schwachen. „Ich bin so frei“: frei im Glauben und frei zur Liebe. Frei, weil gebunden an das Wort Gottes.
Noch einmal der Theologiestudent, der in der erwähnten Arbeit eigene Erfahrungen beschreibt. Einer seiner Mitschüler am Gymnasium war schwer behindert und saß in einem Rollstuhl, war angewiesen auf Assistenz. Die fortschreitende Krankheit sollte zu einem sehr frühen Tod führen. Aber bis dahin ging es darum, den Mitschüler und Freund Anteil zu geben am Leben. Der Student beschreibt die Szene der gemeinsamen Konfirmation:
„  Einige Monate vor Stephans Tod wurden wir gemeinsam konfirmiert. Dass ich mit Stephan zusammen vor den Stufen des Altarraumes blieb und mich dort und nicht vor dem Altar kniend segnen ließ, war für mich selbstverständlich. Die Reaktionen einiger Gottesdienstbesucher zeigte mir jedoch, dass dies nicht alle so empfanden.“
Diakonie als Haltung, die aus dem Glauben wächst, der uns an die Seite derer stellt, die schwach sind. Diese kleine Szene ist für mich ein Bild für Diakonie und Kirche gleichermaßen. Die Taufe sei ein uraltes Inklusionsritual, schreibt der Student an anderer Stelle. Zwar ist Inklusion ein modernes Fachwort geworden, das aus der UN-Resolution von 2007 folgt und stammt. Aber es bezeichnet ja viel mehr. Es bezeichnet die Vision des Zusammenlebens der Menschen unabhängig von ihren Gaben und Grenzen.
V
Ich denke an ein Stadtbild aus Kinderhand: Kinder einer 6. Klasse in Hamburg-Eimsbüttel haben ein Plakat gegen Ausländerfeindlichkeit entworfen. Es zeigt ein großes grünes Rund, gesäumt von 34 Kindern, die sich an den Händen festhalten, Kinder aller Hautfarben, Jungen und Mädchen. In der Mitte des grünen Runds steht ein großer Fernsehturm. In seiner Nähe zwei weitere Gebäude mit Türmen. Eines davon ist eine Kirche. Sie sticht hervor durch ihre bunten schönen Fenster. Sie spiegeln die unterschiedlichen Hautfarben der Kinder. Das zweite Gebäude ist vermutlich eine Moschee, vielleicht aber auch eine Schule. Zwischen Kirche und Fernsehturm ist ein Karussell zu sehen und die großen Buchstaben „DOM“.
Dieses Bild, so meine ich, symbolisiert die Stadt Hamburg und die Hoffnungen der Kinder: Die Stadt ist eine grüne Stadt. Fernsehturm, Kirche und Moschee, aber auch die Schule und der „DOM“ stehen für ein buntes und mehrdimensionales Leben in dieser Stadt, und der äußere Kreis der sich an den Händen festhaltenden Kinder mag eine Botschaft sein: Wir gehören zusammen! Wir lassen niemanden aus unserem Kreis herausfallen!
Die Kirche im Bild dieser Schulkinder ist ein Gotteshaus für die Menschen, bunt, ein Ort des Unterstellens, Heimstatt, Asyl vielleicht.
Ich frage: Wäre es denkbar, dass mit Kinderaugen gesehen auch eine große diakonische Einrichtung wie Bethel oder Düsseldorf-Kaiserswerth so eine Stadt in der Stadt ist oder aber sein will? Wie würden die Menschen, die in den Einrichtungen der Diakonie leben und arbeiten, handeln, wenn so ein Leitbild ihr Tun tatsächlich anleitet?
VI
Wie könnte es sich entwickeln, so ein Haus der Diakonie?
Ich nenne ein paar Stichworte:
1. Profilierung des Besonderen statt Standardisierung: Was ist das besondere Profil einer konkreten diakonischen Einrichtung? Historisch gewachsen – und immer wieder neu auf die speziellen Bedürfnisse der Gegenwart „angepasst“? Welche diakonischen Arbeitsbereiche haben sich neu herausgebildet? Wo liegen „Bedarfe“, weil die Gesellschaft sich verändert? Ich weise nur hin auf den demografischen Wandel in unserem Land: Wir werden bunter; wir werden älter; wir leben mit weniger Kindern… Erkennbar „evangelisch“ kann sie sich profilieren, nicht konfessionalistisch eng, sondern ökumenisch weit aus der Bindung an das Evangelium gleichsam „überfließend“. Denn die Vielfalt der Formen ist eine Stärke des Protestantismus – nicht eine zu überwindende Schwäche!
2. Innerhalb der Kommune sich einbringen, um das soziale Klima wohnlich zu halten. Aus dem sozialen Versorgungsnetz einer Großstadt in Deutschland z.B. ist doch die Diakonie gar nicht wegzudenken. Dabei wird für eine „evangelische Diakonie“ die entscheidende Aufgabe auch weiterhin die sein, dass wir mit dafür sorgen, dass niemand aus dem Kreis herausgestoßen wird, weil die andern ihn nicht haben wollen. Oder auch, dass niemand aus dem Kreis herausfällt, weil er zu schwach ist, um von sich aus aufrecht und mit ausgestreckten Händen neben den anderen im Kreis stehen zu können. Es geht dabei auch um das, was man „Toleranz“ nennt, übersetzt „Duldung“. Den anderen dulden, aushalten. Klar. „Wir sind tolerant“. Das klingt oft nach Selbstgerechtigkeit, Selbstgenügsamkeit. Natürlich geht es auch um Grenzen, die jeder von uns hat und braucht; geht es um die Wahrheit, die wir erkannt haben und bekennen. Und ohne die ich mich nicht öffnen kann dem anderen, dem Fremden. Inklusion heißt nicht: gleich machen alle. Sondern: Raum erkennen und schaffen für die Verschiedenen, die Fremden. Aber es gibt noch eine andere Seite der Toleranz: sie ist eine Haltung, die rechnet mit der Ergänzungsbedürftigkeit, rechnet mit der eigenen Unfertigkeit; sie rechnet damit, dass in dem Anderen, dem Fremden, die eigene notwendige Ergänzung zu finden sein könnte. Solche Toleranz rechnet damit, dass Gottes Spielräume allemal größer sind als meine Möglichkeiten zu denken und zu handeln.
3. Vermittlung der Vielfalt. Die multinationale, multikulturelle und multireligiöse Stadt ist Realität im Ruhrgebiet, in Städten in Deutschland. Die Anderen, die Fremden haben nicht nur angeklopft am Tor zur Welt – nein, inzwischen leben viele von ihnen dauerhaft hier, sind in der zweiten und dritten Generation Mitbewohner, Hausgenossen, mit festen Wurzeln in ihrer Heimatstadt Hamburg oder Wuppertal. Da gibt es natürlich nicht nur den vermeintlichen Chic von „Multikulti“, da gibt es auch handfeste Interessensgegensätze und Verteilungskämpfe um politische Partizipation und Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung etwa. Aber: Eine Stadt lebt davon, dass es in ihr nicht nur Machtstrukturen und Konfrontation von Interessen gibt, die äußerlich die Ordnung herstellen oder bewahren, sondern dass es in ihr auch Gruppen und Mentalitäten übergreifende Dolmetscher gibt, die Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, Sprachen, Kulturen und Religionen. Die Kirche kann natürlich nur in Teilen diese Dolmetscheraufgabe übernehmen – aber sie kann sehr wohl in einem hohen Grade Leute zusammenbringen.
VII
Ich will etwas sagen zur Rolle der Religion in der Zivilgesellschaft. Dazu nehme ich eine Anleihe auf bei meinem bayerischen Kollegen Landesbischof  Prof. Dr. Bedford-Strohm, bei dem ich einige der folgenden Gedanken in Übereinstimmung mit meinen eigenen finde. Religion ist eben nicht Privates. Sie ist öffentliche Haltung. Es gibt keine unpolitische Theologie; z. B. als Vorbilder werden wir gebraucht – angesichts aller Pluralität will man doch wissen, was uns ausmacht, trägt und prägt. Die Zivilgesellschaft braucht die Religion und die Religionen, meine ich, sehr dringend.
Die Kirchen haben nicht nur längst ihre skeptische Haltung gegenüber der Demokratie überwunden, sie sind zu treibenden Kräften einer beständigen Fortentwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft geworden. Sie mischen sich in die öffentlichen Debatten ein und melden sich in den öffentlich diskutierten Themen zu Wort, hinter denen in ihren Tiefendimensionen Fragen ethischer Grundorientierung stehen. So ist z. B. das Wort zur sozialen Lage der Gesellschaft entstanden von Protestanten und Katholiken gemeinsam 1993.
Ich habe selten zu einem Thema so viele Anfragen von außerhalb der Kirche erhalten, wie zur Frage der Wirtschaftsethik. Hier ist Kirche gefragt als Werte-Bewahrerin. Hier wird Orientierung vermutet und erwartet. Dieser Erwartung sollten wir nachkommen – in Vorträgen und, vor allem, mit dem eigenen, selbst verantworteten ökonomischen Handeln!
Ein anderes Thema ist das Gebot des Schutzes der Schwachen – die „biblische Option für die Armen“ - mahnt zur Einfühlung in den Anderen mit dem Hinweis auf die historische Erfahrung des Volkes Israel als Traditionsgemeinschaft, die ihrer eigenen Unterdrückung gedenkt. Eine Gesellschaft ist immer nur so stark, wie sie sich stark macht für die Schwachen!
„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (Ex 23,9). Dass Fremde mit Achtung und Respekt behandelt werden sollen, gewinnt seine Plausibilität durch die Einsehbarkeit und die Einfühlbarkeit ihrer besonderen Situation der Verletzlichkeit.
Für diese innere Aneignung sind religiöse Traditionen nach wie vor von zentraler Bedeutung. Deswegen behaupte ich: Weil der Zusammenhang zwischen äußeren Werten oder Geboten und innerer Aneignung so entscheidend für eine Gesellschaft ist, deswegen braucht die Zivilgesellschaft die Kirche. Und wo andere Religionsgemeinschaften von ihren Quellen her einen ähnlichen Zusammenhang aufweisen, gilt das auch für sie.
Deswegen würde sich die Zivilgesellschaft einer ihrer wichtigsten Regenerationsquellen berauben, würde sie Religion ins Privatleben verbannen wollen. Und auch aus dem Selbstverständnis des Glaubens selbst heraus, kann das in keinem Falle eine Option sein. Frömmigkeit und gesellschaftliches und politisches Engagement gehören zusammen. Wo uns die Not anderer Menschen in Innersten berührt, da können wir gar nicht anders als auf allen Ebenen – einschließlich der politischen – mitzuhelfen, diese Not zu überwinden.
VIII
Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkte eingehen, die mir vor einiger Zeit von Prof. Dr. Stephan Haas, dem Direktor der großen Evangelischen Stiftung Alsterdorf genannt wurden, eine der führenden Diakonischen Einrichtungen in Hamburg. Er beschrieb einige Punkte als dringlich für eine zeitgemäße Weiterentwicklung seiner Einrichtung. Sie, meine Damen und Herren, mögen prüfen, ob dieser Fragehorizont nicht auch als eine hilfreiche Aufgabenbeschreibung für Diakonie allgemein verstanden werden kann, jedenfalls für zeitgemäße Diakonie in einem großstädtischen Umfeld: Multikulturalität und Multireligiosität prägen Hamburg nicht nur im Allgemeinen, sondern immer stärker auch das unternehmerisches Handeln der Stiftung. Von den jetzt 6-18 Jährigen in HH stammen 60% aus Familien mit Migrationshintergrund, nur etwa 14% der Fach-SchülerInnen für Pflege und Diakonie in dieser Einrichtung sind evangelisch getauft. Die ACK-Klausel für die Mitarbeiterschaft werde damit von einer ursprünglichen Öffnungsklausel zu einem möglichen Hindernis bei einer sinnvollen Personalgewinnung. Wie kann die Stiftung angemessen reagieren?
Wie kann es gelingen, dass wir um die Vielfalt der Religionen (und die Zahl der „religiös unmusikalischen“ Menschen, also der so genannten „Konfessionslosen“) wissen, und das auch positiv für die Unternehmensentwicklung zu nutzen suchen?
Prof. Haas schlägt vor, von Konfessionsbindung und Religionspluralismus als den Brennpunkten einer Ellipse zu sprechen, die wir gleichermaßen einbeziehen müssen. Wir müssten die Konfessionsbindung als einen Überzeugungskanon bestimmen und leben, der vor Beliebigkeit bewahrt, aber den Glauben anderer nicht nur toleriert, sondern ihn aktiv einzubeziehen erlaubt.
Das Urteil, das am Dienstag das Bundesarbeitsgericht zum Streikrecht der kirchlichen und diakonischen Mitarbeitenden gesprochen hat, kann hier als eine Chance verstanden werden: denn das Gericht hat nicht nur Streik erlaubt. Es hat zugleich das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und ihrer Einrichtungen bestätigt. Jetzt kommt es darauf an, zusammen mit Gewerkschaften und Mitarbeitenden dieses Besondere, selbst bestimmte Recht der Kirchen zu gestalten.
Früher war es so, dass der Dienst der Diakonissen etwa „aus der Taufe gekrochen“ kam. Heute ist für viele Menschen die Kirche oder die Diakonie ein Arbeitsplatz wie viele andere, der zum Broterwerb dient.
Wie können wir der Vielfalt Raum geben, Sprachräume schaffen, ohne die Spannungen und Differenzen zu nivellieren? Wir sind als Kirche mit ihren Einrichtungen natürlich das, was man einen „Tendenzbetrieb“ nennt. Wir haben klare Ziele. Wir haben ein unverwechselbares Fundament. Wir glauben, dass wir gesandt sind in die Welt, das Heil zu verkünden, wie es uns verheißen ist von Gott, dem Schöpfer und seinem Sohn Jesus Christus, dem Herrn der Kirche. In einer pluralen Gesellschaft dürfen klare Zielformulierungen und klare Bekenntnisse nicht verschwinden. Im Gegenteil: sie werden gebraucht. Vielfalt kann nur leben und sich entfalten auf der klaren Erkennbarkeit der Verschiedenen. Ich glaube, wenn es gelingt, wenn also Selbst-Bewusstsein der Kirche und ihrer Einrichtungen im Sinne des Wortes (sich seines Selbst bewusst sein) gefestigt ist; wenn klar ist, worauf wir gründen und bauen, dann kann auch so etwas wie die ACK-Klausel geöffnet werden hin zu neuer Realität; dann können wir nach innen und nach außen jenen Respekt leben, den der Herr seiner Kirche uns verheißt.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Zu dem Sinn der ACK-Klausel stehe ich sehr wohl: wer bei uns oder in unseren Einrichtungen bezahlter Arbeit nachgeht, muss sich positiv verhalten zu unseren Zielen, zu unserem Fundament. Aber die ACK-Klausur beschreibt eben nicht nur einen organisatorischen Pflichtkatalog, sondern eine innere Haltung ist gemeint! Taufe geschieht aufgrund eines Bekenntnisses, nicht aufgrund vertraglicher Vereinbarungen! „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse“, fragt der Äthiopier den Philippus, nachdem der ihn eingewiesen hatte in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Darum muss es gehen also: Dass wir Räume bereit stellen, Bildungs-Räume, in denen wir in einer Art „Mission nach innen“ erzählen von dem, was uns trägt und unverzichtbar ist, in denen wir handeln, wie Christenmenschen tun: weitergeben, was sie empfangen haben. Dann, in einer so geöffneten Organisation, werden jene Heimat finden auch innerlich, auch inhaltlich, auch geistlich, die bei uns Arbeit suchen und finden!
Eine andere „Klausel“ scheint mir momentan ebenso wichtig: Das ist die der tariflichen Einbindung der Mitarbeitenden. In unserer Gesellschaft ist Bezahlung eine Ausdrucksform von Wertschätzung. Gute Arbeit erfordert gutes Geld. Wir haben hier ein Problem, das seine Ursache nicht zuerst bei uns und unseren Einrichtungen hat, sondern in der Unterfinanzierung der sozialen Dienste und Assistenzen begründet ist. Der ökonomische Druck lässt vielen Einrichtungen und Unternehmen keine Wahl: sie suchen nach Auswegen in Haustarife.
Wir müssen hier gegensteuern. Wir müssen das tun mit den Gewerkschaften zusammen – ehrlich und offen und im Sinne der Mitarbeitenden.
Es ist gegen unser Menschenbild, wenn wir nicht angemessen entlohnen! Wir müssen uns mit der Qualität unserer Arbeit nicht verstecken – sie ist ihr Geld wert! Auch dazu braucht es ein freies Bekenntnis.
Bekenntnis und Offenheit schließen sich nicht aus. Bekenntnis grenzt Freiheit nicht ein, sondern ist geradezu der Grund, auf dem Freiheit sich entwickeln kann. Freiheit gibt es nicht ohne Bindung. Freiheit gibt es auch nicht ohne Verantwortung. Martin Luther hat das wunderbar zusammen gebracht in seiner Flugschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: Der Christenmensch ist ein freier Herr und niemand untertan; der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Freiheit wächst aus dem Glauben, aus der Bindung also an Jesus Christus als Freiheit von den Mächten der Welt und als Freiheit zur Liebe an den Menschen. „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott“ – sagt Martin Luther - „und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, durch den Leib und seine Werke nichts anderes tun als dem Nächsten helfen.“
Luther spricht hier ein Element christlicher Ethik an, das für die Gesellschaft insgesamt und ihre politische Kultur von zentraler Bedeutung ist.
Voraussetzung für plurales Handeln ist solche Vergewisserung, solche Erkennbarkeit, solche Motivation. Multireligiosität setzt nicht zuerst ein gemeinsames Haus voraus, sondern die Erkennbarkeit und Kenntnis der unterschiedlichen Häuser und Wohnungen, der Geschichte und Geschichten. Multireligiosität fordert nicht den Verzicht auf die Betonung der Identitäten – im Gegenteil. Wir können heute konstatieren, dass nur wenige Menschen noch – auch von denen, die getauft sind – wissen, was der Glaube bedeutet. Es gibt eine erhebliche Zahl von religiösen Analphabeten. Manche sagen deshalb: die alten Geschichten kann man nicht mehr erzählen, die versteht keiner mehr. Ich komme angesichts der Situation zur gegenteiligen Konsequenz: gerade darum müssen wir erzählen, weitergeben, was wir empfangen haben, woraus wir schöpfen. Denn in den Geschichten steckt Lebenskraft, Orientierung. Und nur wer die eigenen Geschichten kennt, kann auch die Geschichten anderer hören und verstehen! Was wir brauchen ist eine Bildungsinitiative mit dem Ziel der Vergewisserung und Erkennbarkeit. Und da sind wir gefragt als Kirche, die wesentlich auch eine Bildungs-Institution ist. Eine Gemeinschaft, die davon lebt, dass sie erzählt von dem, was sie trägt und was die Welt tragen kann.
Die Zivilgesellschaft braucht die Religionen. Die Zivilgesellschaft braucht Juden, Christen und Muslime, die die Schätze ihrer Religion in den demokratischen Diskurs einbringen und dabei zur Kraft des Friedens werden. Da, wo religiöse Orientierungen gleich welcher Herkunft Gewalt gebären und damit die Menschenwürde missachten, pervertieren sie die Rede von Gott. Denn Gott ist der Schöpfer der Welt und er will das Leben, nicht den Tod.
Um die Richtung anzudeuten, zitiere ich gerne zum Abschluss meinen Hamburger theologischen Lehrer Peter Cornehl: Die fundamentale Aufgabe der Christenheit und aller lebensdienlichen Religionen ist diese eine – nämlich erzählen und leben Bilder des Lebens – mitten hinein in eine bedrohte Welt.
Ein allumfassendes Bild des Lebens ist dieses: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein…“ Es findet sich im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes. Und wer weiß, ob nicht auch das Stadtbild der Hamburger Schüler inspiriert ist von diesem Bild des Lebens? Weil es solche Verheißungsbilder braucht in unserer unerfüllten Welt, darum braucht es Evangelische Kirche und also Evangelische Diakonie mit ihren Menschen. Denn hier wird das Wort Fleisch immer neu!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Datum
23.11.2012
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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