24. August 2013 - Gemeindesaal der Hauptkirche St. Nikolai

24. August 2013 - Vortrag zum Rittertag der Hamburgischen Kommende des Johanniterordens „Ich will dich tragen bis ins Alter“: Das diakonische Wirken der Kirche als gelebte Nächstenliebe am Beispiel unserer Bilder vom Altern

24. August 2013 von Kirsten Fehrs

Sehr geehrter Herr Kommendator,

sehr geehrte Herren Ritter,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen herzlich für die Einladung zu Ihrem diesjährigen Rittertag und fühle mich geehrt, heute den Festvortrag halten zu dürfen. Ich habe mich auf die Begegnung mit Ihnen sehr gefreut, zumal das heutige Thema mir sehr nahe ist. „Ich will dich tragen bis ins Alter“ trägt nämlich einen entscheidenden Untertitel, der sich unmittelbar auf Ihren Rittertag, respektive Ihren Orden generell bezieht: Das diakonische Wirken der Kirche als gelebte tätige Nächstenliebe. Sie ist letztlich das Credo des Johanniterordens seit seinem Anfang – die Nachfolge Jesu umfasst die Hingabe an beides: ora et labora.

 

Ganz sicher sind Sie auch deshalb heute auf das Thema gekommen, weil just morgen am 13. Sonntag nach Trinitatis der Barmherzige Samariter das Evangelium ist?! Birgt dieses Urbild der Nächstenliebe doch die theologische Grundlegung jeglichen diakonischen Handelns. Auf diese Grundlegung lege ich großen Wert, deshalb möchte ich meinen Vortrag mit ihr ein wenig ausführlicher einleiten. Zunächst geschieht in dieser bekannten Geschichte eines: der Perspektivwechsel zum Nächsten hin. Mit ganzer Kraft, den Fähigkeiten der Einfühlung und der Phantasie und des Denkens versetzt einer sich in den Nächsten hinein, der ihn akut braucht. Das kann ja wahrlich nicht jeder. Der Samariter schon. Ausgerechnet er, der von der jüdischen Gesellschaft Ausgestoßene, sieht und hört den Getretenen und „es jammerte ihn“, genau übersetzt heißt es: es rührte ihn bis an die Eingeweide. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinab zu beugen, ihn zu verbinden, ihn aufzuheben und ihn – auf eigene Kosten! – in Obhut eines Pflegedienstes zu geben.

Es sind diese zwei Bewegungen des Samariters, die das diakonische Handeln charakterisieren: Die eine Bewegung geht aus ihm heraus – raumgreifend und impulsiv –, das ist die Liebe. Sie gilt dem Nächsten oder denen, die einem zufällig begegnen, den Ferneren, Fremden, ja auch dem Feind. (Gerade heute in Hamburg, angesichts Hunderte von Flüchtlingen, ist das neu zu hören: unsere biblische Tradition spricht vom Lieben. Liebe den Fremden. Nicht: toleriere, respektiere, nein. Lieben, zurück): Und die andere Bewegung, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Herunterkommen. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Macht, die Unversehrtheit, den eigenen Erfolg. Das Absteigen ist Statusverzicht. Die christliche Vorstellung von Gott selbst ist das Muster für diese Art zu leben. Gott als der heftig Liebende steigt ab in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Und so ist es nicht zuallererst Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern ein Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist.

 

So verstanden enthält diakonisches Handeln ein radikales Moment. Es gilt, ohne das jetzt süffisant zu meinen, vom Esel des sozialen Ranges, vom Esel der Ansprüchlichkeit, ja auch vom Esel des eigenen Schmerzes zu steigen. Denn man kann mit keinem solidarisch sein, wenn man oben, rechts oder links, in jedem Fall woanders ist. Man wird keinen wirklich verstehen, den man nicht anschaut, den man gar ablehnt, die man nicht wenigstens ein bisschen mag. Mehr noch: Wollen Sie wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, muss man sich hinknien und sich unter den Verletzten begeben. Nur von ganz unten vermögen Sie jemanden aufzuheben. Die Pflege eines Menschen verlangt einem das Ganze ab, vielleicht haben Sie es selbst erlebt: es verlangt konzentrierte Kraft und Liebe von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt, die viel hält und aushält.

 

Denn in der Pflege, Sie merken ich nähere mich dem Thema im Thema, geht es immer ums Ganze, ums Ganze menschlichen Lebens. Um den Jammer, die Verlegenheit, die Scham, die Endlichkeit, das nicht hinsehen können. Und immer wieder die Liebe, die einen wehrlos macht und impulsiv und deshalb aktiv. So lässt Jesu Gleichnis uns gerade nicht aus der Pflicht heraus fragen, was muss ich tun? Sondern vielmehr haben wir die Freiheit zu fragen: Was will Gott in mir an Kräften frei setzen? Und was tue ich dann damit, was tue ich sinnvoll mit meinem Glauben, meinem Hoffen, meinen Gaben, meinem Humor, meiner Ritterehre? Wem werde ich damit zu einer, zu einem Nächsten? Als Johanniter?

 

Ich stehe mit Bewunderung und Achtung vor der Vielfalt Ihres sozialen Engagements. Ich konnte sie ein wenig auf dem Kirchentag in seiner Unterschiedlichkeit kennenlernen und Sie dazu. Und damit Sie heute mich ein wenig kennenlernen, möchte ich Ihnen anhand des Themas eines meiner Schwerpunkte als Bischöfin nahebringen – und das ist die Seelsorge. Ich bin für fast alle Bereiche der Seelsorge in der Nordkirche zuständig, sie ist meine Herzensangelegenheit. Gerade in den Grenzsituationen des Lebens sind wir als Kirche unverzichtbar in dieser Gesellschaft. Ob im Krankenhaus, in der Psychiatrie, Abschiebehaft, im Hospiz, im Pflegeheim. Heute nun möchte ich Ihnen den Arbeitsbereich „ Leben im Alter“ vorstellen und mich inhaltlich damit auseinandersetzen, welche Konsequenzen der sogenannte demographische Wandel hat. Denn ich halte dies für die entscheidende Herausforderung der Gegenwart, nicht nur für Kirche und Diakonie – Sie als Johanniter werden angesichts Ihrer Betreuung der Alten- und Pflegeheime u.a. in Wedel und Wentorf, der Wohnanlage St. Johannis zu Bergedorf oder das Eckard v. Estorff-Stift in Jenfeld Ihre eigenen Erfahrungen einbringen.

 

Das Thema Alter und Altwerden beschäftigt oder besorgt einen in den unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich dicht. Und es ruft in uns allen, ich bin sicher, innere Bilder wach. Ich fand es reizvoll, diesen heute einmal nachzugehen (zu diesem Zweck sind hier freundlicher Weise Beamer und Leinwand aufgebaut worden: vielen Dank!)

 

 [Bild der runzeligen alten Frau]

Sie hat etwas ziemlich Gewitztes und Herausforderndes, die alte Dame, finden Sie nicht? Als wollte sie sagen: So, so. Übers Leben im Alter wollt Ihr etwas erfahren. Voilà - schaut mich an!

 

Sie hat sicher eine Menge hinter sich. Ihr kann man so schnell nichts erzählen, aber es wäre schön, sie erzählen zu hören. Ich würde mich gern mit ihr unter einen der jetzt blühenden Bäume setzen und darüber reden, wie sie manch Winter überstanden hat und wer ihre Sonne war. Würde sie fragen, welchen Traum sie gehegt, welches Kreuz sie zu tragen hatte und welche Hoffnung sie trug. Und ich stelle mir vor, wie ihr Gesicht immer wieder neu zu lesen aufgibt und wie sie mich herausfordert zu fragen. Mich, die ich ihre Tochter sein könnte, die sich verantwortlich fühlt. Oder die Enkelin, die gern Geschichten hört, wie es früher war. Oder die Seelsorgerin, die sie begleitet. Denn „ich will dich tragen bis ins Alter“, heißt es von Gott beim Propheten Jesaja.

 

Ich will dich tragen – im Angesicht des Alters. Doch „das“ Alter hat viele Angesichte – und es gibt ebenso viele Ansichten, Bilder vom Alter und Altwerden. In sie gilt es sich einzufühlen – um nichts anderes geht es bei tätiger Nächstenliebe. Einfühlung. Deshalb stehen gerade nicht Zahlen und Statistiken und messbare Daten heute Vordergrund; sie ermüden (jedenfalls mich) meistens eher. Vielmehr geht es um Eindrücke, Erkenntnisse, Seelsorge. Zunächst um

 

I           Ansichten vom Alter in unserer Gesellschaft

 

 [Bild und Text Albert Schweitzer]

Albert Schweitzer hat einmal gesagt: „Mit zwanzig Jahren hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit vierzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat, und mit sechzig das Gesicht, das er verdient.“

 

Und ich schaue ihn selbst an und sage: Da hat er recht. Das Leben prägt uns. Das Leben, wie es uns widerfahren ist, aber auch wie wir es entschieden haben, hinterlässt Spuren. Das kann man sehen, und mehr noch: man sollte es auch sehen. Denn es ist ein Verdienst, wenn ein Gesicht von der Schönheit, den Tragödien, dem Charme, dem Schmerz, der Angst und den Hoffnungen eines ganzen Lebens zu erzählen weiß.

 

Offenbar ist dieses zu sich Stehen im Alter – nach langen Jahrzehnten des Jungbleibenwollens – heutzutage wieder en vogue. Es wächst eine gesellschaftliche Akzeptanz des Alters, die kritisch auf abwertende Typologien reagiert, wie sie sich zum Beispiel in folgenden Assoziationen widerspiegeln: Alt und krank. Alt und gebrechlich. Alt und hinfällig. Alt und arm.

 

[Foto von Tina Turner]

 

a)        Die jungen Alten

 

Darf ich vorstellen? Rocklady Tina Turner, Jahrgang 1939. Das Beinwunder ohne Venencreme. Noch vor kurzem hat sie erfolgreich eine Welttournee hinter sich gebracht.

Ja, es gibt sie schon länger, die jungen Alten, die nicht die Defizite des Altwerdens, sondern im Gegenteil fast mit einem gewissen Trotz dessen Potentiale in den Blick rücken. Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an! So zeigte die Kosmetikwerbung für Feuchtigkeitscreme auf einem riesigen Plakat am Hauptbahnhof eine stolze, faltenreiche Mittsechzigerin, ausstrahlungsstark, leistungsfähig und – schön! Das hätte es vor 10 Jahren nicht gegeben.

 

Dieser Trend kommt nicht von ungefähr, stecken doch dahinter wie so oft ökonomische Interessen. Der Markt hat die „jungen Alten“ entdeckt. Jene Zielgruppe also, die äußerst zahlungskräftig inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland ausmacht, und die ihre Berufstätigkeit zu einem Zeitpunkt aufgibt, an dem sie noch einmal richtig etwas anfangen will. Ganz anders als die 65-Jährigen vor 40 Jahren tut man etwas für sich, ist modisch gestylt, durch Reisen gebildet, durch Golfspiel (und anderen Sport) körperlich fit, und in jeder Hinsicht ein interessanter Wirtschaftsfaktor.

 

[Bild von Johanniter-Rittern der Kommende Hamburg]

 

Doch nicht nur dies – sie sind auch die Zielgruppe mit einem hervorragenden bürgerschaftlichen Engagement. Ohne die jungen Alten keine ehrenamtliche Hospizbewegung, kein Mitternachtsbus, keine Kirchengemeinderäte und keine Kommenden, ohne sie keine Lesehilfe für Migrantenkinder, keine Großelterndienste für Neugeborene, keine Hamburger Tafel, kein Sportverein, ohne sie keine Johanniter-Unfallhilfe. Ihre Erfahrung, ihr Kenntnisreichtum, ihre Lebensfreude und ja, auch ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Und das wissen Politik und Kirche zu schätzen, in Hamburg allzumal – manchmal mehr, manchmal zu wenig. Sie, wir wissen es und rechnen damit, weil wir ohne diese Menschen unsere Dienste gar nicht aufrecht erhalten könnten.

 

Altwerden hat also Potential.

Und die Aktivität der jungen Alten ist ein Potential.

Das ist die eine Seite der Medaille.

 

[Bild von alter Frau und altem Mann]

b)        Alt werden heißt Grenzen fühlen

 

Die andere Seite, gern verdrängt und dennoch allzu gegenwärtig, sind die Grenzen, die der alt werdende Körper und Geist dem Menschen aufgibt zu verkraften. Bekannt ist ja, dass ab dem 30. Lebensjahr der körperliche Abbau beginnt, und früher oder später fühlt man ihn auch. Die einen mit 60, die anderen mit 70, andere erst mit 85 Jahren. Meistens peu à peu, sukzessive. Potential und Grenze liegen immer dichter beieinander. Ich sehe etwa meine Mutter vor mir, die bei jedem Faschingsfest für die Senioren als Queen Mom auftrat, um die „alten Leute“ zu vergnügen. Dies wäre in ihrem 85. Lebensjahr fast gescheitert, weil sie wegen der schmerzenden Knie kaum die Treppe zur Bühne hochkam.

 

Wissenschaftlich wird das Altern als „eine Folge biologisch-genetischer Endlichkeit des Lebens“ beschrieben. Die Frequenz der Zellteilungen verringert sich kontinuierlich, bevor sie schließlich ganz aufhört. Heißt auf gut Deutsch: Die Brillengläser werden immer stärker, Hörgeräte nötig, auf dem Einkaufszettel steht Tena-Lady und Erinnerungslücken häufen sich. Dies alles macht ängstlich und unsicher und hemmt die Freude, sich zu bewegen, gemeinschaftlich etwas zu unternehmen und etwas Unvertrautes zu riskieren. Der Lebensradius wird kleiner, die Einsamkeit größer. Und irgendwann treibt einen die bange Frage um, wie lange man womöglich noch allein in den eigenen vier Wänden zu Recht kommt. Ob man nicht doch eine Patientenverfügung verfassen sollte? Ob die kleinen Ausfälle und das schlechter werdende Gedächtnis schon eine beginnende Demenz anzeigen? Keinesfalls, das ist heutzutage meiner Wahrnehmung nach die schwerste innere Not, möchte man irgendjemandem zu Last fallen, den Liebsten am wenigsten. Mir kommt dabei Walter Jens in den Sinn, ein Mann mit ehemals hervorragendem, dann zerrüttetem Geist, der nur noch getragen werden konnte – von Pflegekräften, vor allem aber von einer in kluger Liebe verbundenen Frau. – Ab einer gewissen Lebenssituation (nicht Lebensalter!) kreisen die Gedanken viel eher um die Grenzen als um die Möglichkeiten des Lebens.

 

Die dagegen, die sich auf ihren Körper noch gut verlassen können, die wir laufen und springen und schnell sind und schnell sein müssen, wir können uns in die Verzagtheiten des Altwerdens oft nicht recht einfühlen.

 

 [Bild zum Anzug]

 

Es sei denn, wir machten es wie diese Konfirmandengruppe, die - eine Taucherbrille auf der Nase, Hörschutz auf den Ohren und mit einem Simulationsanzug bekleidet, auf einmal am eigenen Leibe erfährt, wie sich Altsein anfühlt. Da zerren Zusatzgewichte von 15 Kilo am Körper, alle Sinne sind eingeschränkt, die Gelenke muss man gegen dicke Klettbänder anbeugen. Will man Schuhe anziehen, gerät man ins Schwitzen. Auch Zeitung lesen gelingt nur, wenn die Buchstaben groß genug sind.

 

Es gäbe noch viel Erhellendes zu der Frage zu sagen, die selbst so alt ist wie Menschheit: Ab wann nämlich der Mensch definitiv alt ist. Und nicht mehr jung-alt. Mit Mut zur Lücke möchte ich eines nennen, das dies meiner Beobachtung nach bewusst macht:

 

c)        Alt…. und zu Fall gebracht

 

[Bild mit Rollator]

Ich glaube, es ist das Fallen. Unter die Räuber. Oder über die Teppichkante. In dem Moment, wo jemand – man weiß gar nicht, wie das kam – auf einmal auf dem Boden liegt und nicht mehr allein aufstehen kann, weil einem die Kraft dazu fehlt, in dem Moment gehört man zu den „Gestürzten“. Der Schock über das Versagen und die Unsteuerbarkeit des Körpers sitzt so tief wie die Sorge, dass man womöglich nie mehr ohne Hilfe leben kann. Der Oberschenkelhalsbruch, erfolgt „aus innerer Ursache“, der auf kurz oder lang in eine Pflegeeinrichtung führt, gehört zu den Schreckgespenstern des Alters. Und so ist subjektiv empfunden zunächst der ja ansonsten segensreiche Rollator nicht die Gehhilfe; er ist wie ein Symbol der Abhängigkeit, die ab jetzt zunehmen statt abnehmen wird. Womöglich bis zum Ende der Tage. Deshalb mag man ihn oft nicht nutzen. Er zeigt einem: Man ist bestürzt und betagt. Die eigenen Füße tragen nicht mehr, man muss sich tragen lassen.

 

Ich will dich tragen bis ans Ende, spricht Gott. Ein Zuspruch, der uns nicht ohne Aufgabe lässt. Die nicht, die manchmal mit bitterem Stolz lernen müssen, Hilfe überhaupt anzunehmen. Aber auch die, uns nicht, die wir die Würde des alten Menschen so achten, dass wir sie tragen, wohin sie wollen. Zugleich ist wichtig zu hören: Gott trägt auch die, die tragen. Er trägt die, die sich in der Helferrolle befinden bei all den Momenten der Ungeduld, des Mitleidens und Ungenügens, bei all den eigenen körperlichen Grenzen, die eine Pflege zu Tage treten lässt.

 

 

II.         Umgang mit Alter in Politik, Diakonie und Kirche

 

Was nun folgt aus diesen Bildern, Beobachtungen und Interpretationen für den Umgang mit Alter in Politik, Diakonie und Kirche? Auch hier, mit Mut zur Lücke, möchte ich mich auf drei Schlaglichter beschränken: Generationensolidarität, Biographiearbeit, Seelsorge.

 

[Foto mit altem Mann und Neugeborenen auf einer Seite]

 

Sie, wir sind uns doch in vielem so ähnlich, die Jungen und die Alten, warum sollten wir also nicht zusammen halten, was zusammen gehört? Und so bin ich bei der

 

a)        Generationensolidarität

 

Vor fast 15 Jahren ging ein Aufschrei der Empörung durch die Welt, als Medienberichten zufolge in China eine Waschstraße für alte Menschen in die Produktion genommen werden sollte. Das Prinzip war ganz einfach: Wie Autos sollten alte Menschen auf einem Fließband einer Wasch- und Pflegeprozedur unterworfen werden, ohne dass dafür Personal erforderlich wäre. Man bewertete dies als gefühlsrohe Eskalation des Generationenkonfliktes, der sich schlüssig aus der demographischen Entwicklung ergäbe.

 

Zwei Dinge finde ich dabei heute bemerkenswert, nämlich erstens, wie lange die demographische Entwicklung uns letztlich in seiner ganzen Dramatik schon bekannt ist. Und: wie zögerlich darauf allerorten reagiert wird. Es mögen sich Zahlen und Details verändert haben, der Trend war bereits Mitte der 80er Jahre bekannt und virulent. Kurzfassung: Die Zahl der rüstigen, aktiven Alten wird wachsen, so dass sie in ca. 20 Jahren (wenn ich pensioniert werden könnte) etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen. Viele Ältere werden hochbetagt werden. (100 Jahre nicht mehr selten). Damit verbunden wird auch die Zahl der Menschen mit Demenz und Mehrfachbehinderungen, wie es so formal heißt, steigen. Zugleich werden die finanzielle Absicherung der alten Menschen und damit die notwendigen Pflegeleistungen immer weniger gesichert sein.

 

Damit komme ich zum Zweiten, was ich bemerkenswert finde: Ist die Idee einer Waschstraße - so inhuman sie klingt - auf kurz oder lang wirklich so unwahrscheinlich? Oder anders gefragt: Wer eigentlich soll uns, z.B. die geburtenstarken Jahrgänge pflegen, lässt sich doch jetzt schon ein Mangel an qualifiziertem Personal deutlich erkennen? Schon jetzt ist der Pflegenotstand real. Und dieser dürfte angesichts der körperlich und psychisch anstrengenden Arbeit der Pflegekräfte mit einer – aufgrund des gesamten Kostendrucks – letztlich zu geringen Bezahlung eher schlimmer werden als besser.

 

Folgerichtig hat man vor allem im letzten Jahrzehnt in Diakonie, Politik und Kirche neue Wege zu beschreiten versucht, wobei vieles in der Umsetzung erstens schwieriger war als man zweitens dachte. Wege, mit denen die Autonomie der Älteren und Alten stabilisiert werden soll. Indem man Teilhabe ermöglicht, Teilhabe an gesellschaftlichem Diskurs und Meinungsbildung, an Kultur, Nachbarschaft und sozialer Gemeinschaft.

 

[Foto von Kinderfoto damals / beiden spielenden Kindern heute]

 

Mit dieser Zielsetzung war es naheliegend zu schauen, wie man nachhaltig die Generationen verbindet, wie man Solidarität fördert statt Feindschaft und Kampf. Die Idee der Mehrgenerationenhäuser bzw. der generationsübergreifenden Wohngemeinschaften als Win-Win-Situation war sozusagen eine natürliche Geburt. Bei der Umsetzung solcher Projekte allerdings zeigt sich, wie schwer es ist, dass Alt und Jung nicht nur koexistieren, sondern sich auch kennenlernen, verbinden und nützen. Es geht um mehr als neue Wohnformen und Stadtteilprojekte, es braucht, davon bin ich überzeugt, auch ganz bewusste, neue Kommunikationsformen, die das Gespräch der Generationen gezielt aufbaut.

 

Glücklicherweise gibt es dazu in Diakonie und Kirchengemeinden wunderbare Initiativen. Gemeinsam mit den Senioren zum Beispiel wird im Elbschloss an der Bille (Stadtteil Hamm) gebacken und gekocht, es wird in Barmbek im benachbarten Seniorenheim ein Erzählcafé mit Konfirmanden eingerichtet, es werden mit ursprünglich kirchlichen Initiativen wie „Wellcome“ ehrenamtliche Großeltern an junge Familien vermittelt, denen das Neugeborene gerade das Haus auf den Kopf stellt.

 

[Bild mit der Faust / Babyfaust]

Und noch einmal: es geht um Kommunikation in dem Bewusstsein, dass das Alter nicht nur Einschränkung und das Kind-Sein nicht nur Entwicklung bedeutet; der Dialog der Generationen zielt geradezu darauf, bei den einen das Kind und dem anderen die Weisheit zu entdecken. Wie könnte dies schöner symbolisiert sein als durch diese kleine, knurrige, faltige Babyfaust?

 

Ich will dich tragen bis zum Alter…Denn du sollst leben. Leben, das ist das Ziel, sagt der Prophet Jesaja an anderer Stelle. Leben. Mit den Potentialen und den Einschränkungen. Das heißt, beides realistisch einzuschätzen und – in allen Lebensaltern – die Grenzen und Möglichkeiten gleichermaßen auszuloten. Auf dem Arbeitsmarkt hat diese alte Erkenntnis zu neuen Einsichten geführt. So findet in vielen Konzernen ein Change-Management statt, mit dem man nicht mehr ausschließlich auf schnelle, mobile, junge ArbeitnehmerInnen setzt, sondern in einem gutem Maß auf das Erfahrungswissen der bereits (mehrfach) in den Ruhestand verabschiedeten Leistungsträger zurückgreift.

 

[Foto von jungem Mann und alter Frau und Teegeschirr]

 

b)        Biographiearbeit

 

Was Sie hier sehen, ist nicht nur das anrührende Zusammenspiel des jungen Diakons mit einer alten, schwer dementen Frau. Was Sie hier sehen, ist „Leben im Alter“, ist ein Projekt, mit dem sich Kirchengemeinden vor Ort angesichts der demographischen Entwicklung verändern. Denn auch dort gilt es ja, sich auf zunehmend aktive Ältere im sogenannten 3. Lebensalter, die ehrenamtlich mitwirken wollen, einzustellen und auf viele Hochbetagte im 4. Lebensalter. Beides bedeutet einen Paradigmenwechsel vom (salopp gesprochen) „Betreuungs- und Betüddelungsprogramm“ hin zu gezielter Begleitung. Und eines der erfolgreichsten Projekte ist dabei die Biographiearbeit, weil sie der individuellen Lebensgeschichte – wie Klaus Dörner sagt – zur Bedeutsamkeit verhilft.

 

Was Sie also hier auf diesem Foto sehen, ist die Kindheits-Erinnerung, die den Tag hell und die Seele froh macht; im Hantieren mit dem Puppenservice kommt die alte Dame nach langer Zeit der Desorientierung wieder bei sich an. An die Biographie anzuknüpfen und damit das gelebte Leben zu würdigen, hat nachweisbar heilsame Funktion; gerade bei Dementen. Und so geht der Diakon sowie etliche von ihm fortgebildete Ehrenamtliche aus der Kirchengemeinde regelmäßig ins Pflegeheim, in dem 40% der Bewohner dement sind, und sprechen und spielen mit ihnen. Ich finde dies einen beispielhaften Brückenschlag zwischen Pflegeheim und Kirchengemeinde, wie ich es mir viel öfter wünschte!

 

Die innere Haltung der Biographiearbeit ist segensreich, weil wichtiger Kontrapunkt in unserer Gesellschaft: nicht urteilen, nicht korrigieren, sondern verstehen. Einfühlen. Und so komme ich zum letzten Begriff: der

 

 

c)        Seelsorge

 

Die Seelsorge ist die Muttersprache der Kirche. Sie ist uns mitgegeben - von dem Moment an, in dem Jesus den Verwirrten beruhigt hat, die Kranke geheilt, die Sünderin angehört, den Suchenden gefragt hat: Was willst du, dass ich dir tu? Mit Gestus, Wort und Ritual ist sie eine vielschichtige Sprache der Zuwendung, die Menschen hilft, sich selbst zu verstehen, sich selbst zu befragen und sich in den Grenzsituationen des Lebens getragen zu fühlen. Und so ist sie die Sprache, die wir als Kirche in die Gesellschaft einbringen. Und, wie ich finde, die wir vermehrt einbringen müssen. Professionell. Sensibel. Zeitgemäß und zuverlässig. Im Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamtlichen, von Stadt, Diakonie, Kirche – und Johannitern. An den Zäunen und in den Heimen, wo man ihrer besonders bedarf.

 

[Bild einer alten Frau]

 

Dazu eine letzte Geschichte.

Annemiete liebte wie ich Kohlrouladen und so lernten wir beiden Dithmarscherinnen uns im Pflegeheim am Mittagstisch kennen. Ich habe sie oft besucht, denn sie war eine einzige Geschichte. Sie würde wohl langsam alt, meinte sie, sie erzähle so viel von früher. Nun ja, sagte ich, 93 kann man noch nicht wirklich als alt bezeichnen. Und dann kicherte sie. Das Feine (Annemiete war sonst bestimmt nicht das, was man eine feine Dame nennt) war ihr Humor. Wenn der Sensenmann zu ihr käme, sagte sie manchmal, müsse er eine gute Portion Humor mitbringen, sonst überlebe der das nicht.

Eines Tages ist Annemiete ganz durcheinander. Und zögernd rückt sie heraus mit der Sprache: Sie hatte „ihn“ gesehen. Dort an der Tür. Er stand und hat sie ganz lange angeschaut und ist wieder gegangen.

Wie sah er denn aus? frage ich.

Dunkel.

Wer glaubst du, war es? Der Sensenmann?

Nein, sagt sie. Zögert. Vielleicht der Engel. Sie hat Angst, das spüre ich. Und behutsam reden wir über diesen, über ihren Engel. Er kommt, um mich zu holen, sagt sie schließlich ganz ruhig. Und es ist fast so, als wäre sie erleichtert. Findest du das nicht ziemlich spökenkiekerig? fragt sie. Nein, sage ich. Das finde ich überhaupt nicht.

 

Einige Wochen später erzählt sie ganz aufgeregt, dass er wieder da war. Er stand am Bett, viel freundlicher. Gesagt hat er wieder nichts. Doch sie ist sich jetzt sicher. Dass sie nach Hause kommt. Zu ihrem Heinz. Endlich. Wenige Tage darauf stirbt sie.

 

Ich habe das öfter erlebt: Am Übergang steht ein Mittler zwischen dieser und jener Welt und nimmt bei aller Unausweichlichkeit dem Tod seinen Stachel. Er spricht wie alle Engel das „Fürchte dich nicht“, ohne zu leugnen, dass es Schmerz gibt und Ängste. Er weiß um die Angst vor der Dunkelheit. Davor, nicht mehr selbst bestimmen zu können, wann ich leben und wann ich sterben will. Er weiß um die Ängste und trägt sie mit.

 

[Bild vom alten Mann mit dem Pfleger]

 

„Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan und ich werde heben und tragen und erretten.“ So heißt das Bibelwort Jesajas nun vollständig und meint: Die Gnade bleibt. Denn es gibt so viele - mag sein, es sind Engel - die heben und tragen. Und sie zeigen: Die Gnade bleibt, wenn der Mensch wird, wächst und vergeht. Sie bleibt, wenn er träumt, zweifelt, denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt, sie bleibt, wenn einem Hören und Sehen vergeht. Die Gnade bleibt. Welch Kraft ist diese Botschaft der Seelsorge in einem Gesellschaftsspiel, in dem die Karten manchmal allzu ungnädig verteilt scheinen. Was soll ich noch sagen: Eine Kraft, die hebt und trägt und rettet.

 

[Foto einer alten Frau, die schaukelt]

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Datum
24.08.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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