26. August 2012 - Predigt zu Apg 3, 1-10
26. August 2012
Liebe Gemeinde! Wahrscheinlich haben Sie´s gewusst. Sonst wären Sie womöglich gar nicht hier, in Greifswald und heute in St. Jacobi und: beim Chorfest! Tagelang. Fröhlich, ausgelassen, experimentell.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen
Liebe Gemeinde!
Wahrscheinlich haben Sie´s gewusst. Sonst wären Sie womöglich gar nicht hier, in Greifswald und heute in St. Jacobi und: beim Chorfest! Tagelang. Fröhlich, ausgelassen, experimentell. Alle sind regelrecht „angefüllt“ mit Tönen! Mit Musik. Lebendiger Innigkeit. Nun, bestimmt haben Sie es gewusst, dass Singen gesund ist. Je nach Inbrunst nämlich werden beim Singen unzählige Gesichtsmuskeln betätigt, die Stimmbänder schwingen, der Kreislauf kommt in Wallung und die Ohren auch. Und weit mehr noch. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass der gesamte Stoffwechsel durch Singen beeinflusst wird: Im Gehirn wird das Belohnungszentrum aktiviert, die Stressanfälligkeit wird geringer und der Körper setzt ein Hormon frei, das die soziale Bindungsfähigkeit fördert. Wer viel singt, ist demnach ausgesprochen verträglich – ein freundlicher Gruß zu diesem überaus feinen Chor scheint mir hier angebracht.
Nicht dass dies neu wäre. Dass dem Singen, beziehungsweise der Musik überhaupt heilsame Kraft innewohnt, hat schon vor Jahrtausenden David geahnt. Er vermochte den schwermütigen König Saul mit seiner Harfe und seinen Lieder in dessen verzweifelter Wut zu besänftigen. So dass der es wieder eine Weile aushalten konnte mit sich selbst.
Das Heilsame beim Singen besteht offenbar darin, dass es eine Dimension erreicht, die ganzheitlicher ist als alles, was wir sonst kennen. Die Sinne kommen zusammen und so entsteht eine Schwingung, die das Innere bis in seine Erschütterungen hinein „versteht“. Eine Schwingung von Körper und Seele, die uns als ganzen Menschen aufnimmt und in der Sprache der Musik geborgen sein lässt. Auf einmalige Weise verbinden sich beim Singen Körper und Geist. Dabei kommt es nicht auf die richtige Note an, sondern auf den richtigen Ton. Und um all denen unter uns die Ehre zu geben, die gemäß Wilhelm Busch ihren Gesang eher so beschreiben würden, dass „Musik vor allem mit Geräusch verbunden“ – auch das Singen anderer kann uns in der Tiefe erreichen. Mir jedenfalls geht es oft so, dass ich durch manchen Gesang von heftigen Empfindungen wie Trauer und Glück überrascht werden kann. Jenseits von Text und Intellekt gelangt die Musik in einen Bereich, in dem das Sehnen wohnt und die Herzhaut bebt. In dem sich – manchmal ganz unerwartet - Horizonte auftun, hinter denen es weiter geht.
Er dagegen, er hat von all dem nichts gewusst. Er dort in unserer Predigtgeschichte hat, so legt es sich nahe, nicht gewusst, wie es weiter gehen soll. Denn er ist gelähmt. Nicht nur, was seine Beine angeht. Sondern auch seine Gedanken. Sein Sehnen. Und so wagt er gar nicht zu hoffen, dass es das Heil, dass es tatsächlich Heilung für ihn gibt. Dass er wieder wie andere leben und lieben könnte und arbeiten und singen – und in den Tempel gehen. Also sitzt er da wie jeden Tag – da am Tempel in Jerusalem am schönen Tor, den Blick auf den Boden gerichtet. Da, meint er, gehört er hin. Nach unten. Einen Horizont gibt es nicht. Und auch keine Aussicht.
Sieh uns an.
Es ist das Erste, was Petrus in unserer Predigtgeschichte sagt. Und es ist für mich das Entscheidende. Evangelium in drei Worten: Sieh uns an. Hebe die Augen auf. Lass dich respektieren, indem dein Blick gesucht wird und Erwiderung findet. Nicht verschämt, einen Silbergroschen abwerfend und schnell, schnell weiter. Sondern zugewandt. Ruhig. Klar. Auch ein Blick ist eine Antwort. Also: Hebe die Augen auf. Es geht um Ansehen in unserer Geschichte. Wie sonst, sagt Petrus, sollst du erkennen, dass Gottes Angesicht leuchtet über dir?
Seit etlichen Jahren lebe ich nun schon direkt neben der St. Jacobi Kirche in Hamburg, direkt neben der größten Einkaufsstraße der Stadt. Genau am schönen Tore des Konsumtempels. Jeden Abend nun gegen acht Uhr kann man eine zierliche kleine Frau sehen – sie kann 30 oder 50 Jahre sein. Mit der einen Hand schiebt sie einen Einkaufswagen vor sich her und zieht mit der anderen Hand einen weiteren hinter sich her. Ihr Kopf ist dabei immer gesenkt. Nach unten. Das ganze Leben befindet sich in zwei Einkaufswagen. Diese Frau ist wie eine Art Startsignal. Binnen kurzem richten unzählige Obdachlose in den Ladeneingängen ihre Lager. Vermummt in Schlafsäcken, rechts und links Tragetaschen, ein Hund, Spritzbesteck. Auch eine Familie ist neuerdings darunter. Gebrochenheit am schönen Ort. Den ganzen Tag strömt hier Lichterglanz und Menschen, die sich etwas leisten können. Am Abend dann pocht der Schmerz der Armut. Was soziale Kontraste sind, das erfährt man hier ganz real, ungeschönt, zwischen acht und neun.
Und eben: keiner schaut gern hin. Die meisten, vorzugsweise die, die in Prozentzahlen darüber reden, haben selten wirklich für wahr genommen, was Armut bedeutet. Wie klein sie einen macht, wie beschämend sie ist. Lähmend. Ausweglos. Was werden die Menschen, die derzeit in den Werften um ihre Arbeit bangen, diese Armut fürchten! Und dass sie womöglich bald nicht mehr teilhaben können an dieser Fülle des Lebens. Skandalös viele Kinder sind ja jetzt schon so arm in einem reichen Land wie unserem. Und alte Menschen, immer mehr. Die meisten von ihnen reden nicht. Sie halten ihre Stimme und ihren Blick gesenkt. Und so bleibt es in unserer Gesellschaft letztlich verborgen, das wahre Gesicht der Armut.
Sieh mich an.
Petrus neigt sich zu. Durchbricht die Beziehungslosigkeit, wie er es immer und immer bei Jesus erlebt hat. Und er weiß: Nächstenliebe gelingt nicht, wenn man jemanden nicht wenigstens ein kleines bisschen mag! Sich dem aussetzt, wie jemand ist und wie es ihm geht. Sich dem aussetzt, was einen zugegeben zugleich so hilflos machen kann. Ihn und uns, mit unseren Silbergroschen in der Hand. Denn diese Groschen, wir wissen es genau, lösen nicht wirklich den Bann einer Lähmung, die soziale Spaltung heißt.
Silber und Gold habe ich nicht, fährt Petrus fort. Doch was ich habe, das gebe ich dir. Ansehen eben. Achtung. Und das Vertrauen, dass da in dem Menschen, der sich so unten fühlt, eine Größe ist, die er sich selbst nicht mehr glaubt.
Was er hat, der Petrus, ist unser aller Schatz: das Evangelium von Gott gegebener Würde, die einem niemand nehmen darf. Sie gehört zu unserer Existenz vom ersten bis zum letzten Atemzug. Sie zu schützen, sind wir Christen in diese Welt gesandt. Und so haben wir auch die Aufgabe, die zu würdigen, die sich selbst nicht mehr sehen, hören, fühlen und riechen können! Denn nicht allein zu verkündigen sind wir gesandt, sondern zu heilen, sagt Jesus. Deshalb: genau hinschauen, sich aussetzen, Kontakt aufnehmen, hingehen zu den Toren der Werft. Denn, liebe Gemeinde, wir ahnen es doch alle: Von ihnen, für die wir hier heute Fürbitte halten, kommen doch die wenigsten zu uns, hierher in den Gottesdienst. Deshalb müssen wir gehen. Zu ihnen hin. Es geht darum, Beziehungslosigkeiten aufzubrechen. Das ist uns Christen als Liebesdienst aufgetragen – so wie unsere Kräfte eben reichen. Was wir haben – nicht, was wir nicht haben! – geben wir.
Und das ist so unglaublich viel und vielfältig! Gerade bei diesem Chorfest haben wir es doch erlebt, life und in Farbe: die heilsame Kraft einer Gemeinschaft, die Lebensfreude atmet und die Toleranz der vielen Töne. Eine innige Gemeinschaft, die sich mit einem Oratorium wie Elias neu die alte Rettungsgeschichte Gottes aneignet. Die sich singend er-innert, wie grundgütig Gott unsere Anfänge segnet und wie er der lähmenden Todes- oder besser: Lebensangst einen Engel entgegen sendet. Oder eben einen Petrus.
Was ich habe, gebe ich dir. Wir haben so viel zu geben. Wenn wir es uns doch selbst manchmal mehr glauben würden! Wir haben so vieles an Worten, Liedern, Taten, so vieles an visionärer Kraft und vor allem Hoffnung, so vieles, was heilsam ist in dieser Gesellschaft mit ihren verschiedenen Arten der Armut. Mit ihren Lähmungen. Mit ihren schönen Toren. Mit ihrer Gewalt.
Ich glaube, dass viele Menschen sich heutzutage nach dieser Sprache der Hoffnung sehnen. Eine Sprache, die die Seele erreicht. In unseren Gemeinden ebenso wie andernorts in der Gesellschaft. Denn so viele sind obdachlos – nicht allein physisch, sondern auch metaphysisch obdachlos. Sie haben kein Dach mehr, das Tradition heißt. Keine Worte mehr für die Liebe, in der Gott wohnt. Sie haben kein Dach mehr aus vertrauen Worten und Liedern, das in Erschütterungen Halt gibt. Heimat gibt, wenn man sich verloren glaubt. So viele sehnen sich nach einer Sprache, die klug ist und das Herz versteht. Die keine Floskeln produziert und den Flachbildschirm bedient. Sondern Gehalt hat. Wahrhaftigkeit. Musik ist so eine Sprache. „Der Mond ist aufgegangen“ haben wir gestern am Hafen gesungen. Und immer wieder rührt mich an, wie dieser Choral Kraft gibt und Trost. Solch Musik kann ausdrücken, was uns bewegt. Und sie bewegt in uns, was wir nicht mehr sagen können. Musik singt uns heraus aus der Lähmung der Sprachlosigkeit.
Dazu meine Schlussgeschichte aus dem „wirklichen“ Leben. „Singen Sie das hier mal!“ sagte er, nennen wir ihn Herrn Emm. Ich lernte Herrn Emm während meiner Zeit in der Gefängnisseelsorge kennen. Er saß wegen etlicher Betrugsdelikte ein und tat immer so, „als ob“. Als ob er heiratswillig sei oder Opernsänger. Ich habe nie wirklich herausgefunden, ob er Musik studiert hatte, doch Orgel spielen lag ihm. So wurde er unser Gefängnisorganist. Eines Tages kam er zu mir mit einer eigenen Komposition. Er hatte auf einem Notenblatt große Linien gemalt, Wellen, Loopings – wie eine Achterbahn. „Singen Sie das bitte“, drängte er. Am nächsten Sonntag im Gottesdienst, ich begleite Sie auch auf der Orgel.“ „Aha“, sagte ich, „das müssten wir aber vielleicht noch einmal üben? Sieht mir doch ein klein wenig kompliziert aus….“. „Nein“, entgegnete er, „das geht nur einmal.“ Am Sonntag dann reicht er mir den Text dazu: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele Gott zu dir (Ps. 42). Ich habe, liebe Gemeinde, selten etwas so Anrührendes erlebt: Jenseits aller Mendelssohn´schen Klänge, die in vielen von uns gerade aufsteigen mögen, war dieser Gesang karg und eigen. Eigentümlich schräg, doch so unerhört richtig. Dank der Orgelmusik erkannte man die echte Not von Herrn Emm, aber auch, was für ein begabter Mensch sich dahinter verbarg. Nur die Musik ermöglichte ihm Ehrlichkeit, sie brachte das Ganze zum Vorschein. Und das war so befreiend! Nach dem Gottesdienst sehe ich Herrn Emm zum ersten Mal lachen. Später erst erfuhr ich, dass er akut an AIDS erkrankt war.
Und der Gelähmte… sprang umher und lobte Gott. Es gibt manchmal ein Halleluja der besonderen Art, liebe Gemeinde. Eines, das im Angesicht des Schmerzes dennoch nicht aufhört, mit den Wundern Gottes zu rechnen. Und ich höre die schöne Musik heute und denke: Ja. Lobe den Herren! Gotteslob ist Zukunftsmusik! Es ist Musik derer, die wir uns zu hoffen trauen. Gotteslob ist Zukunftsmusik. Denn es gibt unserem Sehnen nach. Dem Sehnen nach Liebe, die einen gewiss macht – bis zum Ende. Dem Sehnen danach, zärtlich gehalten zu sein. Verbunden zu sein mit einer Kraft, die nicht aus mir selbst kommen kann. Das glaube ich. Und deshalb singe ich: Lobe den Herren! Von Herzen gern singe ich. In Greifswald und anderswo. Und ganz besonders gern mit Ihnen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen