26. Dezember 2012 – 2. Weihnachtsfeiertag
27. Dezember 2012
Die Vision vom umfassenden Frieden Predigt über Jesaja 11, 1- 10
Liebe Gemeinde,
Weihnachten hat etwas mit Politik zu tun. Die Bibel hat eine Vision vom umfassenden Frieden. Sie bringt Gerechtigkeit für die Menschen und Friede der ganzen Welt. Obwohl die Vokabel in unserem für heute vorgeschlagenen Predigtwort nicht auftaucht, beschreibt es auf wunderschöne Weise diesen Frieden, oder wie der Hebräer sagt: Gottes „Schalom“. Friede ist – sagt der Prophet – wenn Gott einen Neuanfang macht. Wenn aus einem Baumstumpf ein neuer Zweig treibt. Da wird einer auftreten und regieren, der wird ein Herrscher sein, wie man ihn sich wünscht. Ausgerüstet mit dem Geist Gottes hat er Weisheit und Verstand, die man zum Regieren braucht. Es wird ihm nicht an Ideen fehlen und er wird auch die Kraft haben, sie umzusetzen. Er wird geleitet sein von Gotteserkenntnis und getragen von Gottesfurcht. Er sorgt für die Durchsetzung des Rechtes und bringt umfassenden Frieden mit sich, einen Frieden nicht nur die Menschenwelt, sondern für die ganze Schöpfung, auch für das Verhältnis Mensch und Tier, ja sogar zwischen den Tieren. Im der prophetischen Bild gesprochen: Da werden die Wölfe bei den Lämmern lagern und der Säugling am Loch der Otter spielen. Der Unfriede, den die Sünde in die Welt bringt, wird aufgehoben.
Nach dem Sündenfall, nach dem der Mensch das Gebot Gottes verletzt und die ihm gesetzten Grenzen übertreten hat, sagt Gott ein Wort über das Verhältnis von Mensch und Schlange. Die Schlange steht dabei sowohl für die Verführerin als auch für den Teil der Schöpfung Gottes, der dem Menschen besonders gefährlich werden kann. Da heißt es: „Und ich will Feindschaft setzten zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten und der soll dir in die Ferse stechen“ (1. Mose 3,15). Die Feindschaft zwischen Schlange und Mensch ist beispielhaft für den Kampf des Menschen mit der Natur. Der Ackerbauer ringt der Schöpfung seine Nahrung ab. Das war unter den Bedingungen des Altertums nicht leicht. Dabei kam dem Bauer immer wieder die Schlange in die Quere. Wenn die Feindschaft zwischen Schlange und Mensch, zwischen Tier und Mensch, aufgehoben ist, dann ist das Paradies auf Erden.
Liebe Gemeinde, der Prophet redet von einer Zukunft, in der die Beziehungen des Menschen, unter dessen Störung er heute leidet, ins Lot gekommen sind. Weihnachten bringt die aus den Fugen geratene Welt ins Lot. Die feindliche Natur und ausbeuterische Politik sind im Lichte von Weihnachten von vorgestern.
In der gesamten Bibel haben die Herrscher für Gerechtigkeit und Recht, für Friede und Ausgleich unter den Menschen zu sorgen. Als der Prophet Jesaja im 8. Jahrhundert vor Christus seinen Blick in Jerusalem auf die dort herrschenden Könige fallen lässt, stellt er fest, dass sie dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Aber die Aufgabe ist von damals bis heute für die Männer und Frauen, die etwas in dieser Welt zu sagen haben, die gleiche. Recht und Gerechtigkeit sollen sie durchsetzen. Dadurch soll Friede und ein gerechtes Miteinander gelebt werden. Mit beiden Aufgaben hat der, der damals in der Krippe in Bethlehem geboren worden ist, sich sein Leben lang beschäftigt. Martin Luther hat es den Fürsten und Herrschern seiner Zeit immer wieder vor Augen gestellt: „Ihr seid es, die dafür sorgen müsst, dass es auf dieser Welt gerecht zugeht und dass Frieden herrscht.“ Und im 20. Jahrhundert hat die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 festgehalten: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Und wenn heute jemand fragt: „Wofür ist der Staat da? Was ist die Aufgabe von Politikern?“, dann antwortet: „Aufgabe des Staates ist es zuerst und vor allem, für Recht und Frieden zu sorgen.“
Recht und Frieden sind nun interessanterweise auch die Hauptstichworte unseres heutigen Predigttextes. Und gleichzeitig haben wie kaum ein anderer Bibeltext aus dem Alten Testament diese Worte aus dem 11. Kapitel des Jesajabuches unsere Vorstellung von Weihnachten geprägt. Unser Prophetenwort hilft uns, die reale Hoffnung zu erkennen, die sich mit der von Weihnachten genährten Sehnsucht nach Heil, Heimat und Harmonie verbindet. Natürlich treten auch sogleich Skeptiker auf den Plan – damals schon, als Jesaja und seine Schüler im 8. Jahrhundert vor Christus diese Hoffnungsvision zum 1. Mal verkündigten, aber auch noch heute.
Worin liegt die Vision Jesajas, die so wirkmächtig geworden ist? – Da malt er vor unseren Augen einen Baustumpf, der wieder treibt. Das ist ein ganz starkes Hoffnungsbild. Wir haben solche Bilder vor Augen. Da blüht eine Rose im Schnee, aus einem scheinbar abgestorbenen Baumstumpf treibt frisches Grün. „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art.“ Ja, der alte Prophet Jesaja hat davon gesungen, er hat uns dies einmalige Bild vor Augen gemalt. Ein solches Bild bezaubert uns. Es zeichnet nicht nur neues Leben auf dem Hintergrund des Todes. Es übt auch auf unverkennbare Weise Kritik am bisherigen Herrscherhaus aus. Die, die zur Zeit Jesajas auf dem Thron in Jerusalem saßen, kamen ja aus dem Stamm und Geschlecht Davids. Das prophetische Bild sagt uns nicht weniger, als dass Gott dahinter zurückgeht. Es ist Kritik am herrschenden Königshaus. Dieses Haus Davids, die herrschende Politikerkaste, wird abgehauen wie ein Baumstamm umgehauen werden kann. Aber Gott bleibt sich treu. Er wird an der gleichen Wurzel ansetzen und Neues schaffen.
Ja, das waren noch Zeiten gewesen, in denen es dem aus kleinen Verhältnissen kommenden König David gelungen war, die miteinander konkurrierenden Stadtstaaten und Sippen zu einem Staat Israel zu vereinen. Aber jetzt war das davidische Reich wieder in zwei Teilstaaten auseinander gefallen. Der außenpolitische Druck war groß. Die Assyrer standen vor der Tür. Innenpolitisch zerfiel das Reich. Arme und „Elende“, das heißt: Geschundene und Geschlagene, gab es in wachsender Zahl. Die kleine Oberschicht, die sich alles leisten konnte, und der es gut ging, kümmerte sich nicht um sie.
Auf dem Thron Davids saßen Versager. Sie suchten ihren eigenen Vorteil, richteten sich nach dem Augenschein und kümmerten sich nicht um das Elend des Armen. Doch als der Prophet redet, mögen die ersten Hörer aufgemerkt haben. Er redet ja gar nicht vom „Haus Davids“, sondern vom „Stamm Isaiis“. Isai war der Vater Davids. David kam aus einer kleinen, bäuerlichen Familie in Bethlehem. Wenn der Prophet nun Isai, aber nicht David erwähnt, dann ist dies eine ungeheure Kritik am gegenwärtig in Jerusalem auf dem Thron sitzenden Davididen. Er sagt nicht weniger, als dies: Gott setzt in der Spur seines alten Handelns noch einmal neu an.
Genau das ist übrigens mit Jesus geschehen. Er stammt aus dem Geschlecht Davids. Er ist in Bethlehem geboren. Gott knüpft an die Spuren seines vormaligen Handelns wieder an. Aber er macht einen Neuanfang.
Jesus ist nicht ein Herrscher, wie die Könige Israels und Judas sie gewesen sind. Sie alle regierten, wie weltliche Herrscher handeln müssen, nämlich mit Macht und Gewalt. Ganz anders aber regiert dieser Herr Jesus Christus. Er predigt und erzählt von der Güte Gottes. Er liebt die Menschen, mit denen er umgeht. Er hat ein Herz für die Armen und Elenden. Er nennt das Unrecht mit Namen und klagt die Übeltäter an. Er leidet für seine Überzeugungen. Er stirbt für die, die ihm nach dem Leben trachten. Nach seinem viel zu frühen Tod entfaltet sich seine Wirkung erst recht. Er erobert die Herzen und kehrt in die Häuser ein. Er prägt das Denken und gestaltet im Laufe der Jahrhunderte die Kulturen und Gesellschaften um.
Seine Anhänger führt er in der Kirche zusammen, einer vielfach gegliederten und durch den Heiligen Geist geleiteten geistlichen Gemeinschaft. Seine Kirche überdauert viele menschliche Reiche und Systeme. Gewiss, auch dieser neue Trieb des alten Baumes, die Kirche in der Spur der Verheißung wird alt und morsch. Schon im Mittelalter ist sie häufig in einem Zustand, der unverantwortlich scheint. Kirche klärt nicht auf, sondern hilft, die Menschen auszubeuten. Sie lässt sich missbrauchen, damit einige wenige Mächtige Reichtum anhäufen können. Ihre Diener kennen das Recht und die Wahrheit Gottes nicht mehr. Da bricht in Wittenberg ein neuer Trieb hervor. Auch an anderen Orten sprosst es aus dem alten Stamm. Mit der Reformation erneuert sich die Kirche am Haupt und an den Gliedern. Sie wandelt sich leider aber später zur Aufklärungskirche und inthronisiert eine neue Göttin, die Vernunft, die, weil sie sich verabsolutiert, zum Schluss alles im blutigen Terror enden lässt. Wieder wächst ein neuer Trieb auf, die Erweckung, um Vernunft und Herz zu versöhnen. Das „Dritte Reich“ hält den christlichen Glauben für so gut wie erledigt. Der real existierende Sozialismus meinte, die Kirche überwunden zu haben. Aber die Wurzel ist noch fruchtbar. Lasst uns darum beten und dafür handeln, dass der Herr der Kirche aus dem Wurzelstock eine neue Kirche auch heute wachsen lässt, die ganz von seinem Geist geprägt ist.
Liebe Gemeinde! Traut der Triebkraft der Wurzel! Gewiss, das äußere Erscheinungsbild der Kirche ist manchmal disparat. Aber entscheidend ist, dass der Herr der Kirche, Jesus Christus, ausgerüstet ist mit Gottes Geist, einem Geist der Weisheit und des Verstandes, dem Geist des Rates und der Stärke, dem Geist der Gotteserkenntnis und der Gottesfurcht. Mit Klugheit, Durchsetzungsvermögen und Frömmigkeit ließe sich auch heute Kirche bauen. Der Herr der Kirche hat die Macht dazu. Lasst ihn uns bestürmen, dass er seine Kirche nicht nur in Afrika, Asien und Amerika baut, sondern auch hier bei uns!
Dann liegt da in diesem Prophetenwort noch eine Verheißung, die weit über die Erfüllung, wie sie mit Jesus Christus eingetreten ist, hinausgeht. Es ist die Vision eines allumfassenden Friedens unter allen Lebewesen. Schon sehnen wir uns seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in dieser Welt nach Frieden unter den Völkern und Individuen. Friede scheint unter uns Menschen kaum erreichbar. Diese Sehnsucht nach Frieden begegnet uns im Prophetenworte wieder sogar als ein Zustand eines allumfassenden Friedens, der selbst die in der Schöpfung angelegten Gegensätze zwischen den Tieren heilt. Es ist ja natürlich, dass die Wölfe die Lämmer jagen und nicht mit ihnen zusammenwohnen. Jeder erwartet, dass der Panther den Bock jagt und nicht mit ihm lagert. Aber das, was in der jetzigen Schöpfung noch als Disharmonie angelegt ist, das wird in Gottes Zukunft aufgehoben, „Löwen werden Stroh fressen, wie die Rinder“. Wir wissen, dass unter den Bedingungen der gegenwärtigen Schöpfung dieser so umfassende Friede gar nicht zu erreichen ist. Fleischfressende Tiere können nicht einfach zu Vegetariern werden. Aber dieses ausgewogene Verhältnis zwischen allen Geschöpfen erinnert an den Zustand vor dem Sündenfall, erinnert an das Leben im Paradies. Mit diesem rhetorischen Stilmittel malt uns der Prophet vor Augen: Gott will nicht den Zerbruch, den Kampf, das Fressen und Gefressenwerden. Deswegen wird es am Ende, in seinem Reich, Heil und Harmonie geben. Darauf gehen wir zu. Dieser Zustand des allumfassenden Friedens, von Gottes Schalom, ist ein wunderschönes Hoffnungsbild. Aber wir werden dahin nicht kommen ohne Jesus Christus. Er ist es, auf dem der Geist Gottes ruht, dem Gerechtigkeit zur zweiten Natur und Wahrheit und Treue zu Charaktereigenschaften geworden sind. Darum stellt uns jedes Weihnachtsfest aufs Neue die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus vor Augen. Es geht nicht nur um unsere Sehnsucht nach Heil, Heimat und Harmonie. Wir dürfen auch die Erfüllung in Jesus Christus schmecken.
Es gibt hier in Pommern einen schönen, alten Brauch, der etwas von dieser unerwarteten Harmonie aufleben lässt. Um dieses ganz besondere, diese Weltenwende, die mit Jesus Christus geschehen ist, zum Ausdruck zu bringen, feierte man manchen Orts auch das so genannte „Lütten Weihnachten“. Das ist ein Weihnachtsfest für die Tiere im Wald. Dann wurde ein Weihnachtsbaum nur für die Tiere geschmückt, mit Kerzen ausgestattet und diese entzündet. Die Tiere des Waldes und die Tiere des Feldes, der Wiese, die wilden und die vom Menschen gezähmten Tiere sollten auch teilhaben an der Feier der Weltenwende. Manche meinen, dieser pommersche Brauch sei heidnischen Ursprungs. Wer unsern heutigen Predigttext hört, merkt, dass durchaus unbewohnte, aber der Bibel einwohnende Aussagen in diese Richtung einer lütten Weihnacht gehen. Die Pommersche Zeitung berichtete davon: „Lütten Weihnacht bestand darin, dass die Kinder am Heiligen Abend einen Tannenbaum in den Kuhstall schmuggelten, ihn heimlich mit Kerzen schmückten und dann mit den Tieren gemeinsam ihr Weihnachten feierten – im Lichte der Kerzen und beim Gesang alter Weihnachtslieder. Am späten Abend zogen sie in den Wald, um auch dort Weihnachten zusammen mit den Tieren des Waldes zu begehen und selbst auf der zugefrorenen See stellten sie ihren Baum auf, um auch Fische und Möwen an Weihnachten teilhaben zu lassen.“ Die schönste Darstellung dieser lütten Weihnachten hat wohl der hier in Greifswald geborene Dichter und Künstler der deutschen Sprache Hans Fallada geschrieben.
Auf jeden Fall gilt: Weihnachten ist ein Anfang, nicht ein Endpunkt. Es ist die Weltenwende, aber noch nicht der Ausgang der Geschichte. Mit Weihnachten hat die Geschichte Gottes mit seinen Menschen eine Steigerung bekommen, die erst in der Ewigkeit zum Abschluss kommt. Wir dürfen uns freuen, dass wir dabei sein dürfen.
Amen.