27. Januar 2013 - Septuagesimae
29. Januar 2013
Holocaust-Gedenktag Predigt zu Jesaja 43, 1-4a
Jesaja 43, 1-4a:
Und nun, spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen… weil du in meinen Augen so wertgeachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe.
Und nun, liebe Schwestern und Brüder. Nun aber!
Der Predigttext von Jesaja setzt ein mit einem Widerwort Gottes. Ein Akzent durch zwei Worte nur, die man schnell überhört. Und nun! Es ist ein Widerwort der Vitalität gegen diese Schwere. Gegen diese Lebensangst. Seit Generationen schon „frisst sie Seele auf“. Gott spricht dieses Widerwort zu seinem Volk, das einst unweit vom heutigen Bagdad im Exil saß und weinte.
Höre doch, oj Ewiger, weinen sie.
Höre doch
auch den lautlosen Schrei,
Höre doch, dass es nie wieder sei
Wie damals.
Sie haben alles verloren. Vertriebene sind sie. Seit etlicher Zeit. Vertrieben nicht nur aus ihrer Heimat, sondern auch aus ihrem Glauben, ihrer Hoffnung; sie sind fern von ihnen, die sie liebten. Nie wieder wird es sein wie damals.
Und nun! Fürchte dich nicht!, spricht Gott. Ich erlöse dich von der Knechtschaft.
Doch sie hören es nicht in ihrem Schmerz.
Sch´ma Israel, flüstert Gott unaufhaltsam, höre mein Volk. Du gehörst keinem Herrenmenschen, keinem der dich tritt und schlägt und erniedrigt. Ich sage: du bist mein. Gehörst zu mir. Immer schon.
Deshalb: Nun aber! Steh auf.
Gottes Wort ist Lebenswort.
Er ist das Du, das mich ins Leben ruft.
Und ich?
„Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand,
ohne Gott ein Tropfen in der Glut,
Ohne Gott bin ich ein Gras im Sand
Und ein Vogel, dessen Schwingen ruht.
Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,
bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.“
So antwortet Jochen Klepper am 24. Mai 1933 in seinem Tagebuch auf Gottes Lebenswort. Er schreibt dieses Gedicht in Furcht. Ihm droht, dass er in den nächsten Tagen aus dem Rundfunk entlassen wird – wegen seiner Ehe mit der Jüdin Hanni Stein. Und so glaubt er, der Pfarrerssohn, einen Glauben, der alles einschließt, was Leben ist - und was man mit dem Leben verlieren kann: Frau und Herz, Treue und Vertrauen, Kind und Hoffnung. Er glaubt in der Krise und hofft deshalb auf die Liebe, die sie überwindet. Und so werden seine Gedichte und Lieder wie Glaubenszeugnisse geboren, nicht zuletzt weil er dachte, am Ende zu sein. Jochen Klepper, wir wissen es, war immer an der Grenze: Ein schwermütiger Mensch, stets hin und her gerissen zwischen Liebe und Angst. Als die Deportation nicht mehr aufzuhalten ist, nehmen Hanni und er sich – und der Tochter - 1942 das Leben. Wie viele damals.
Es war eine schlimme, furchtbare Zeit. In Hamburg, in Nazideutschland und weltweit. Denn die Hitlerdiktatur hatte jahrelang schon Krieg und Elend und Verderben über die Welt gebracht. Doch immer noch, sogar noch kurz vor Kriegsende, jubeln so viele dem Diktator zu, der sich gottgleich als Lichtgestalt inszeniert. Im Schatten dessen die vielen anderen. Verhuscht. Beschämt. Verängstigt. Unerwünscht. Angefeindet. Nicht blauäugig. Nicht gleich geschaltet. Und wer dann nicht gleich geschaltet hat und emigriert ist, durchleidet Gefangenschaft. KZ, Gestapo, Folterschrei und Friedhofstille. Und die anderen, sie jubeln darüber hinweg. Immer noch. Manche bis heute.
Heute am 27. Januar gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 und damit all der Opfer des Nationalsozialismus. Jüdische Kinder, Frauen, Männer. Christen auch. Sinti und Roma. Menschen mit Behinderung. Homosexuelle. Politisch Andersdenkende. Frauen und Männer im Widerstand. Wir gedenken ihrer und mahnen, erinnern und vergegenwärtigen, damit die unglaublichen Schrecklichkeiten niemals vergessen und verschwiegen werden. In größtmöglicher Emphase möchte man, möchte ich beklagen, wie maßlos die Grausamkeit war. Doch unglücklicherweise fehlen einem oft die Worte. Denn stets bleibt man, so empfinde ich es, mit den eigenen Worten weit hinter der bestialischen Realität zurück.
NACH AUSCHWITZ – nicht umsonst sind diese beiden Worte selbst zur Metapher geworden. Nach Auschwitz - noch singen, beten, dichten, musizieren?? - Ja, predigen?
Wir wissen nur zu gut, dass auch etliche in unseren Kirchen sich haben verführen lassen. Von Macht. Einfluss. Der „neuen Zeit“. Wir wissen – heute! - dass gerade wir Protestanten hätten mutiger widerstehen, klarer Widerworte sprechen und inständiger hätten beten müssen. Und dass wir der Gleichschaltung in den Kirchen Hausverbot hätten erteilen müssen. Doch hier in Hamburg wurde in der evangelischen Landeskirche mit Bischof Tügel ein nazitreuer Landesbischof installiert (welch belastende Berühmtheit für „mein“ St. Jacobi…). Auch das, all das gehört zu unserer Geschichte. Es bleibt unser historisches Erbe: Wir leben in Deutschland nach Auschwitz.
Viele mögen das nicht mehr hören. „Irgendwann muss doch Schluss sein“, sagen die einen. Die anderen erschreckt das. „So wenig man Trauer verordnen kann, so wenig kann man sie verbieten“, sagen sie. Es darf uns nicht unberührt lassen, was Menschen erlitten haben, weil wir sonst vergessen, wozu andererseits Menschen in der Lage sein können.
Holocaustgedenken, wie soll das in Zukunft werden? Für uns, fast 80 Jahre danach, und die nachfolgenden Generationen?
Wir müssen`s mit den Herzen hören und sagen: Nun aber! Widerwort ist Lebenswort. Es gilt sine vised verbo. Für uns Christen und Lutheraner sowieso: Nicht mit Gewalt, sondern mit dem Wort gilt es denen zu wehren, die töten. Die auch heute töten. Die mit Waffen töten, in Mali. In Syrien. In Amokläufen. Oder – subtiler – mit schneidenden Worten. Etwa im Internet. Kaum zu fassen, mit welcher „Wort-Gewalt“ sich Menschen austoben. Es gibt, liebe Gemeinde, tatsächlich so etwas wie einen Verbalradikalismus, der Menschen in den Tod treibt. Ungezügelt und brutal. Radikalismus ist näher an unserem Alltag als wir manchmal glauben. Und also: Es gilt – ungeahnt aktuell – sine vi sid verbo: Widerwort zu geben. Und dazu gehört, Worte zu suchen und auszusprechen, um vergessenen Opfern eine Sprache, ja ihre Geschichte zurück zu geben. Sie beim Namen zu nennen. Beim eigenen Namen. Ist er doch - wie Walter Benjamin sagt - „Wort Gottes ist in menschlichen Lauten“.
Sch´ma Israel, spricht Gott aus unserem Text, hör doch zu. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. Du gehörst keinem Herrenmenschen, keinem der dich tritt und schlägt und erniedrigt. Denn – so der Text wörtlich:„ du bist in meinen Augen so wertgeachtet und auch herrlich und ich habe dich lieb.“
Der Name ist Liebeswort, sagt unser Text. Zärtlich gelockt oder fordernd herangerufen – immer schwingt im Namen, in unverwechselbar deinem Namen das Geheimnis und die Geschichte nur deines Lebens. Mit deinem Namen bist du ins Buch des Lebens geschrieben. Wie bedeutsam der Name ist, merken wir ganz persönlich, wenn er in wichtigen Momenten falsch ausgesprochen wird.
Oder wenn er nicht zärtliches Liebeswort ist, sondern Tötungswort.
Während meiner Vikariatszeit waren wir 1989 in Theresienstadt. Besonders nachgegangen sind mir die Kinderzeichnungen von dort. Sie waren so erschütternd fröhlich. Mit Blumen und Schmetterlingen. Einer Vase auf dem Tisch. Bilder voller Alltäglichkeit. Auf einem Bild, es ist mir richtig im Herzen geblieben, sieht man nur einen kleinen, braunen Koffer. Auf dem Koffer steht mit weißer Farbe geschrieben „Leah Süß“.
Wir wissen alle, liebe Gemeinde, dass diese Koffer nie ausgepackt wurden. Dass auch die Namen nie wieder gerufen wurden. Keine Leah. Sarah. Jakob. Aus den Namen wurden Nummern. Millionen, heißt es. Millionen kamen um in den Vernichtungsmaschinerien nazistischer Diktatur. In deutscher Akribie anfangs noch aufgeführt, in Listen erfasst, kategorisiert. Doch dann, später in den letzten Wochen, so viele namenlos getötet. So viele unerkannt. Weil alle weggeschaut. Un-erhört.
Sch´ma Israel…Wie eindrücklich sind genau deshalb die Räume des Gedenkens in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Hineingenommen in einen Sternenhimmel hört man in einem der Räume Namen um Namen. Die Namen von 1,5 Millionen ermordeten Kindern und Jugendlichen! Jeder Name ein Sternchen. Die Dunkelheit, die Lichtpunkte – und die Stimme der Namen. Drei Monate dauert es, sie jeweils einmal zu nennen. Sch`ma. Hört hin. Mit ihren Namen sind die Kinder in einer solchen Intensität anwesend, dass es schmerzt. Denn ja, dieser Schmerz soll ja auch nicht vergessen sein! Und zwangsläufig kommt einem die Frage: Weißt du eigentlich, wie viel Sternlein stehen an diesem dunklen Himmelszelt?
Gott, der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl, an der ganzen großen Zahl. Denn: Du bist mein! Jesaja lässt dem Schmerz Trost folgen. Indem er ein Bild in uns hinein malt, als knüpfe Gott selbst zu jedem Menschen eine einmalige Beziehung. Eine Beziehung, in der vieles geheimnisvoll, unsagbar, sicherlich auch unverständlich bleibt. Aber nun! Gerufen bei unserem Namen, er-innert sich etwas in uns, dass wir nicht herausfallen können aus Gottes gnädiger Gegenwart. Auch heute nicht. Am 27. Januar.
Also, fürchtet euch nicht, liebe Geschwister! Widerwort gegen die Angst ist Lebenswort. Und ich höre meinen Gott, wie er dich und mich beim Namen ruft. Und wie er uns damit herausruft: Trauert nicht wie die, die keine Hoffnung haben! Die Erinnerung ist nicht allein Rückkehr, nicht allein Totengedenken. Sie ermöglicht auch die Hinwendung zum Leben. Sie erzeugt eine dynamis, eine Kraft, die uns zum lauten und klaren Widerwort ermutigt gegen die, die uns heute Angst machen. Gegen einen Antisemitismus, der inzwischen wieder offen zu Tage tritt. In der Nacht zum 9. November erst haben Neonazis sämtliche Stolpersteine in Greifswald heraus gerissen. Und wir, wir setzen sie wieder ein! Namen müssen geschützt werden, damit man sie rufen kann. Über die Zeiten hinweg. Auch in den nächsten Generationen. Denn wir brauchen einen Namen, um zu benennen und um zu verstehen, wer der oder die andere ist. Um einander aufmerksam machen und zu sagen: Du, wie immer du heißt, lieber Bruder, liebe Schwester hier im Michel, du,
höre doch
auch den lautlosen Schrei,
höre doch, dass es nie wieder sei
wie damals.
Nie wieder sei es wie damals.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen