3. April 2014 - Rostock

3. April 2014 - Impulsvortrag

03. April 2014 von Gerhard Ulrich

Impulsvortrag bei einer Abendveranstaltung der Firma Heinrich Hünicke GmbH & Co. KG, Bürozentrum & Fachshop, Rostock "Fokus Mensch - eine Evangelische Perspektive"

Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Herzlichen Dank zunächst an Sie, sehr geehrter Herr Ries, dass Sie mich eingeladen haben, um in einem Unternehmen für Bürokompetenz zu reden – und zwar zu dem interessanten Thema: Fokus Mensch. Der Mensch im Blickpunkt. Die Formulierung dieses Themas ist in wirtschaftlichen Zusammenhängen ja noch immer eher ungewöhnlich. Die Bilanz im Fokus. Arbeitsprozesse und Prozessmanagement im Fokus – ja, das ist eher zu erwarten. Der Mensch kommt dann nur als Humankapital in den Blick oder als derjenige, der möglichst effizient funktionieren soll. Und auf der anderen Seite der Mensch reduziert auf seine Identität als Konsument: er soll schließlich kaufen, was Sie anbieten – davon leben Sie als Firma.

Von diesem Standpunkt kann man auch den Menschen und sein Büro in den Blick nehmen. Und müsste es im Grunde umdrehen: Das Büro und sein Mensch! So als wäre das Büro in einem Unternehmen, in einer Behörde, in einer Arztpraxis eben nun einmal zuerst da – und  es wird dann der passende Menschen dazu gesucht – der Mensch, der möglichst passgenau in diesen vorgegebenen Rahmen passt.

Aber nun soll der Mensch an erster Stelle stehen. Sehr gut so, bravo. Von ihm aus soll gedacht werden: Der Mensch im Fokus. Dazu gibt es gerade aus evangelischer Perspektive einiges zu sagen. Und dazu will ich als Pastor und Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland das Meine sagen. 

Vielleicht wirkt das auf den ersten Blick fremd, das ausgerechnet ein Bischof in dieser Veranstaltung etwas sagen soll. Aber: Kirche und Diakonie mit ihren fast 30.000 Mitarbeitenden in Norddeutschland bilden eigene Arbeitswelten. Sie müssen sich auseinandersetzen mit den Entwicklungen, Veränderungen. Und sie müssen stets Auskunft geben darüber, ob denn ihre Arbeits- und Lebenswelten tatsächlich ihrem Auftrag, das Wort Gottes in Wort und Tat zu verkündigen und ihrem Leitbild entsprechen.

Was ich hier sagen kann und will, ist vor allem etwas zu dem Bild vom Menschen, das mich als Christ und Theologe leitet.

II

Und so beginne ich also mit der Ikone neuer Bürowelten – mit der Designerin Victoria Beckham: Vor einigen Tagen war sie in Zeitungen zu sehen – stilbildend, wie sie meinte. Denn: sie arbeitet und trainiert auch dort, wo andere nur arbeiten und sitzen. Der höhenverstellbare Schreibtisch mit dem mächtigen Bildschirm, an dem sie stehend arbeitet, ist verbunden mit einem Laufband – wie ich es bisher nur aus Fitness-Studios oder Reha-Kliniken kannte. Der Effekt sei grandios und entsprechend war von ihr auf Twitter zu lesen: Jedes Büro sollte so etwas haben, Training und Arbeit gleichzeitig!! Genial!!“

Nun, meine Damen und Herren, man muss so etwas mögen. Und irritiert haben mich schon die high-heels, die Frau Beckham bei dieser Trainingseinheit im Büro trägt: Die viele Zentimeter hohen, dolchartigen Absätze lassen jedenfalls fürchten um den Gummibelag des Laufbands – aber sei´s drum, vielleicht sollten Nicht-Geübte mit anderem Schuhwerk beginnen.

Aber das ist, bei aller Heiterkeit, auch eine Problemanzeige: unsere Gesellschaft verlernt mehr und mehr, die Lebensbereiche voneinander zu unterscheiden: Arbeit von Freizeit; Alltag von Sonntag. Wenn alles einerlei ist, ist nichts mehr erkennbar. Und niemand ist mehr erkennbar. Und niemand kennt sich mehr selbst.

III

Natürlich frage ich mich auch, ob dieses Bild als Ausdruck des Wunsches nach Effektivität und Perfektion, als Ausdruck des Wunsches nach einer angemessenen life-work-balance eigentlich lebensdienlich ist. Jedenfalls werden da tatsächlich Bürowelten gebaut – Kunstwelten mit Glücksgarantie. Und was darin sitzt und angeblich lebt: es ist nicht mehr das, was einen Menschen zum Menschen macht. Es ist ein funktionierender Apparat, ein Roboter. Und das entspricht einem Trend, der durchaus auch in anderen Bereichen der Arbeitswelt zu beobachten ist: Die Beziehung zur Arbeit wird erotisiert, während private Beziehungen eher funktionalisiert werden.

Meine Ansicht ist das nicht, wie Sie sich denken können, daher will ich anders – und, wie ich meine „Evangelisch“ ansetzen, d. h. ansetzen aus der Bibel und der jüdisch-christlichen Tradition gewonnenem Bild vom Menschen – und gerade deshalb einem realistischen Bild vom Menschen .

Und der erste Baustein eines solchen realistischen Menschenbildes ist dieser: Kein Mensch lebt für sich allein.

„Im Bewusstsein seiner  Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat das deutsche Volk … dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“

Mit diesem Satz aus der Präambel des Grundgesetzes wird alles staatliche Tun in einen spezifischen Verantwortungszusammenhang gestellt: „Vor den Menschen“, aber eben auch „vor Gott“ will und soll sich das Tun der politische Handelnden verantworten. Damit ist das „Gewissen“ der Menschen, die politische Verantwortung übernehmen, aber auch jeder Bürgerin und jeden Bürgers unseres Staates, in einer besonderen Weise angesprochen: vor den Menschen, aber eben auch vor Gott handeln er oder sie in Bereichen der Politik und des bürgerschaftlichen Engagements.. Das heißt doch: neben dem Dienst an den Menschen ist da zugleich das Bewusstsein angesprochen, dass der Staat die Voraussetzungen, von denen er existiert, sich nicht selbst allein geben kann, sondern dass da eine Macht über unserem Leben zu suchen ist, die mehr ist als unsere Vernunft. Damit ist in der Verfassung zum Ausdruck gebracht, was wir Christenmenschen glauben: wir verdanken uns nicht uns selbst, haben uns nicht selbst geschaffen. Wir leben auf diesem Planeten, den wir nicht selbst geschaffen haben. Wir sind abhängig davon, dass uns Lebensvoraussetzungen gegeben sind – einfach so, ohne unser Zutun. Wir sind hinein gestellt in Lebenszusammenhänge, die ein anderer geschaffen hat – einer, der sagt: nehmt Verantwortung für die Schöpfung und das Leben!

Meine Damen und Herren: ob man das nun als bekennender Christenmensch bedenkt oder als Mensch ohne solches Bekenntnis: die Erfahrung, dass wir zwar vieles erforschen, erklären, deuten, machtvoll dirigieren können, aber im Letzten eben doch an unsere Grenzen stoßen, das ist eine allgemein gültige Erfahrung, die wir Christen als Gotteserfahrung deuten.

Die christliche Kirche steht mit ihrer Botschaft und ihrem Verkündigungsdienst in aller Öffentlichkeit für jedermann erkennbar für diesen besonderen Verantwortungszusammenhang ein! Die christliche Kirche hält insofern den „Spielraum für Gott“ offen; sie verweist in aller Öffentlichkeit und für jedermann erkennbar darauf, dass da noch EINER ist, vor dem wir unser Tun und unser Unterlassen zu verantworten haben. Gewiss muss und soll der moderne Staat religiös und weltanschaulich – wie es so schon heißt – „neutral“ sein. Aber das heißt nicht, dass er gottlos wäre. Im Gegenteil: Gott lässt seine Welt nicht im Stich, Gott lässt auch niemanden in der Bundesrepublik Deutschland im Stich – und für diese Wahrheit steht die christliche Kirche, steht jeder Christ und jede Christin in dieser Gesellschaft auf eine je besondere Weise ein. Das ist ihre Mission: Verantwortung für die Gesellschaft, die Kultur, für Frieden und Bewahrung, für Gerechtigkeit und Recht einzutreten – nicht, weil sie als politische Kraft dazu gewählt wäre, sondern weil sie sich versteht als ein Instrument der Liebe des Gottes, dem sie glaubt und vertraut, dessen Verheißung sie mehr gehorcht als den Menschen und ihren Verheißungen.    

Ein Christ, eine Christin, ist immer noch etwas anderes als ein Individuum: Ein Christ, bzw. eine Christin lebt als solcher / als solche nie isoliert für sich, sondern als Christenmensch per se beziehungsreich: in der Beziehung zu Gott, in der Beziehung zu sich selbst, und in der Beziehung zur natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. In diesem Beziehungsreichtum lebt jeder Christ,  jede Christin, auch als ein politischer Mensch, der sich beteiligen und einmischen kann und soll in die politischen Debatten seiner Zeit.

Menschen, die sich selbst als religiös „unmusikalisch“ verstehen, werden von dieser Sichtweise keineswegs ausgeschlossen: Mensch sein heißt – in Beziehungen leben. Der Mensch ist ein „zoon politicon“, ein „politisches Lebewesen“. Diese Definition des Menschen gilt seit den Anfängen der Politischen Philosophie in der griechischen Antike. Ob das, was ich sage, mit der Etikette „christlich“ zu versehen ist – weiß ich nicht. Denn was heißt hier „christlich“? Es speist sich aus einer mir zentral wichtigen Glaubens- und Lebensperspektive, die durchaus religiös zu nennen ist – die aber auf jeden Fall auch den Anspruch hat, sachgemäß und vernünftig zu sein. Denn „Glaube“ und „Vernunft“ schließen einander nicht aus – im Gegenteil!

IV

Der erste Baustein meines realistischen Menschenbildes, meine Damen und Herren, heißt also: Kein Mensch lebt für sich allein. Das ist eine evangelische Perspektive, die aber durchaus auch in anderen Zusammenhängen plausibel ist.

Der Mensch: er arbeitet ja nicht nur, um Geld zu verdienen, damit er sich und den Seinen eine auskömmliche Existenz erwirbt. Arbeiten heißt: ich darf, kann und will mitgestalten diese Welt. Will meine Gaben einbringen. Dazu müssen Arbeitswelten sich flexibel gestalten, anpassungsfähig sein, sich entsprechend der Gaben der Menschen entwickeln – nicht gegen sie. Es reicht nicht (mehr), nur Anpassung an die Arbeitswelten von den Menschen zu erwarten.

Übrigens: Viele, immer noch zu viele Menschen wären froh, wenn sie überhaupt Zugang hätten zu einer Arbeitswelt, wenn ihnen die nicht verschlossen bliebe oder aber unterginge – wie in dieser Region gerade der Schiffsbau, die Werften. Diese Vernichtung von Arbeitsplätzen und Arbeitswelten geht uns alle an! Das ist nicht nur eine Aufgabe der Politikerinnen und Politiker. Wir alle haben Mitverantwortung dafür, dass alle Menschen teilhaben können an der Entwicklung der Werte dieser Gesellschaft.

Der zweite Baustein ist dagegen ausgesprochen biblisch: Die Welt verwandelt sich, indem die Herzen von Menschen verwandelt werden. Im 13. Kapitel des Matthäus-Evangeliums  heißt es:

„Jesus legte denen, die ihm zuhörten, ein Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war.“

Das Himmelreich – so sagt es Jesus durch dieses Gleichnis – ist etwas, das nicht die Menschen machen, sondern das Gott selbst schafft. Die Sache mit dem Sauerteig ist in diesem Zusammenhang für heutige Ohren natürlich im ersten Moment etwas fremdartig. Zur Zeit Jesu dagegen war der Sauerteig alltäglich – eine notwendige Zutat, damit der Brotteig aufgehen kann und das Brot genießbar wird. Und die Menschen, denen Jesu vom Sauerteig Gottes erzählt hat, denen war klar:  Es ist die gute Botschaft, das Evangelium von Gottes Liebe und Gerechtigkeit, die Leben durchwirkt und verändert, so dass es lebenswert und „genießbar“ wird. Das Evangelium, das weiter zu erzählen ist in der Welt durch Wort und Tat, in Gottesdienst und Diakonie, ganz konkret. Und das tut die Kirche – die von Christus gesandt ist zu verkündigen das Evangelium. Diese heilige neue Zeitung – wie Martin Luther die Botschaft der Kirche genannt hat – diese heilige neue Zeitung gilt es auszuteilen und den Leuten vor die Nase zu halten. Und das, was da geschrieben steht in dieser heiligen neuen Zeitung, das wird seine Wirkung entfalten, die message wird gehört werden und verwandeln die Menschen, die sie aufnehmen in Kopf und Herz – und die also öffnen werden Mund und Hand.

Der Sauerteig von Gottes neuer Zeitung, vom Evangelium, der in der Backschüssel mit Namen „Kirche“ steckt, der braucht Zeit zum Gehen, der braucht Zeit, um zu durchsäuern die Zentner Mehl; der Sauerteig wirkt in dieser Zeit gleichsam ansteckend – er infiziert das Mehl – ja er infiziert zum Guten, er macht nicht krank, sondern gesund. Der Gärungsprozess, ja der Heilungsprozess ist im Gange – es ist „work in progress“… Auch wenn das alles unsere Geduld über die Maßen strapazieren sollte; ein anders lautendes oder schneller erfülltes Versprechen hat Gott seiner Welt nicht gegeben.

Der Sauerteig ist ein sehr komplizierter Teig und auch ein empfindlicher Teig. Man braucht nicht viel davon, um ein vernünftiges, wohlschmeckendes Brot zu backen, Grundnahrungsmittel des Menschen.

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das vom Mund des Herrn ausgeht“, sagt Jesus. Und es will fein dosiert und ausgewogen unter das Mehl, unter die Menschen gemischt sein.

Alles, was Jesus sagt und tut, das sagt und handelt er hinein in ganz konkrete Lebensgeschichten, in konkrete Kontexte. Das Wort wirkt nicht einfach so. Es wirkt, wenn es als Botschaft jetzt und in der konkreten Situation gehört und verstanden wird, wenn es die Herzen erreicht. Damit hängt z. B. zusammen, dass Menschen bei einem Trauergottesdienst womöglich das Wort Gottes, das dort ausgelegt wird, viel einleuchtender empfinden, als wenn sie es auf der Straße von einem Straßenprediger hören. Und wenn das Wort als liebende oder pflegende Tat daher kommt – mit einem ambulanten Dienst z. B. oder mit „Essen auf Rädern“ – dann leuchtet das ein, was da an Liebe und Wärme nahe kommt und ausgeteilt wird. Und so kann das Wort das Leben „durchsäuern“, kann Herzen wenden und Orientierung geben.

Helmut Schmidt hat zu seinen Kanzlerzeiten uns Christen mal vorgehalten, man könne mit der Bergpredigt nicht die Welt regieren. Klar, kann man wohl nicht. Will aber auch niemand. Aber Herzen regieren, das kann man mit den Worten Jesu. Und so regierte Herzen – die können getrost die Welt regieren oder den Regierenden helfen beim Regieren.

V

Ich komme zum dritten Baustein eines realistischen Menschenbildes, das aus evangelischer Perspektive erkennbar wird: Der Mensch ist frei und gebunden zugleich – und nur so wird seine Würde gewahrt. Das ist das spezifisch christliche Verständnis von Freiheit, in der die enge, unauflösliche Beziehung von Freiheit und Bindung, Freiheit und Dienst zum Ausdruck kommt: Frei ist derjenige Mensch, der sich in Bindung an Gott zum Dienst an den anderen als befreit erleben kann. Freiheit ist nicht auf die Wahlfreiheit des Individuums zu reduzieren. In einer nach wie vor unübertroffenen Weise hat Martin Luther diese Beziehung in seiner Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520) auf den Punkt gebracht: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan – Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. « Er ist durch die Zusage der Freiheit befreit – innerlich, geistlich von einer ängstlichen Sorge um sich selbst und äußerlich von einer falschen Angst um Leben und Sicherheit, um gerade so sein eigenes Leben gelassen zu leben, im Vertrauen auf Gott vernünftige Entscheidungen zu treffen und auch anderen ein gutes Leben zu ermöglichen. Der Christenmensch – so formuliert Luther – lebt in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe.

Freiheit und Bindung sind so gesehen keine Widersprüche, sondern sie bedingen einander: Freiheit ohne Bindung verkehrt sich in ihr Gegenteil, wie auch Freiheit ohne Verantwortung sich ins Gegenteil verkehrt. Die Freiheit eines Christenmenschen wächst aus der Bindung an Jesus Christus und sein Wort. Und diese Bindung befreit von den Bindungen an die Mächte und Weisungen der Welt. Sie gibt Freiheit zum Einspruch und zum Widerspruch, zu Wertschätzung und Liebe.

Ein solches Verständnis von Freiheit, das sich auf den christlichen Glauben gründet, das aber auch durch philosophische Traditionen gestützt wird und für alle Menschen guten Willens einsehbar ist, steht im Widerspruch zu einer bloßen Orientierung an der Nutzenmaximierung. Alle, die in Unternehmen tätig sind, ob Vorstände oder Hilfsarbeiter, sind eben nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch und vor allem Geschöpfe Gottes, geschaffen zu Gottes Bild: frei der eine wie die andere! Immanuel Kant hat diese Gedanken mit der griffigen Formulierung aufgenommen, alles habe seinen Wert, nur der Mensch habe eine unveräußerliche Würde. Der Begriff der Menschenwürde drückt aus, dass Menschen nie nur reine Mittel zum Zweck – zum Beispiel der Gewinnmaximierung – werden dürfen, sondern immer zugleich Zweck an sich sind.

Der Mensch ist nicht nur die Summe seiner Leistungen. Er geht nicht auf in dem, was er leistet, kann und tut. Zu ihm gehört auch sein Scheitern, sein Versuchen, seine Behinderung; sein Lachen und sein Weinen. Er hat seinen unendlichen Wert nicht aus dem, was er oder sie für Geld tut.

VI

Ich erinnere an das Doppelgebot der Liebe im Alten und im Neuen Testament – Gott und den Nächsten zu lieben – und an das Vielen sicher bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter! Das ist das Konzept von Eigenverantwortung und Solidarität! Selbstliebe ist nichts Verwerfliches. Wenn sie denn nicht für sich bleibt. Wenn sie denn noch den Blick frei lässt auf den Nächsten, seine Nöte. Wenn wir denn so frei sind, werden wir wirklich frei. „Eigenverantwortung und Solidarität sind so verstanden als „wertlose Werte“ – ohne die, so behaupte ich, die so sehr auf Wertschöpfung getrimmten Märkte gar nicht lebensfähig sind. Ja, ohne die diese Märkte gleichsam von innen her vor Stärke umkommen!

Ein „wertloser Wert“ ist, eine nicht finanziell verrechenbare Größe, ein nicht in „Euro und Cent“ aufrechenbares hohes Gut. Und ohne so ein hohes Gut – wie etwa Eigenverantwortung und Solidarität und die Wertschätzung der Menschen am Rande – stirbt das System von innen her. Diese Güter sind also gleichsam „wertlos“ – nicht in einem materiellen Sinne wertschöpfend. Aber sie sind höchst kostbar und als solche eminent „systemrelevant“! Noch schärfer: Ohne solche „wertlosen Werte“ geht gar nichts am Markt! Ohne sie droht unsere Gesellschaft dauerhaft zu erkälten!

Beispielhaft für ein Gegenmodell steht der Barmherzige Samariter: Der Samariter, der als einziger nicht vorbeigeht, sondern dem Verletzten Hilfe leistet, selbstlos sich zuwendet, tut, was nötig ist – obwohl ihn das natürlich etwas kostet. Er tut nicht mehr, als er tun kann. Aber das tut er! Er weiß, wohin er den Verletzten bringen kann, damit ihm Hilfe zuteil wird und: damit er wieder auf die eigenen Füße kommt.

Nächstenliebe dieser Art ist ein Wert, ohne den auch der Markt, auch der Kapitalismus nicht auskommt – es sei denn, er verkommt, und das wird er tun, wenn er meint, als System sich selbst genügen zu können. Der Markt, so scheint es, braucht selbst einen barmherzigen Samariter!

Auch in unserem reichen Land gibt es materielle Armut, viel häufiger aber noch gibt es mangelnde Teilhabemöglichkeiten in zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dann steigt das „Armutsrisiko“ enorm.

Den davon betroffenen Menschen ist am wirkungsvollsten mit einer Integration in den Arbeitsprozess geholfen; wichtigste Bedingungen dafür sind gute Bildung und gute Ausbildung! Für eine Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten müssen aber auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden. Ohne materielle Verteilungsgerechtigkeit läuft Chancengleichheit ins Leere.

Eigenverantwortung und Solidarität dürfen nicht nur appellativ eingefordert werden, sondern sie beide sind gleichsam „zarte Pflänzchen“, die eines kultivierten Bodens bedürfen und kundiger Gärtner, die sich beteiligen können und sollen an der Boden- und Pflanzenpflege! In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft!

VII

Kein Mensch lebt für sich allein – die Welt verändert sich, indem die Herzen von Menschen verwandelt werden – Menschen bewahren ihre Würde durch die Verbindung von Freiheit und Bindung – dies sind die drei Bausteine eines realistischen Menschenbildes, das helfen kann, den Menschen im Fokus zu halten.

In Zeiten des Übergangs und des schnellen Wandels ist auch notwendig eine Bereitschaft zum Innehalten und Nachdenken. Auch Wirtschaftswissenschaftler heben mahnend hervor, dass der „Faktor Mensch“ von immens großer Bedeutung ist für die Erneuerung und Stabilisierung des Marktgeschehens. Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht umgekehrt!

Wir als Kirchen haben hier eine große Verantwortung, denn es ist das christliche Menschenbild, das diese Gesellschaft lange geprägt hat und das der Idee der Sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt.

Und ich will einen vierten und letzten Baustein anfügen: Ich meine das Verständnis vom Menschen als Geschöpf Gottes, das seinen Wert immer schon hat als Kind Gottes, als geliebtes, vorbehaltlos angenommenes Geschöpf, obwohl der Mensch so ist wie er ist: gerecht und Sünder zugleich – simul iustus et peccator, wie die Reformatoren es ausdrücken.

Das ist eine Frage, die Kirche und Theologie nicht nur, aber eben auch im Bereich der Wirtschaft zu stellen haben: Leitet uns eigentlich ein realistisches Bild vom Menschen, das auch der Fehlbarkeit und Begrenztheit von Menschen Rechnung trägt? Ist das System inzwischen gar so ausgefeilt, dass wir für die in ihm agierenden Personen eigentlich nur noch Menschen  gebrauchen können, die fachlich und menschlich geradezu „perfekt“ wären? Oder ist im Blick, dass Menschen auch gereizter Stimmung sein können, unkooperativ, sich selbst überschätzen, schlechte Tage haben, anderen gerne eins auswischen und in der Regel einen Sündenbock brauchen? In der Sprache der Theologie heißt das: Wir müssen reden vom Menschen als „Sünder“ – von ihm und ihr als von Gott gewollter und in vieler Hinsicht „begnadetes“ Geschöpf Gottes.

In der Sprache der Philosophie heißt das: Wir müssen reden vom Menschen, der aus krummem Holz geschnitzt ist – wie Immanuel Kant sagt. Wir haben also immer damit zu rechnen, dass jeder Mensch Fehler macht – wissentlich und unwissentlich.

Die Konsequenz aus dieser zutiefst realistischen Sicht auf das „prekäre“ Wesen Mensch muss aus meiner Sicht heißen: Wir brauchen ein System, das „fehlerfreundlich“ ist. Dieser Begriff, der etwa in der Technik-Ethik eine große Rolle spielt, besagt nicht, dass das System zum Fehler-Machen einladen solle. Sondern: Ein „fehlerfreundliches System“ ist ein System mit eingebauten Sicherheiten, welche verhindern, dass individuelle Fehler oder individuelles Fehlverhalten unkontrollierbare Folgen haben, die dann – schlimmstenfalls – das gesamte System zerstören. Wir brauchen also auch hier ein System von „checks and balances“, das in der Lage ist, einen desaströsen „Schneeball-Effekt“ zu verhindern. Das ist hier genau so von Nöten wie in der Politik, in der wir von „Gewaltenteilung“ sprechen. Und das brauchen wir auch in der Welt des Büros.

Fokus Mensch – die evangelische Perspektive, meine Damen und Herren, führt zu einem realistischen Menschenbild, so habe ich gezeigt. Und ich schließe mit einem Text, der genau dies noch einmal aufnimmt. Es ist Lied von Herbert Grönemeyer:

Und der Mensch heißt Mensch
Weil er irrt und weil er kämpft
Und weil er hofft und liebt
Und weil er mitfühlt und vergibt
Und weil er lacht
Und weil er lebt.

Es ist das bislang erfolgreichste Lied von Herbert Grönemeyer: „Mensch“ aus dem Jahr 2002. Das Lied und sein Text sprechen offensichtlich an und aus, was viele Menschen innerlich berührt. Ich glaube, das liegt daran, dass Grönemeyer ein sehr realistisches Bild vom Menschen zeichnet. Er hat es geschrieben nach dem frühen Tod seiner Ehefrau. Keine abstrakte Festlegung auf einen Aspekt des Menschen – seine Rationalität, sein Eingebunden sein in soziale Systeme, seine Dasein als biologisches Mangelwesen. Sondern eine schillernde, vielstimmige, widersprüchliche und lebendige Beschreibung dessen, was einen Menschen ausmacht – sein wirkliches Leben mit Höhen und Tiefen, mit Auseinandersetzung und Leichtigkeit, Scheitern und Erfolg, Emotion und Erschütterung und Energie. Leben gewinnt seine Energie aus diesen Spannungsfeldern. Und die Welt des Büros wird nur dann eine gute Zukunft haben, wenn sie hilft freizusetzen das kreative Potential und die schöpferische Lust dieses so beschriebenen Menschen. Denn einen anderen gibt es nicht.

Datum
03.04.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
Veranstaltungen
Orte
  • Orte
  • Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Flensburg-St. Johannis
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Gertrud zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Michael in Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Nikolai-Kirchengemeinde Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Petrigemeinde in Flensburg
  • Hamburg
    • Hauptkirche St. Jacobi
    • Hauptkirche St. Katharinen
    • Hauptkirche St. Michaelis
    • Hauptkirche St. Nikolai
    • Hauptkirche St. Petri
  • Greifswald
    • Ev. Bugenhagengemeinde Greifswald Wieck-Eldena
    • Ev. Christus-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Johannes-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Jacobi Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Marien Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Nikolai Greifswald
  • Kiel
  • Lübeck
    • Dom zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Aegidien zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Jakobi Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien in Lübeck
    • St. Petri zu Lübeck
  • Rostock
    • Ev.-Luth. Innenstadtgemeinde Rostock
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock Heiligen Geist
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Evershagen
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Lütten Klein
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Johannis Rostock
    • Ev.-Luth. Luther-St.-Andreas-Gemeinde Rostock
    • Kirche Warnemünde
  • Schleswig
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Schleswig
  • Schwerin
    • Ev.-Luth. Domgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Berno Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Nikolai Schwerin
    • Ev.-Luth. Petrusgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Schloßkirchengemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Versöhnungskirchengemeinde Schwerin-Lankow

Personen und Institutionen finden

EKD Info-Service

0800 5040 602

Montag bis Freitag von 9-18 Uhr kostenlos erreichbar - außer an bundesweiten Feiertagen

Sexualisierte Gewalt

0800 0220099

Unabhängige Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Nordkirche.
Montags 9-11 Uhr und mittwochs 15-17 Uhr. Mehr unter kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de

Telefonseelsorge

0800 1110 111

0800 1110 222

Kostenfrei, bundesweit, täglich, rund um die Uhr. Online telefonseelsorge.de

Zum Anfang der Seite