3. Juni 2012 - Predigt zu Joh 3, 1-8
03. Juni 2012
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen
Zuvor Glück und Segen- das ist das Wichtigste. Ich gratuliere, liebe Matthäuskirchen-Festgemeinde, von ganzem Herzen zum Hundertsten. Und vor allem gratuliere ich zur rund-erneuerten Kirche - eine, wie wir wissen, ja nicht ganz leichte Geburt…
Aber es hat sich gelohnt: Die schmuckste 100 jährige weit und breit. Zudem vermutlich die erste Hundertjubilarin in unserer neu entstandenen Nordkirche. Und so bekommt das pfiffige Motto für die Festwoche und das Jubeljahr besonderen Klang: Matthäus neu er-leben!
Neu erleben, neu anschauen, was immer oder lange schon da war – und nun, besonders heraus geputzt, neuen Glanz entfaltet. Die schönen Altarfenster von Crodel etwa. Oder die Erfrischung der Farben. Neu erleben kann man aber auch, was wirklich neu ist: die Hei-zungsanlage. Keine kalten fallenden Winde mehr, sondern Wärme oben und unten. Deshalb neu die Sitze, dann die Akustik, Elektrik. Was noch? Lesepult? Altar? Ach nein, die sind ja noch nicht da…
Vieles ist noch unsichtbar und dem offenen Anblick verborgen. Wir haben es mit einer sehr feinen gelifteten alten Dame zu tun. Eine, die seit hundert Jahren ausnahmslos alle unter ihre Fittiche nimmt: Jung und Alt, Frau und Mann, Verschiedene und Gleichgesinnte, Kunstfreundinnen und Kriegsgegner, die Traurigen und Singenden, die Winterhuder und Wandernden, kurz: hier an diesem Ort lebt Gemeinde. Die Matthäuskirche ist ein Lebens-haus. Hier wurde geholfen, wo Not war, hier wurde geliebt, als der Hass regierte und hier wird bis heute gesegnet, was neu gesehen und neu geboren werden will.
Letzten Sonntag, bei der Geburt der neuen Nordkirche, waren wir alle total mitgenommen – vor Begeisterung. Ein Pfingsterleben ohnegleichen. Kirchentagsstimmung in der Würdigung des Unterschiedlichen. Lauter gut gelaunte, aufeinander zugehende, irgendwann reichlich erwärmte Menschen, die immer eine Frage als erstes stellten: Und wer bist du? Aus welcher Gemeinde kommst du?
Diese Frage galt auch der Kleinsten. Gerade geboren lag sie friedlich in den Armen ihrer 18-jährigen Schwester Rebekka, die samt Familie aus Mecklenburg angereist war. Die Mutter erzählt, wie verrückt das alles ist. Gerechnet hatte keiner mehr mit diesem Wonneproppen. Sie selbst sei Mitte vierzig, hätte gerade eine neue Arbeit bekommen, Rebekka würde ja bald ausziehen und sie hatten eigentlich geplant, aus ihrem Zimmer einen Hobbyraum für den Vater zu machen. Was man halt so macht, wenn man meint Planungen (auch Bauplanungen) seien abgeschlossen…Und jetzt – jetzt ist alles neu. Und sie freuen sich wie verrückt. Der Vater schließlich erzählt, dass es wohl kaum etwas gibt, was einen mehr umhaut als eine Geburt. Da macht die Liebe einen völlig wehrlos, denke ich, als er sich seiner Tränen nicht schämt.
Warum ich Ihnen das ausgerechnet zu diesem Anlass erzähle? Weil jedes neu Geborene frischen Wind macht und unerhört glücklich, dass es endlich da ist. Es macht alles und jeden so positiv verrückt. Im wahrsten Sinne. Wer nämlich neu geboren wird, mit dem Kopf zuerst, steht ja zunächst nicht mit beiden Beinen auf der Erde, sondern man wird verkehrt herum in das Lebenshaus hinein geboren. So steht auch die Welt der anderen Kopf. Später erst, mit dem Erlernen des aufrechten Ganges bekommt das Leben ein je eigenes Oben und Unten.
Und Jesus antwortete Nikodemus: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
Jesus holt den frommen Nikodemus heraus aus seiner geordneten Pharisäerexistenz. Dort, wo Gott oben und der Mensch unten ist. Allenfalls verbunden durch das Gesetz, weise Le-bensführung, verbunden also gewissermaßen durch eine Bauordnung im Lebenshaus. Jesus, Gott eben auf der Erde!, verrückt ihm nun völlig diese vertraute Ordnung. Es reicht nicht die Gesetzlichkeit, sagt Jesus. Es geht um viel mehr als Fassadenkosmetik. Wer zu mir kommt, um mit mir zu reden in der Nacht, der hat nicht nur viel im Kopf, sondern auch etwas auf dem Herzen. Gerade wenn das Morgen-„Grauen“ wahrhaft über einen kommt mit all der Angst, die man haben kann. Wer zu mir kommt und zu mir gehören will, will sich und muss sich wandeln.
Denn ohne neue Geburt, ohne die zeitweise umgekehrte Sicht der Dinge, können wir das Reich Gottes nicht erkennen, sagt er. Und um Ihnen gleich die Befürchtung zu nehmen, liebe Gemeinde, hier sollte nun die schön renovierte Ordnung in erneutes Chaos geworfen werden – es geht Jesus nicht um eine leibliche Geburt (wie ginge das auch bei einem und einer Hochbetagten, sagt Nikodemus!). Es geht um eine geistliche, also aus Wasser und Geist hervor gehenden Geburt. Wie das vorzustellen sei? Nun wie geschehen, z.B. am letzten Sonntag. Oder heute: Der Geist, fühlt ihr es nicht, stupst, säuselt, bläst Musik. Er taucht in ungewohntes Farbenspiel und bewirkt jeden Moment eine Neuigkeit. Bewirkt einen Prozess des Erkennens, bei dem der alte, herrschende Maßstab auf den Kopf gestellt wird. Und so wie hier neu gesehen wird`s überhaupt in dieser Welt sich wandeln, so Gott will.
Da wird das unterste zuoberst gekehrt,
da wird aus dreien eins,
das Alte jung,
das Kind zum Lehrer
das Verrückte positiv,
das Friedensgebet zweifelsfrei
und die Hundertjährige neu erlebt.
Nikodemus braucht Zeit, das zu verstehen. Oder besser: dies zu verinnerlichen. Glaube ist so. Er bleibt nicht an der Oberfläche und fragt nach Retusche. Er fragt danach, wer du bist. Zu welcher Gemeinde, Gemeinschaft du dich zählst. Wes Geistes Kind du bist. Dies allein, um es zu verstehen. Zu segnen. Zu umarmen. Und um es auf den Kopf zu stellen. –Glaube ist wie die neue Geburt alter Tradition in dein ganz persönliches Lebenshaus hinein. Und so wird alte Schrift auf einmal neu gesehen. Leuchtet auf und leuchtet ein. So wie es hier über dem Giebel neu zu sehen ist: Siehe, ich bin mit euch alle Tage, bis die Erde endet, spricht er uns zu – natürlich im Matthäusevangelium. Jesus geht mit, heißt das. Er geht mit Nikodemus und er geht mit uns durch die Nacht unserer Gedanken, Zweifel, Fragen. Er geht mit, wenn wir innerlich einkehren. Wenn wir etwas zu verarbeiten haben, was uns verstört hat oder bitter gemacht. Er geht mit, wenn wir trauern, danken, Freude teilen wollen oder Gott um Vergebung anrufen.
Wie viele Menschen haben das hier in dieser Kirche in den letzten 100 Jahren getan! Haben sich mit ihren Gebeten, mit ihrem Kyrie und ihrem Halleluja aufgenommen, zu Hause gefühlt. Haben hier ihre Tränen über Krieg und Zerstörung, ihre Ängste vor Krankheit und Schwäche, ihren Schmerz über den Tod des Geliebten hingetragen. So viele haben hier ihre Seligkeit über die gesunde Geburt ihrer Tochter, über die Liebe ihres Lebens, ihre Dankbarkeit, wie gut es einem geht, zum Ausdruck bringen können. Wie viele Momente des Anvertrauens binden diese Mauern ein – hat doch jeder Mensch wie Nikodemus an besonderen Wendungen seines Lebens das Bedürfnis nach Bilanz, Klärung, danach, ins Reine zu kommen.
Da ist es gut, Matthäus neu zu erleben: Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, bis die Erde endet. Dieses Wort steht nicht umsonst dort am Giebel, gewissermaßen am Tor zum Leben, am Eingang zum Altarraum. Denn dort vereinen sich die Geheimnisse des Lebens mit dem Ge-heimnis von Gott. Gott, der dreieine, umfängt uns in allem, was wir nicht verstehen, sagt das. Das, was uns so geheimnisvoll ist und ungreifbar – hier findet es seinen Ort. In Wort und Brot und Wein. Hier findet alles neu Geborene in uns Segen, Dach und Zuversicht.
Ich bin froh, dass in dieser Gemeinde immer so viele auf dem Weg waren und sind, das Neue zu leben. Die sagen: wir probieren es mit Frauengottesdiensten, Konfer-Modellen, Quartiersprojekt. Mit Musik aller Richtungen und Gerechtigkeit für eine Welt. Mit Kinderspiel und Kunstverein. Mit Diakonie in allen Lebenslagen. So viele engagierte, verdiente und liebevolle Menschen tun daran mit. Sie bauen an diesem Lebenshaus mit, damit es ein Ort der Liebe ist, an dem Menschen frei sein können und aufrecht. So war und ist diese Kirche immer auch ein Haus aus lebendigen Steinen. Ich bin Gott dankbar für sie, die hier über die Jahrzehnte hin gewirkt haben: Haupt- und Ehrenamtliche, noch und noch, und so viele Pastorinnen und Pastoren. Und heute bin ich Gott von Herzen dankbar für all die, die über die Jahre durchgehalten haben – lieber Herr Winter, lieber Pastor Schröder-Micheel, lieber Kirchenvorstand. Ich wünsche Ihnen Glück und Segen für die Aufgabe, auch zukünftig Gemeinde zu bauen. Farbenfroh, warm von oben und unten, hörbereit. So dass sie im Quartier Winterhude die Menschen erreicht, weil sie immer wieder neu mit Matthäus sagt: Ich bin bei euch.
Er ist bei euch mit seinem Segen. Damit steht das Wichtigste zuerst und zuletzt: Glück und Segen für die nächsten hundert, liebe Matthäuskirchen-Gemeinde! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen