St. Marien zu Lübeck

31. Dezember 2012 - Silvestergottesdienst mit Pauken und Trompeten

31. Dezember 2012 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Josua 1, 1-9

Sommernacht, Kinderlachen, Augenstern, Marzipan und Ofenkachel, Kunstgenuss und Grottenolm  … herzergreifend ungeordnet, liebe Gemeinde, standen einmal Worte wie diese am 31.12 auf meinem Kalenderblatt vom „Anderen Advent“. Eine feine Übung, um sich ausnahmsweise nicht über die Unworte des Jahres aufzuregen (z.B. eines wie „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“!), sondern die wirklich bedeutsamen, tieferen Erlebnisse des Jahres zu erkennen. Nun denn: Welches dieser Worte würde ein wichtiges Ereignis, eine Situation treffen, das Ihnen 2012 wichtig geworden ist? Lebenslust oder wehes Ach, Sonntagslaune, Bäderregelung oder Mitgefühl? Stolperstein, Palmarum-Demo, kindeszart oder friedensleis? Pfirsichhaut, Vergissmeinnicht oder Erinner mich nicht?

Ich vermute, auch in Ihnen lassen Worte wie diese etwas anklingen und rufen damit wach, was in der Fülle der Eindrücke vielleicht schon vergessen war. Denn das passiert uns ja doch oft in der Schnelligkeit der Bilder und dem Wortgeklingel heutzutage: so vieles Wertvolle kommt gar nicht an. So, dass es Eindruck macht. Also im Inneren bewahrt ist. Glückliches wie Unglückliches. Doch darum genau geht es am Altjahrsabend: durch Worte, auch sehr alte Worte, das Erfahrene zu er-innern. Noch einmal in Ruhe einer Freude nachzugehen oder dem Gefühl, ganz heftig bewahrt worden zu sein. Zu erinnern, wie ein Ereignis, ja ein bestimmter Mensch einen glücklich gemacht hat, einfach dadurch, dass er da war.

Robert Gernhard, kunstvoller Dichter neuer Zeit, hat humorvoll mit Worten verdichtet, was das „Glück des Rückblicks“ bedeuten kann – allerdings aus der Sicht seines Hundes:

Im Dunkel sinkt die Helligkeit

In Seelenruh die Schnelligkeit

Mein Tagwerk ist vollbracht.

Und leise zieht durch mein Gemüt

Der schöne Satz vom alten Lied:

Was habe ich

Nur heute

Wieder alles

Richtig

Gemacht?

Welch erhellende Pointe, liebe Gemeinde! So ermutigend in einer Gesellschaft, die geprägt ist von einem perfektionierten Blick auf den Mangel. Einem Blick auf die Schwächen. Auf das, was wieder einmal nicht funktioniert hat und auf das, was wieder jemand falsch gemacht. Jeder Tag ist nur allzu voll von diesen Entwertungen und Abwertungen und Miesmachereien, die wir hören müssen oder uns gegenseitig zuhauf zumuten.

Genug.

Lass dir an meiner Gnade genügen, hielt Gott uns mit der Jahreslosung 2012 entgegen. Lass es doch irgendwann genug sein! Sei gnädig. Auch mit dir selbst.

Gnade ist übrigens das Wort jeden Jahres.

Damit man den Rückblick wirklich wagt. Einmal dem nachgibt, was an Gedanken aus einem heraus will mit Pauken und Trompeten. Zum Beispiel die Dankbarkeit. Über persönliche Höhepunkte. Glücksmomente. Hochzeiten. Geburten. Oder im Sommer diese unglaublichen Paralympics. Das Bild, wie der Läufer aus Dschibuti, weit zurück geschlagen im 1500 m-Feld, die letzten beiden Runden allein im Schritttempo läuft, getragen von einem jubelnden Stadion – die Letzten werden die Ersten sein.

Aber es gab 2012 auch Zittern und Zagen. Eurokrise. Rettungsschirme. Enttäuschende Regierungen in der arabischen Welt, religiöse Intoleranz statt Frühlingserwachen. Oder dieser verstörende Amoklauf in Newtown. Dass da einer nicht innehält angesichts der Zartheit dieser Erstklässler! Ein deshalb mit den Tränen kämpfender neuer amerikanischer Präsident. Ein mordender Diktator dagegen in Syrien. Flüchtlinge, Tausende Flüchtlinge, die vor den hoch munitionierten Grenzen der Friedensnobelpreisträgerin Europa mit ihren kleinen Booten untergehen! Auch dies also: Krisen um Krisen in der Welt. Und, mag sein, auch persönliche Krisen hier unter uns.  Vielleicht, dass du schwach geworden bist vor lauter Liebe? Oder vor lauter Kranksein, Traurigkeit und Elend? Und, Hand aufs Herz, wenn´s denn si schwer war und Gott einem vorkam wie unbekannt verzogen, war da Segen? Wärme oder wenigstens Ofenkachel? War da irgendwie Schalom und Trost, Gott halt in vielerlei Gestalt, um Kraft zu geben für das neue Land, das 2013 heißt?

Ich lasse dich nicht fallen.

So beginnt unser Predigttext aus dem Josuabuch.

Ein Vorsatz – vor allen anderen Sätzen, die dann folgen. Er entfaltet Kraft in nur 5 Worten.

Ich lasse dich nicht fallen.

Gesprochen vor fast 3000 Jahren zu Josua, der das gelobte Land vor sich sieht und nicht hinüber gehen mag über die Grenze. Weil er den Konflikt ahnt. Zu Recht. Der Konflikt lässt letztlich bis heute Israeliten und Palästinenser, ja überhaupt im Nahen Osten immer wieder zu den Waffen greifen. Mein Gott, so lange schon.

Und Josua hat Angst zu fallen. In Ungnade. Oder unter die Räuber. Unter die Korrupten. Es ist die aktuelle Angst so vieler Südeuropäer. Wer unten ist, mit den Aktien ins Bodenlose gefallen, steht so schnell nicht wieder auf. Die Jungen schon gar nicht.

Ich aber lasse dich nicht fallen, spricht Gott sein Widerwort gegen alle Not. Kein Rettungsschirm – sondern Worte, die retten und beschirmen. Sie können Menschen innerlich halten. Weil sie ehrlich sind. Ängste nicht verleugnen. Klarheit geben. Denn empfindsam gewordene Seelen vertragen keine Lügen, Wortschwall und Parteienstreit.

Ich lasse dich nicht fallen – und ich verlasse dich nicht, heißt es weiter: Ich, Gott, habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seiest…Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Gesegnet bist du, heißt das. Vom ersten Atemzug bis zu deinem letzten. Mit deinem Sehnen und deiner Last. Du bist gesegnet, wenn du feierst, dass es kracht, und wenn du leise nachdenkst, was kommen mag. Wenn du Gutes willst und auch wenn du Böses denkst. Diese fraglose Akzeptanz, diese in alle Schattenseiten unseres Seins hineinreichende Freundlichkeit Gottes hat ein Ziel: dass wir echte, tiefe Lebensfreude gewinnen. Gott ist mit dir in allem, was du tun willst. Solche Sätze sollten wir täglich morgens und abends einnehmen, verinnerlichen, liebe Gemeinde. Gern auch noch nachmittags. Sie sind wahre Vorsätze fürs Leben. Sie geben Kraft, getrost zu gehen, wohin auch genau immer.

Und ich gehe gerad heute zu der Krippe hin, sehe das verletzbare, aus lauter Liebe geborene Kind und höre eben diesen Vorsatz Gottes: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Also, lass dich doch ruhig einmal fallen. Der, der größer ist als alle Vernunft, hält. Unbesehen. Einfach einmal fallen lassen - nicht aus Schwäche, sondern vor lauter Dankbarkeit. Zuneigung. Zum Beispiel vor dem Krippenkind. Zumal dies doch die natürlichste Bewegung der Welt ist, nämlich dass der Mensch sich herabbeugt oder auf die Knie fällt, um ein kleines Kind zu begrüßen und „dat Kind to kieken.“ Und wenn wir ihn dann wirklich und wahrhaftig sehen, den kleinen Gottessohn, dann doch auch seine Armut, Bedrohung und Schwäche. Und das heißt: Wir glauben einen Gott, der eben nicht von oben herab zuschaut, wie es hier unten, in uns und bei uns drunter und drüber geht! Sondern der sich hineinwirft in unsere Menschlichkeit. Der deshalb mitfühlt, mit weint, mit lächelt, der uns in unserer Unruhe in die Arme nimmt und die Melodie des Lebens summt. Alles wird gut, tröstet diese Melodie, song of Mary. Wie eine Mutter, die ihr Kind wiegt, stillt es unsere Sehnsucht danach, verstanden zu werden.

Alles wird gut. Sei getrost. Ich verlasse dich nicht.

Und der moderne Mensch hört das und möchte es so gern glauben, so gern. Und schaut sich dann doch ein wenig verzagt und verstohlen um, ob ihm womöglich das Unwort „Gutmensch“ hinterher geworfen wird. Jene abschätzige Rede also, die meint: Einer, der`s gut meint und schlecht macht, sich aber trotzdem grandios fühlt. Weil er so naiv ist. Fromm, aber weltfremd. Dem Bösen, der Realität nicht gewachsen. Barmherzig, aber doof. Ehrlich, aber dumm.

Mich amüsiert das nicht mehr so. Wir müssen uns ernsthaft damit auseinander setzen, liebe Gemeinde, dass in unserer Gesellschaft religiöse Inhalte immer skeptischer angesehen, ja aggressiv attackiert werden. In Internetforen, die vor Intoleranz nur so beben. Und die nehmen zu statt ab. Mit samt einer hohen – zumindest verbalen - Gewaltbereitschaft, die jegliche Grundlagen unserer Demokratie entwertet. 

Deshalb: redet Tacheles, unverzagt, sagt unsere Tradition. Scheut euch nicht, Gutes zu glauben und sagen. Und das mit Pauken und Trompeten, liebe Schwestern und Brüder. Es ist dran, uns ein Herz und in Sprache fassen, was uns hält und Trost gibt, wer uns Engel war und Lebensmut, was wir (noch) glauben, warum wir beten und welcher Zweifel nagt. All dies als Christenmenschen, die sich einig sind, dass unsere Lebenshoffnung ebenso in die Welt gehört wie unser Widerwort gegen die Gewalt. Gegen Terror. Fremdenhass. Religiöse, politische Erstarrung. Ja, die Welt braucht auch unsere Hoffnung. Denn sie ist die Schwester der Erinnerung; beide gehören zusammen, gerade an der Schwelle vom alten zum neuen Jahr. Schwester Hoffnung gibt sich nämlich nicht zufrieden mit dem, was war und was ist. Sie pflanzt vielmehr ein Sehnen in uns, dass es besser werden muss. Gerechter. Sie ist es, die uns an den Übergängen des Lebens sagt: Hebe deine Augen auf. Und so lässt sie uns nach vorn sehen. In das Land, das vor uns liegt.

Um Schwester Hoffnung willen, liebe Gemeinde, gilt es das Kostbare, das Gute zu entdecken! 365 Tage im neuen Jahr, was für eine Aussicht! 365 Tage, an denen wir uns fragen, was wir nun alles RICHTIG machen können! Vorsicht: Risiko und Nebenwirkungen sind zu erwarten. Denn erstens könnte tatsächlich etwas Positives dabei heraus kommen! Und zweitens könnte uns bewusst werden, dass Gott uns gerade dann nahe ist, wenn wir uns selbstvergessen fallen lassen: wenn wir lieben und begehren, wenn wir singen und uns anvertrauen, wenn wir Brot teilen und Achtung, manch Schmerz zulassen und jedes Segenswort.

Wie heute Abend etwa. Um der bösen Geister willen gern mit Pauken und Trompeten. Aber bitte auch mit Gelassenheit, das wünsche ich Ihnen, ganz im Sinne eines weiteren begnadeten Dichters, Erich Kästner:

„Wird´s besser? Wird´s schlimmer?“

Fragt man alljährlich.

Seien wir ehrlich:

Leben ist immer

Lebensgefährlich.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Übergang ins neue Jahr, liebe Gemeinde. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen in Christus Jesus, den lebendigen Gott. Amen

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