Dom zu Greifswald - Geistliche Morgenmusik

6. Juni 2012 - Greifswalder Bachwoch 2012

06. Juni 2012 von Gerhard Ulrich

Liebe Gemeinde!

Not lehrt beten – so sagt der Volksmund.

Wahr ist aber auch: Not macht stumm. Wenn es so richtig dicke kommt im Leben, dann kann die Not einem die Sprache verschlagen, die Kehle schnürt sich zu, die Suche nach Worten wird zu einem Ringen um Worte.

Dieses Ringen, diese Spannung, in der der Beter des 25. Psalms sich ausstreckt immer wieder zu Gott, nimmt die Kantate wunderbar auf: da klagt einer über Feinde, die ihm nachstellen; da bedrückt ihn Schuld und Versagen. Und immer wieder erinnert er sich an Gott, dem er vertraut, bittet um Barmherzigkeit: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr um deiner Güte willen!“ Und das heißt doch: nicht ich selbst kann mir Frieden schaffen, Recht und Gnade. Die muss ich woanders her bekommen; das Gute in meinem Leben ist Ausfluss der Güte dessen, der alles Leben schafft und erhält.

Da erinnert einer, dass Gott den Menschen schuf zu seinem Bild, dass er ihn nicht richtet und urteilt allein nach dem, was einer kann und leistet, was er versagt oder nicht recht macht. Klar, Gott sieht das an, und wir leben alle jenseits von Eden. Aber da ist dennoch Geleit und Schutz. „Der Herr ist gut und gerecht; darum weist er den Sündern den Weg“, weiß der Beter des Psalms. Recht ist und bleibt doch Recht, singt die Arie. Also: Da gibt es eine Instanz in deinem Leben, die ist höher als alle weltliche Vernunft. Da gibt es Recht, das nicht gebeugt werden kann, Gerechtigkeit, die fließen soll wie ein Strom

Ich will ernst nehmen die Erfahrungen, die in den Worten der Sopran-Arie im 3. Satz unserer Kantate stecken: Hier toben tatsächlich zeitlich Kreuz, Sturm und andere Proben, Tod und Höll fügt sich und Unfall – Angst und Schrecken also sind groß. Es gibt keinen Fluchtpunkt, zu entrinnen der Realität der Welt mit ihren Brüchen und Nöten. Da sind die Tausenden, die unter tyrannischer Gewalt sterben in Syrien und an vielen Orten dieser Welt, Unschuldige werden gemetzelt und die Antwort auf Hass und Gewalt ist immer neuer Hass und immer neue Gewalt. Die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit der Weltfamilie schreit gen Himmel und die Mitschuld derer, die immer noch partnerschaftlich unterstützen die Tyrannen, schreit laut: tobendes Kreuz die Kriege und die Ungerechtigkeit, der Hunger: Tod, Höll und was sich fügt!

„Doch bin und bleibe ich vergnügt“, singt die Kantate: Verdrängt der Glaube? Nein, er erinnert: Recht ist und bleibt doch Recht. Und Unrecht ist nicht Gottes Wille und Plan. Darum wächst durch die Klage hindurch die Sehnsucht nach Gott, dass er eingreife und dem Unrecht in die Speichen greife, dass das Rad des Leides sich nicht weiter dreht, damit die Hölle auf Erden weicht dem Recht und Platz macht der Gerechtigkeit!

Also betet der Psalmbeter: Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich! – Bei Gott und seinem Wort; in seinem Gesetz und in seiner Verheißung; in dem Weg Jesu, der die Friedfertigen selig preist und den Reichen sein Wehewort zuruft; der die Niedrigen erhebt und die Mächtigen vom Thron stößt – da ist zu lernen der Weg der Barmherzigkeit und des Lebens: du bist der Gott, der mir hilft, der meinen Fuß aus dem Netz zieht, dass ich ausschreiten kann und frei werde. So bittet der Beter um Kraft und Weisung.

„Du bist der Gott, der mir hilft“.

Im Terzett von Alt, Tenor und Bass – im 5. Satz der Kantate – werden sie präzise und poetisch zugleich beschrieben, die Zedern, die von den Winden viel Ungemach empfinden müssen; die Bäume, durch die die Winde fegen, wie die Menschen, die umgerissen werden von Irrsal und Wirrsal im Leben. Und es ist wieder der Chor, der des Glaubens Zuversicht entgegen singt der Realität, wie sie erlitten wird von allem, was lebt. Ja, das Leben ist wunderschön – und sehr gefährlich. Und gefährdet, das zerbrechliche Sein. Darum wird Gott als der besungen, der beides ist: Schöpfer und Helfer, ja Retter in Ewigkeit.

Diese Nähe und Zuwendung, die Barmherzigkeit Gottes und seine Güte werden beschrieben als liebende Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf. Gott ist groß – gewiss. Doch Gott  macht sich klein – das ist ebenso gewiss. Er kommt herunter, und der herunter gekommene Gott sucht die Schwachen und Elenden und gibt Worte denen, denen es die Sprache verschlagen hat. Darum also kann die Sopranstimme in der Arie so wunderbar trotzig ihr Trotzdem singen: „Doch bin und bleibe ich vergnügt“…

Die Kantate beschreibt wunderbar eine Einsicht, die der Theologe Ernst Lange einmal so in Worte gefasst hat: Jeder gläubige Mensch lebt unlösbar verstrickt oder voll gestopft von Erfahrungswissen und Glaubenswissen. Von Wissen, das sich aus der Lebensgeschichte speist und das oft quer steht zu dem, was der Glaube sagt und weiß und sehnt. Und von Wissen, das sich aus der Glaubensgeschichte speist, aus der Erfahrung der Liebe und des Rechts. Das ist das Wissen, dass dieses Leben und diese Welt nicht aufgehen in dem, was zu sehen, zu hören, zu begreifen und zu erklären ist; nicht aufgehen in dem, was ich kann oder leiste oder versage. Es gibt die Realität der Welt mit ihren Schrecken – und es gibt die Realität Gottes in ihr. Das Erfahrungswissen und das Glaubenswissen werden das ganze Leben immer wieder neu miteinander „versprochen“, d. h. intensiv in Beziehung gesetzt. Wie in dem Psalm, in Klage und Lob. In dieser Spannung lebt der Glaube; in dieser Spannung findet das Leben seine Energie. Und bei diesem permanenten Versprechen von Erfahrungswissen und Glaubenswissen macht der mit Gott lebende Mensch immer wieder die Erfahrung, dass dem Glaubenswissen ein Überschuss an Hoffnung eignet. „Rat und Tat auf Gott gestellet, achtet nicht, was widerbellet, denn sein Wort ganz anders lehrt!“

 „Meine Augen sehen stets auf zu dem Herrn. Denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen…“

Beten heißt: Gott bittend, dankend und klagend anrufen. Ich kann mich dabei zu meinem eigenen Wohl selber vergessen. Doch wer sich betend vergisst, der wird sich und mehr als sich selber finden. Er (oder sie) wird Gott finden. Und er wird sich von Gott die Ohren und die Augen dafür öffnen lassen, was in der Welt zu tun ist: HERR, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Beten und Arbeiten also: Ora et labora! Beten und Tun des Gerechten gehören zusammen! Darum bleibt die Klage nicht bei sich selbst, ist sich nicht selbst genug, sondern richtet sich an den, der retten, der helfen kann; der aber rettet und hilft, indem er die stark macht und zurüstet, die an ihm hangen, die er sendet: gehet hin in alle Welt… Lehre mich, sagt der Beter: zeige mir den Weg guten Lebens, den Weg der Gerechtigkeit. Und stärke mich, dass ich tue, was ich glaube. Dass Menschenherzen sich wenden, umkehren die Mächtigen zu dir hin, zu Liebe und Barmherzigkeit. Benutze mich als dein Werkzeug, dass die Gnadenlosigkeit unter uns ein Ende hat und dass wir lernen zu teilen, was wir zum Leben haben. Und fang mit mir an, deinen Schalom auszubreiten.

Lehre mich zu tun, was dein Wille ist: wer Frieden mit Gott findet, der gerät in Unfrieden mit der Welt, sagt Jürgen Moltmann. Wer in Gott vermutet das Recht und die Wahrheit, der gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ist und immer schon so war. Der steht auf gegen Unrecht und Hass, setzt die bunte Vielfalt des Lebens gegen die braune und andere Einfalt.

Wer betet, der gibt sich Gott in die Hand, der gibt sich selbst aus der Hand. Der befreit sich von dem, was fesselt, was drängt, was bedrängt, ängstet und lastet.

Wunderbar zeigen die Psalmen diesen Weg auf, wie auch die Kantate es tut: durch die Klage hindurch findet der Beter zu Lob und Dank. Das Gebet verdrängt und beschönigt nichts. Aber indem es benennt die Erfahrung mit der Welt, mit dem Elend und dem Bösen; mit der Ungerechtigkeit und dem Hass, öffnet es Wege zur Erkenntnis der Umkehr, der Hilfe.

Und so auch die Musik: „In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnade Gegenwart“, hat Johann Sebastian Bach in einer Randnotiz in seine Bibel geschrieben: Musik, Atem des Glaubens. Sie singt nichts weg, sie ist nicht das Pfeifen im Keller. Aber mit dem Glauben singt sie die Befreiung von aller Angst hinaus: sie gibt dem Leid und der Angst nicht das letzte Wort. „Der Glaube ist ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist“, heißt es in einem Afrikanischen Sprichwort. Der Glaube: ein komischer Vogel. Der singt zur Unzeit…

Der Gesang des Glaubens ist das Gebet. Und das ist so etwas wie Hände Werk, nämlich Handwerk. Martin Luther hat das in seiner bildlichen Sprache so formuliert: „Wie ein Schuster einen Schuh machet und ein Schneider einen Rock, also soll ein Christ beten.“ Auch dieses Handwerk hat goldenen Boden, denn: Dieser Handwerker „wird im Guten wohnen, und sein Geschlecht wird das Land besitzen. Der HERR ist denen Freund, die ihn fürchten; und seinen Bund lässt er sie wissen.“ Amen.

Datum
06.06.2012
Quelle
Stabsstelle PResse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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