22. Juli 2018 | Hauptkirche St. Michaelis

75 Jahre Operation „Gomorrha“ - Chance, das Leben neu zu gewinnen

22. Juli 2018 von Kirsten Fehrs

Gedenkrede anlässlich des 75. Jahrestages des Feuersturms „Operation Gomorrha"

Wo bist du, Hilde?

Wir leben – deine Kinder Ludwig und Trudi

So stand es in Kreide an den noch verbliebenen Mauern des Rauhen Hauses geschrieben, am 2. August 1943. Elf Worte, die uns heute nur ahnen lassen, wie viel Schmerz, Verzweiflung und Todesnot die Menschen im Sommer vor 75 Jahren erlitten haben.

Wir gedenken heute der Opfer des schlimmsten Bombenangriffes auf Hamburg im Zweiten Weltkrieg. Wir erinnern die Tage im heißen Juli und August 1943, in der die Operation „Gomorrha“, wie die bibelfesten Engländer sie nannten, Hamburg in Trümmer legte. Mehrere Bombennächte, in denen über 34.000 Kinder, Frauen und Männer grausam ums Leben kamen, 120.000 verletzt wurden und 900.000 flüchten mussten. Wir gedenken ebenso der nahezu 10.000 KZ-Häftlinge aus Neuengamme, die die Leichen bergen mussten – mit traumatischen Folgen.

Wir erinnern damit all die Schrecken des Krieges, der von deutschem Boden ausging – von einer Nazi-Diktatur, die stark wurde in einer schwachen, von radikal-politischen Kräften zerriebenen Weimarer Republik. Wir erinnern, um niemals zu vergessen, was in unsere Stadt, ja in unser Land seit 1945 zutiefst eingeprägt ist: Nie wieder Krieg!

Zu diesem Gedenken nun hier im Michel, der damals stehen blieb und in seiner Krypta den Menschen Schutz bot und Trost, begrüße ich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Tschentscher,
sehr geehrte Vizepräsidentin der Bürgerschaft,
sehr geehrter Herr Erzbischof Dr. Heße,
lieber Hauptpastor Röder und lieber Michael Batz,
ich begrüße Sie, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, damals ja meist noch Kinder,
ich begrüße Sie aus dem konsularischen Korps und aus der Gedenkstättenarbeit und vom Mahnmal St. Nikolai, lieber Herr Francke, und ganz bewusst im versöhnenden Geist der Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry grüße ich Sie alle und sage:
liebe Brüder und Schwestern!

Ich glaube, es geht uns allen so: Noch immer rauben einem die Berichte von der Zerstörung der Stadt in jenen Sommernächten 1943 den Atem. In den vergangenen Wochen konnten wir in vielen Medien noch einmal hören und lesen, was damals geschah. Furchtbar und beeindruckend zugleich, wie nah den Zeitzeugen die Ereignisse heute noch sind, wie genau die damals Vier-, Zehn- oder Zwölfjährigen sich bis ins letzte grausame Detail erinnern können: An das brennende Treppenhaus, aus dem man gerade noch entkommen ist. An die Schreie der sterbenden Menschen, an die schwarz verkohlten und zusammengeschrumpften Toten, die zu Hunderten auf der Straße lagen. Die Bilder des Feuersturms haben sich buchstäblich eingebrannt in die Kinderseelen, zeigen in Farbe, Gefühlen und Gerüchen das, was wir Nachgeborenen allein als Schwarzweißfotografie kennen. Wie viel blieb davon unbewältigt, kam oder kommt erst im Alter wieder hoch?

Viele Jahre war die Erinnerung an 1943 davon überschattet, dass noch Menschen unter uns lebten, die in der Nazi-Zeit erwachsen waren, die sich also fragen lassen mussten: Was war euer Beitrag damals? Wie standet ihr zum NS-Regime, habt auch ihr Schuld zu tragen an den Verbrechen, die jene Gewaltspirale erst auslösten? Heute sind insbesondere die Verantwortungsträger aus der Nazi-Zeit zumeist tot. Die Zeitzeugen, die heute noch leben, sind die verstörten Kinder und Jugendlichen von damals. Das ermöglicht, glaube ich, eine neue Dimension des Mit-Trauerns. Und es eröffnet auch einen neuen Blick auf die Fragen nach Schuld, Vergeltung und – Versöhnung. Denn diese Fragen sind es, die aus meiner Sicht im Blick auf die Geschehnisse damals eine entscheidende Rolle spielen.

Diese Fragen, ja diese tiefgreifende, unaushaltbare Spannung zwischen Vergeltung und Vergebung ist bereits im Namen der Operation „Gomorrha“ angelegt. Gomorrha ist ja der Name einer Stadt in der Bibel, die gemeinsam mit dem Nachbarort Sodom für sehr viel Böses verantwortlich war. Vor allem wurden dort unschuldige Menschen missbraucht und getötet. Gott beschließt daher, diese Städte zu vernichten. Im ersten Buch Mose heißt es: „Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.“

Eine furchtbare Strafe, die hier stattfindet. Und man ahnt, welche überzeitliche und grundsätzliche Bedeutung die Initiatoren der Operation „Gomorrha“ in ihrem Unternehmen sahen, wenn sie einen solchen Namen wählten. Eine Stadt, von der Unheil ausgeht für den Rest der Welt, und die daher zerstört werden soll, um diesem Unheil zu wehren. Nicht aus purer Zerstörungslust also. Und doch gehört es zur Spannung, die Gomorrha umgibt, dass die Zerstörung eine eigene Dynamik freisetzte. Das von den deutschen Bombern begonnene Vernichtungswerk in Guernica, in Coventry, in Rotterdam wurde gleichsam fortgeschrieben. Und so gab es Kritik an den gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung von Anfang an auch in Großbritannien selbst.

Auch in der Bibel wird erzählt, dass Gott sich die Entscheidung nicht leicht macht, er lässt sich auf Diskussionen ein und argumentiert mit Abraham, der bittet: Willst du wirklich die Gerechten mit den Gottlosen umbringen? Am Ende zerstört er Gomorrha dennoch, um noch mehr Böses zu verhindern.

Aber – das ist nicht das Ende. Bei aller Grausamkeit ist die biblische Geschichte von Gomorrha auch eine Geschichte der Rettung. Die Hauptfigur Lot nämlich, ein Neffe Abrahams, wird von Gott mitsamt seiner Familie aus der Stadt weggeführt. Die Zerstörung von Sodom und Gomorrha ist nicht nur das Ende, sondern bedeutet auch die Chance, das Leben neu zu gewinnen.

Wir leben – deine Kinder Ludwig und Trudi

Es hat auch in Hamburg neue Anfänge gegeben nach 1945. Neue Anfänge mit denen, die noch da waren und die zurückkehrten. Neue Anfänge mit einer freien Presse und einer neu begründeten Demokratie, was für ein wertvolles Gut!

Die Trümmer wurden beseitigt – zuerst die zerstörten Gebäude, viel, viel später erst die Reste des alten Denkens. Es wurde aufgebaut, aufgearbeitet, manches gar geheilt.

Die zerstörten Menschenleben jedoch kann niemand zurückbringen, die fürs Leben gezeichneten Körper und Seelen der Überlebenden auch nicht. So ist es gut, dass wir uns erinnern, immer wieder. Es ist wichtig, dass wir im Mahnmal St. Nikolai – gerade mit der aktuellen Ausstellung, in der die KZ-Häftlinge in Neuengamme Würdigung erfahren – ein sichtbares Zeichen für diese Erinnerungskultur in unserer Stadt haben. Damit wir uns auch mit den jüngeren Generationen dafür einsetzen, dass nie wieder Krieg ist, nie wieder Gotteshäuser und Wohnhäuser zerbombt werden, nie wieder Menschen im Feuersturm zu Asche werden. So wie es schrecklicherweise geschieht auf dieser Welt – die aktuellen Bilder etwa aus Syrien zeigen, dass die Mahnung immer wieder nicht gehört wird. Umso wichtiger, dass wir nicht müde werden, gemeinsam mit Menschen aller Religionen zu betonen: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. So hat es vor fast genau 70 Jahren, im August 1948, der neu gegründete, ökumenische Weltkirchenrat gefordert. Mit seinen Worten schließe ich:

Wir wollen Gott bitten, dass Er uns miteinander lehre:
Ein echtes Nein und ein echtes Ja zu sprechen.
Ein Nein zu allem, was der Liebe Christi zuwider ist,
ein Nein zu denen, die die Saat des Krieges säen oder zum Kriege drängen.
Ein Ja zu allem, was mit der Liebe Christi zusammenstimmt,
ein Ja zu allen, die in der Welt einen echten Frieden schaffen möchten,
die um des Menschen willen hoffen, kämpfen und leiden;
ein Ja zu allen denen, die – selbst ohne es zu wissen – sich ausstrecken nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde.

Liebe Schwestern und Brüder, für dieses, für jedes klare Wort der Versöhnung stehen wir ein und beten wir.
Amen.

Datum
22.07.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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