Berliner Dom - 5. Sonntag nach Trinitatis

8. Juli 2012 - Predigt zu Gen 12,1-4

08. Juli 2012

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen

Ist es nicht immer ein wunderbar inniger Moment, liebe Gemeinde, wenn ein Täufling gesegnet wird? Da legt sich eine gesammelte Stille über die Gemeinschaft der Gemeinde, eine liebevolle, unerhört verbindende Ehrfurcht vor dem Neuen, was da beginnen will. So zerbrechlich und vital zugleich! Und gut ist, dabei zu hören, wie Jesus im Evangelium jeden Schritt ins neue Leben ermutigt und sagt: Fürchtet euch nicht. Gott hält euch so viel Leben hin! Eine Fülle, seht doch, so unendlich weit wie das Meer.

Sich aufmachen, um die Weite der Verheißung in sich aufzunehmen - der Predigttext aus dem Hebräischen Testament will uns dazu mitnehmen, liebe Gemeinde. Er steht im 1. Buch Mose im 12. Kapitel:

1Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. 2Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden

4Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.

„Der Weg ist ein Symbol! Versteht ihr? Es gibt den rechten Weg, den krummen, den geraden Weg. Den Umweg, den Irrweg. Und für Amerikaner alle 4 Jahre: Den Weg ins Weiße Haus. Versteht ihr: Der Weg ist ein Symbol für das Leben?!?“ Wieder einmal viel zu laut redet er. Und seine drei Weggefährten können ihn kaum noch aushalten. Worte, Worte, Worte. Die braucht im Moment niemand von ihnen. Nicht umsonst sind sie auf dem Jakobsweg in Spanien unterwegs. Was sie brauchen, ist Ruhe. Achtsamkeit für den nächsten Schritt. Pause vom bisherigen Leben.

Nur er, der so viele Worte macht, kritzelt bei jeder Rast betriebsam in sein Notizheft. Irgendwelche Worte, wer weiß woher. Doch die Worte des Wohin, die richtigen Worte, die fehlen ihm, lange schon. Er hat eine Schreibblockade. Sie ist der Grund dafür, dass er auf dem Pilgerweg ist.

So wie für den Holländer der Wunsch abzunehmen, damit ihn seine Frau wieder berühren mag.

So wie für die Kanadierin die Hoffnung, vom Rauchen loszukommen - nein: von dem Mann loszukommen, der sie schlägt.

Und für den Ältesten von ihnen ist der Grund die Asche seines Sohnes, die er bei sich trägt.

Nach und nach erfährt die Zuschauerin des Kinofilms mit dem Titel: „Es ist dein Weg“, dass sie alle an der Grenze sind. Und es ist anrührend, wie sich mit jeder Wegstation ein bisschen von ihrer Seelenlast löst. Mal mit Geplauder, mal mit Wut, mal in kathartischen Tränen. So wie schließlich bei dem Ältesten. Sein Sohn wurde vom Blitz getroffen, just am Anfang des Jakobswegs. Er hatte seinen Vater eingeladen, mit ihm den Weg zu gehen. „So ein Vater-Sohn-Ding, Dad“, hatte er damals gesagt. Es war sein letzter Versuch, mit dem Vater wieder neu ins Gespräch zu kommen.

Doch er, der Vater, hat das nicht verstanden. Wieder einmal nicht. Und es hat in so unendlich traurig gemacht. Irgendwann hat er beschlossen: Ich gehe diesen Weg. Mit der Pilgerausrüstung meines Sohnes. Mit seiner Asche im Rucksack. Wir gehen diesen Weg gemeinsam.

Warum ich Ihnen von diesem Film erzähle, liebe Gemeinde? Nun, immer mehr Menschen brechen auf, um zu finden. Nicht nur als Pilger, sondern in Kinos brechen sie auf und ins wirkliche Ausland. Sie sind auf der Suche nach neuem Leben. Religiös. Kulturell. Politisch. Sie machen sich auf, weil sie sich sehnen. Nach Klarheit. Wahrhaftigkeit. Liebestraum und Himmelszelt. Sie wollen zum Eigentlichen kommen. Weg von dem Wortschwall der Zutexter hin zur Konzentration. Hin zu dem, was einem wirklich etwas sagt. Doch, verrückt!,  da finden viele gar nichts mehr in sich. Kein Sommerlied, das man gelernt. Kein Liebeswort, das man geglaubt. Keine Kraft, die deshalb inspiriert, weil sie gerade nicht aus einem selbst heraus kommt. Nein, da ist ein Sehnen tief in ihnen nach dem ganz anderen, das über, unter, hinter, in uns ist – aber, verrückt!, die richtigen Worte dafür fehlen. All die alten Bilder der Tradition, die biblischen Verheißungen vom gelobten Land voller Schalom – sie sind unbekannt. So vielen fehlt deshalb die Vision des Friedens für ihr Leben. Es fehlt das Dach des Segens. So vielen fehlt die Dimension der Vergebung und des aufrechten Umganges mit Schuld und Scheitern. Und so ist schließlich Gott selbst in unserer Gesellschaft nicht nur unbekannt verzogen, sondern auch noch unbemerkt. Der moderne Mensch ist metaphysisch obdachlos geworden. Und er fühlt das. Er fühlt, dass die Flachbildschirme um ihn herum die Tiefe des Lebens nicht fassen. Fühlt das Gehetztsein eines Werkelebens, das keine Sonntagsorte mehr kennt. Orte also, wo Licht ist und Trost. Und so sucht er. Sucht Heimat für die existentiellen Fragen nach den ersten und den letzten Dingen. Er sucht - und geht. Denn wer sich sehnt, bleibt nicht wo er, wo sie ist. Wer sich sehnt, will, dass sich etwas ändert.

Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und … aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich … will dich segnen und du sollst ein Segen sein. … Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. Er aber war fünfundsiebzig Jahre alt.

75 Jahre! Dazu muss man sagen: Angesichts seiner Ahnen mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 330 Jahren war Abraham geradezu im besten Mannesalter. Ein junger Alter sozusagen. Er vertraut, dass Gott für sein Leben noch etwas bereit hält. Deshalb geht er tatsächlich! Zusammen mit seiner Frau, die auch noch schwanger wird, „obwohl es ihr nicht mehr ging nach der Frauen Weise“. Abgesehen von der Schwangerschaft, liebe Gemeinde - beschreibt diese alte Geschichte nicht letztlich auch die Moderne des Altwerdens? Heißt zunächst: Dass auch das älter werdende Leben vor allem Bewegung ist und nach vorn gelebt werden will. Dass uns die Geburt von etwas Neuem zu allen Lebzeiten zutiefst bewegen, ja rühren kann vor Hoffnung. Kennen wir das nicht, dass da noch etwas Unerkanntes vor uns liegt, etwas Unberührtes, Neugeborenes, das von uns in die Arme genommen werden will, so runzlig die Arme auch sind? - Das gerade geborene Kind etwa mit den noch so hinreißend unabgelaufenen Füßen. Oder das herausfordernde Projekt. Oder zarte neue Liebe und Frühlingserwachen im selbstbewusst faltigen Gesicht. Apropos: Tina Turner ging mit 70 Jahren auch, und zwar auf Welttournee - rockendes Beinwunder ohne Venencreme.

Die biblische Geschichte spiegelt aufregend aktuell demographische Realität: Ganz anders als die 75-Jährigen vor vierzig Jahren sind sie heute allerorten im Aufbruch. Auf Reisen. Auch inneren Reisen. Ohne sie keine ehrenamtliche Hospizbewegung, keine Obdachlosenarbeit, keine Kirchengremien und kein Sportverein, ohne sie keine Lesehilfe für Migrantenkinder und keine Tafel. Ihre Erfahrung und Lebensfreude und ja, auch ihre Sinnsuche sind elementar für das soziale Gesicht unseres Landes. Kein gelobtes Land also ohne die 75-(70-, 65-)Jährigen!

Ob das allerdings auch das Bezirksamt Pankow hier in Berlin so sieht, da habe ich aktuell meine Zweifel. Denn die Plus-Minus-75-Jährigen in der Stillen Straße 10 hier in Berlin sind alles andere als still. Sie machen laut darauf aufmerksam, dass sie gerade nicht gehen. Sie ziehen nicht aus dem Hause aus! Im Gegenteil: sie besetzen das Haus. Den Ort nämlich, der ihnen schon lange als Begegnungsstätte dient und die geschlossen werden soll. Doch nein – „Finger weg!“ sagen sie. Dieses Haus ermöglicht ihnen nämlich Gemeinschaft und Sinn und Lebensfreude. Und indem sie deutlich machen, dass sie samt Campingliegen bleiben werden – und das dürfte dauern – indem sie bleiben, brechen sie auf. Klischees zum Beispiel. Das Klischee etwa, dass ein alter Mensch stets einsam sei und hinfällig und letztlich unselbstständig. Dass er deshalb vor allem „betreut“ werden müsse. Die grauhaarige Canasta-Gruppe als neue Hausbesetzerszene – sie wird uns gesellschaftlich noch manchen Aufbruch bescheren, ich bin sicher.

Wie unerhört real ist also die alte Geschichte des Abraham! Zugleich ist sie nicht allein von dieser Welt: Denn Abraham geht nicht, weil er es genau so will. Sondern weil Gott ihn berührt. Nicht er selbst, Gottes Wort bricht auf, was bannt. All das Unglück, die Trauer und die Angst, die sich in einem Leben angesammelt haben mögen, bricht er auf. Denn auch das gehört ja zum Leben, dem alten wie dem jungen: Das Gefühl, auf einmal nicht mehr leistungsstark zu sein, nicht mehr mithalten zu können in der Welt der Sieger. Da bannen uns alle doch äußere und innere Barrieren: Schreiblockaden. Liebeskummer. Fest gewordener Trauerstein. Geh da heraus, sagt Gott. Und nimm in dich hinein: Du bist gesegnet. In jedem Moment deines Lebens. Auch wenn du an der Grenze bist.

Gerade dort, an der Grenze, liegt Segenskraft, sagt die Geschichte. Gott zeigt dies in vielerlei Gestalt: in der Stille während der Taufe, in dem eingeflochtenen Thema einer Bachfuge, mit den Rosen im Garten. In den Momenten also, in denen das Glück ebenso wie das Unglück geborgen sind. Wo sie ein Dach bekommen. Geh, mach dich auf, sagt Gott. So kommst du heim.

Dazu meine Schlussgeschichte von Annemiete. Annemiete liebte wie ich Kohlrouladen, und so lernten wir beiden Dithmarscherinnen uns beim Mittagstisch im Pflegeheim kennen. Sie war eine einzige Geschichte. Sie würde wohl langsam alt, meinte sie, sie erzähle so viel von früher. „Nun ja“, sagte ich, „93 kann man noch nicht wirklich als alt bezeichnen.“ Und dann kicherte sie. Das Feine an Annemiete war ihr Humor. Wenn der Sensenmann zu ihr käme, sagte sie manchmal, müsse er eine gute Portion Humor mitbringen, sonst überlebe der das nicht.

Eines Tages ist sie ganz durcheinander. Zaghaft erzählt sie: Sie hatte „ihn“ gesehen. Dort an der Tür. Er hat sie ganz lange angeschaut und ist wieder gegangen.

„Wer glaubst du, war es?“ frage ich. „Der Sensenmann?“

„Nein“, sagt sie. Zögert. „Vielleicht der Engel.“ Sie hat Angst, das spüre ich. Und behutsam reden wir über diesen, über ihren Engel. „Er kommt, um mich zu tragen“, sagt sie schließlich. Und es ist fast so, als wäre sie erleichtert. „Findest du das nicht ziemlich spökenkiekerig?“ (=plattdeutsch: schwarzseherisch) fragt sie. „Nein“, sage ich. „Das finde ich überhaupt nicht.“

Einige Wochen später erzählt sie ganz aufgeregt, dass er wieder da war. Er stand am Bett, viel freundlicher. Sie ahnt, dass sie nach Hause kommt. Zu ihrem Heinz. Endlich. Wenige Tage darauf stirbt sie.

Ich habe das öfter erlebt: An der Grenze, am Übergang steht ein Mittler zwischen diesem und jenem Land und sagt: Du darfst jetzt gehen. Wie der Engel spricht er ein „Fürchte dich nicht“, ohne zu leugnen, dass es Schmerz gibt und Angst. Dahinein spricht Gott: Du bist gesegnet und dein Leben wird ein Segen sein. Und das heißt: Der Segen bleibt. Vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug. Er trägt hindurch. Der Segen bleibt, wenn der Mensch wird, wächst und vergeht. Der Segen bleibt, wenn der Mensch träumt, zweifelt und denkt, wenn er liebt und begehrt, wenn er rennt und hinfällt, wenn ihm Hören und Sehen vergeht – und wenn er die Asche eines geliebten Menschen trägt. Der Segen bleibt.

Deshalb: Geh. Getrost. Deinen Weg. Denn wer aufbricht, kommt an. Mag sein, noch einmal neu bei sich selbst. Ganz bestimmt aber bei Gott. Amen

Datum
08.07.2012
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